Faktencheck

Vor Nationalratswahl in Österreich: Falschbehauptungen über Bilanz von Kanzler Nehammer im Umlauf

Mitten im österreichischen Wahlkampf machen in Sozialen Netzwerken auch Falschbehauptungen die Runde. Es geht um die Entwicklung des Landes unter Kanzler Karl Nehammer. Und um Alkohol und Burger.

von Gabriele Scherndl

nehammer
Österreich wählt am 29. September einen neuen Nationalrat. Im Wahlkampf machen auch Falschbehauptungen die Runde. Es geht darum, wie es dem Land seit der Kanzlerschaft Karl Nehammers geht. (Quelle: Roman Zach-Kiesling / First Look / picturedesk.com / Picture Alliance)
Behauptung
Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer habe gesagt, er wolle Probleme lösen. In seiner Amtszeit seit Ende 2021 habe Österreich die höchste Teuerung und Inflation in der EU, die „Unter- und Mittelschicht“ sei in die Armut getrieben worden und das Gesundheitssystem so schlecht wie nie. Nehammer habe in seiner Amtszeit geraten, dass arme Eltern ihren Kindern „Billigburger“ zu Essen geben sollen, alleinerziehende Mütter länger arbeiten sollen und man zu Alkohol und Psychopharmaka greifen solle.
Bewertung
Teilweise falsch
Über diese Bewertung
Teilweise falsch. Österreich hat nicht die höchste Teuerungs- beziehungsweise Inflationsrate in der EU. Der Anteil jener Menschen mit einer erheblichen materiellen und sozialen Benachteiligung ist etwas gestiegen. Mehr Menschen über und unter der Armutsgefährungsschwelle wiesen 2023 eine „benachteiligte Lebensführung“ auf. Das Gesundheitssystem hat sich in einzelnen Indikatoren nicht drastisch verschlechtert, doch die Zufriedenheit damit sank. Nehammer sagte tatsächlich, er wolle Probleme lösen. Auch die Sätze zu billigen Burgern, alleinerziehenden Müttern und Alkohol und Psychopharmaka stammen sinngemäß von Nehammer – auch, wenn sie nicht wörtlich so gefallen sind.

Österreich ist mitten im Wahlkampf – am 29. September findet die Nationalratswahl, vergleichbar mit der deutschen Bundestagswahl, statt. Dabei machen auch Falschbehauptungen die Runde, etwa über den amtierenden Kanzler Karl Nehammer von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP).

Inflation, Teuerung, Armut und ein kaputtes Gesundheitssystem: Diese „Erfolgsbilanz nach drei Jahren“ attestieren Beiträge auf Facebook und Tiktok dem Kanzler. Gleichzeitig habe er Ratschläge gegeben, den eigenen Kindern Billig-Burger zu Essen zu geben und auf Alkohol und Psychopharmaka zurückzugreifen. Nehammer, der sich als Problemlöser bezeichnete, und seit Dezember 2021 amtiert, habe in Wahrheit alles schlimmer gemacht, so der Tenor.

Der Faktencheck zeigt: Nicht alles daran ist falsch, aber einiges übertrieben.

Facebook-Beitrag, in dem die Behauptungen über Nehammer und Österreich geteilt werden.
Die angeblichen Informationen zur Lage in Österreich in diesem Facebook-Beitrag sind zum Teil falsch. Die Zitate von Nehammer sind sinngemäß so gefallen. (Quelle: Facebook; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Österreich hat nicht die höchste Inflationsrate in der EU

Sowohl die Inflation als auch die Teuerung seien in Österreich so hoch wie nirgendwo sonst in der EU, heißt es in dem Beitrag. Die Begriffe Teuerung und Inflation werden meist synonym verwendet, so auch von der Statistik Austria, dem nationalen Statistikamt Österreichs. Mit dem Begriff „Teuerung“ sind manchmal aber auch konkrete Produktgruppen gemeint wie zum Beispiel Nahrungsmittel und Getränke – eine Produktgruppe wird in den Beiträgen aber nicht genannt. 

Aktuelle Zahlen der EU-Datenbank Eurostat zeigen, dass Österreichs jährliche Inflationsrate im Juli 2024 bei 2,9 Prozent lag. Das bedeutet, Konsumgüter und Dienstleistungen kosteten in diesem Monat mehr als im selben Monat des Vorjahres. Österreichs Wert ist zwar leicht höher als die Rate in der gesamten EU (2,8 Prozent), aber nicht der höchste Wert EU-weit. Den hat Rumänien mit 5,8 Prozent. Österreich liegt unter den EU-Ländern mit der höchsten Inflation erst auf Platz 10 – und damit knapp vor Deutschland, das eine Inflationsrate von 2,6 Prozent hatte. Auch bei einer Schätzung von Eurostat für August 2024 liegt Österreich nicht auf dem ersten Platz. 

Armutsgefährdung in Österreich stieg leicht an

Als nächstes heißt es in den Beiträgen, die „Unter- und Mittelschicht“ sei „in die Armut“ getrieben worden. Wer genau mit Unter- und Mittelschicht gemeint ist, steht in den Beiträgen nicht. 

Laut Statistik Austria ist der Anteil von Menschen in „Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung“ seit 2021 von 17,3 auf 17,7 Prozent gestiegen. Als als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gilt, wer in einem Haushalt mit vergleichsweise niedrigem Haushaltseinkommen oder geringer Erwerbstätigkeit lebt oder „erheblich materiell und sozial benachteiligt ist“. Das heißt, sich zum Beispiel unerwartete Ausgaben bis zu 1.370 Euro nicht leisten kann oder nicht genug Geld hat, um die Wohnung angemessen zu heizen.

Der Anteil von Menschen in Armutsgefährdung stieg seit 2021 von 14,7 auf 14,9 Prozent, im Vergleich zu der Entwicklung in den zwei Jahren davor ist das gering. Deutlicher stieg die „erhebliche materielle und soziale Benachteiligung“: Von 1,8 Prozent im Jahr 2021 auf 3,7 Prozent im Jahr 2023.

Der Anteil der Personen, die zwar über der Armutsgefährdungsschwelle liegen, aber dennoch eine „benachteiligte Lebensführung“ haben, stieg von 1,1 Prozent im Jahr 2022 auf 1,9 Prozent im Jahr 2023. Das zeigen Daten, die die Statistik Austria CORRECTIV.Faktencheck zur Verfügung stellte. Bei Armutsgefährdeten stieg dieser Anteil auch: Von 9 Prozent im Jahr 2022 auf 15 Prozent im Jahr 2023.

Eine Tabelle der Statistik Austria. Daraus ist ersichtlich, dass der Anteil an Menschen in Armut seit 2021 anstieg.
Zahlen der Statistik Austria zeigen, wie sich die Armutslage in Österreich in bestimmten Bereichen in den vergangenen Jahren verändert hat (Quelle: Statistik Austria, EU-SILC 2018–2023; Screenshot und Markierung: CORRECTIV.Faktencheck)

Gesundheitssystem in Österreich hat sich unter Nehammer nicht drastisch verschlechtert

In der dritten Behauptung über den Zustand Österreichs in den Beiträgen auf Facebook und Tiktok geht es um das Gesundheitssystem. Das sei „so schlecht wie nie“, wird behauptet – eine vage Aussage. 

Die Statistik Austria veröffentlicht die Entwicklung zu unterschiedlichen Kennzahlen im Gesundheitsbereich. Demnach sind zwar die Gesundheitsausgaben seit 2010 konstant gestiegen, gleichzeitig ist aber die Zahl der Krankenhausbetten seit 2015 gesunken. Diese Entwicklungen begannen schon vor der schwarz-grünen Regierung unter Nehammer – in der das Gesundheitsressort in Grüner Verantwortung liegt. Die Zahl der Menschen in Gesundheitsberufen, darunter Ärztinnen und Ärzte, steigt seit den 80ern an.

Doch gesunken ist seit 2019 die Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem. Das zeigen Daten des Austrian Health Forums, einem Netzwerk von Gesundheitsfachleuten. In einer Pressemeldung veröffentlichte das Forum Zahlen aus dem April 2023. Demnach seien unter den Befragten 68 Prozent sehr zufrieden oder eher zufrieden mit dem Gesundheitssystem gewesen, 31 waren sehr unzufrieden oder eher unzufrieden. Das war im Mai 2019 noch anders: Damals waren 77 Prozent sehr zufrieden oder eher zufrieden und 21 Prozent sehr unzufrieden oder eher zufrieden.

Sätze von Nehammer über alleinerziehende Mütter, Burger, Alkohol und Drogen fielen ähnlich

Im Anschluss werden in den Beiträgen drei vermeintliche Ratschläge Nehammers angeführt, um die genannten Probleme zu lösen. 

Der erste: „Arme Eltern sollen ihren Kindern Billig-Burger zu Essen geben“. So ähnlich fiel diese Aussage tatsächlich in einem Video, das Ende 2023 auf X landete – auch wenn sie nicht direkt als Empfehlung formuliert war. Ab Sekunde 40 sagt der Kanzler: „Was heißt, ein Kind kriegt keine warme Mahlzeit in Österreich. Wisst’s was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist? (…) Ein Hamburger bei Mc Donalds“. Das sei nicht gesund, aber billig. Die ÖVP bestätigte, dass das Video echt ist, es stamme von einer „Funktionärsveranstaltung“.

Der zweite: „Alleinerziehende Mütter sollen länger arbeiten”. Auch diese Aussage bezieht sich offenbar auf das Video von derselben Veranstaltung. Nehammer sagt darin ab Sekunde 16 sinngemäß: Selbst Frauen, die keine Kinder betreuen müssten, würden nicht mehr arbeiten: „Wenn ich zu wenig Geld habe, geh’ ich mehr arbeiten“, so Nehammer. Es ist erklärtes Ziel der ÖVP, mehr Menschen dazu zu bringen, Vollzeit zu arbeiten. Vertretende der Oppositionsparteien SPÖ und FPÖ hingegen verweisen darauf, dass gerade Frauen häufig nicht freiwillig in Teilzeit arbeiten, sondern an Betreuungspflichten gebunden sind.

Der dritte: „zu Alkohol und Psychopharmaka zu greifen“. Das bezieht sich auf eine Rede von Nehammer bei einem ÖVP-Parteitag im Juli 2022. Nehammer spricht darin über die Teuerung und sagt: „Wenn wir jetzt so weitermachen, gibt’s für euch nur zwei Entscheidungen nachher: Alkohol oder Psychopharmaka” (Sekunde 26 im Video). Aus dem Kontext wird klar, dass das weniger ein Ratschlag ist, sondern eher ein rhetorisches Stilmittel ist. Direkt danach sagt Nehammer unter Gelächter aus dem Publikum: „Alkohol ist grundsätzlich okay. Aber: Das Entscheidende ist, dass man immer dann anstößt, wenn es einem gut geht.“ 

Fazit: Die vier Sätze Nehammers, die in den Beiträgen genannt werden, sind nicht alle wortwörtlich so gefallen, aber stammen sinngemäß von ihm. Die Angaben über den Zustand Österreichs stimmen nicht alle: Das Land hat nicht die höchste Teuerungs- beziehungsweise Inflationsrate in der EU. Mehr Menschen wurden in der Amtszeit Nehammers arm. Das Gesundheitssystem hat sich in einigen Kennzahlen verschlechtert, das war aber auch schon vor Nehammers Amtszeit so.

Redigatur: Viktor Marinov, Matthias Bau

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Jährliche Inflationsrate im Juli 2024, Eurostat: Link (archiviert)
  • Statistik Austria, Übersichtsseite zum Thema Armut: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung der Statistik Austria, 25. April 2024: Link (archiviert)
  • EU-Definition zum Indikator Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung und dessen Teilindikatoren, veröffentlicht von der Statistik Austria: Link (PDF, archiviert)
  • Statistik Austria, Übersichtsseite zu Gesundheitsausgaben: Link (archiviert)
  • Statistik Austria, Übersichtsseite Einrichtungen und Personal im Gesundheitswesen: Link (archiviert)
  • Pressemeldung des Austrian Health Forums, 2023: Link (PDF, archiviert)
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