Aktion im EU-Parlament: Was steht auf dieser Liste mit verstorbenen Geflüchteten?
Auf X und Tiktok kursiert ein altes Foto aus dem Europäischen Parlament. Zu sehen ist eine Liste von Menschen, die auf der Flucht starben. In Sozialen Netzwerken werden dazu Falschinformationen verbreitet.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag wird teilweise Bildmaterial verlinkt, das die Folgen von Gewalt zeigt.
Eine scheinbar endlose ausgedruckte Liste, gut einen Meter breit und auf dem Boden ausgelegt, daneben Männer in Anzügen. Auf der Liste stünden, so heißt es auf Tiktok und X, die Namen von ertrunkenen Geflüchteten. Sie sei im Plenarsaal des EU-Parlaments ausgelegt worden. „Seltsam“, steht neben dem Foto, „Woher haben die alle Namen, wenn die meisten keine Papiere bei sich hatten?“
Die Beiträge erreichten zehntausende Menschen in Sozialen Netzwerken und kursieren seit Jahren. Sie suggerieren, Todesfälle von Geflüchteten auf dem Weg nach Europa seien nur erfunden.
Doch einiges an den Beiträgen ist falsch: Die Liste zeigt nicht ausschließlich ertrunkene Geflüchtete, sondern jene Menschen, die laut der Organisation United auf der Flucht nach Europa gestorben sind – auch durch andere Ursachen, etwa Ersticken oder Unfälle. Auch Vermisste sind angeführt. Zudem sind nicht alle namentlich genannt.
Liste zeigt Aktion im Europäischen Parlament im April 2015
Eine Bilder-Rückwärtssuche zeigt, dass das Foto schon seit 2015 kursiert. So berichtete etwa die Daily Mail am 17. August 2015, die 100 Meter lange Liste sei im April im Europäischen Parlament ausgerollt worden und beinhalte die Namen von 17.306 Migrantinnen und Migranten. Sie seien seit 1993 beim Versuch, Europa zu erreichen, gestorben. In dem Artikel wird auch ein Beitrag von X, damals noch Twitter, gezeigt, in dem es heißt, es gehe um ertrunkene Menschen.
Eine Suche mit den Infos von Daily Mail führt auch zu einem Youtube-Video. Darauf sieht man, wie Menschen im Parlament die Liste ausrollen. Die griechische Linkspartei Syriza lud es am 29. April 2015 hoch und schrieb, es zeige eine Aktion der Fraktion Die Linke an diesem Tag im Europäischen Parlament.
Auf der Liste stehen auch Geflüchtete, die durch andere Todesursachen als Ertrinken starben – teils ohne Namen
Die Liste stammt von der Organisation United, die seit Jahren eine Aufzählung mit gestorbenen Geflüchteten veröffentlicht. In der archivierten Version der United-Webseite ist die Liste mit 17.306 Todesfällen abrufbar. Sie zählt Fälle von 1993 bis 2012. Darin kommt mehr als 1.900 Mal statt einem Namen das Kürzel N.N. vor – das steht für eine nicht namentlich bekannte Person. Das Kürzel ist auch in den Aufnahmen von der Aktion im Europäischen Parlament 2015 zu sehen. Es stimmt also nicht, dass alle verstorbenen Geflüchteten auf der Liste mit Namen angeführt sind.
Auf der Webseite der Organisation war damals auch angeführt, wie genau die Zählung zustande kommt. Gezählt würden jene Geflüchteten, Asylbewerberinnen und -bewerber und undokumentierte Migrantinnen und Migranten, „die bei ihren Versuchen, nach Europa einzureisen und infolge der europäischen Einwanderungspolitik, einschließlich Abschiebungsverfahren, Haftbedingungen und Unzulänglichkeiten der Asylantragsverfahren, gestorben sind“. Laut United ist die Zählung wahrscheinlich nicht vollständig.
Das Foto zeigt also nicht, wie in Sozialen Netzwerken behauptet, ausschließlich ertrunkene Geflüchtete. In der Liste selbst sind auch andere Todesursachen angeführt.
Mittlerweile liegt die Zahl der auf der Flucht nach Europa verstorbenen Personen laut United bei mindestens 52.760 Menschen.
Redigatur: Paulina Thom, Viktor Marinov
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Übersichtsseite zur List of Refugee Deaths, United, Stand 2023: Link (Englisch, archiviert)
- List of Refugee Deaths, United, Stand Juni 2012: Link (Englisch, archiviert)
- The Mediterranean’s grim tide – shocking never before seen pictures of migrants‘ bodies washed up on beach in Libya, Daily Mail, 17. August 2015: Link (Englisch, archiviert)