Justiz

Sexualisierte Gewalt: Warum Zahl der Tatverdächtigen seit 2015 gestiegen ist

Für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gibt es seit 2015 deutlich mehr Tatverdächtige. Einzelne AfD-Politiker suggerieren deshalb eine Verbindung zum Migrationsgeschehen, die aus den Daten aber nicht hervorgeht.

von Kimberly Nicolaus

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Symboldbild zweier Polizeikräfte. Aktuell kursieren online Behauptungen zu Sexualstraftaten, denen Kontext fehlt. (Symbolbild: Marijan Murat / DPA / Picture Alliance)
Behauptung
Die Zahl der Tatverdächtigen im Bereich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sei seit 2015 massiv gestiegen.
Bewertung
Fehlender Kontext
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Fehlender Kontext. Der Anstieg der Tatverdächtigenzahl ist nur bedingt aussagekräftig, weil es Verschärfungen und Änderungen im Strafrecht gab. So wurde beispielsweise 2016 sexuelle Belästigung ein eigener Straftatbestand. 2021 bis 2024 war zudem die Mindeststrafe für das Herstellen, Beziehen oder Verbreiten bestimmter pornografischer Inhalte angehoben.

Bundeskanzler Friedrich Merz sagte Mitte Oktober, beim Thema Migration gebe es ein „Problem“ im Stadtbild. In den Tagen danach verbreiteten Florian Machl, Chefredakteur und Herausgeber des österreichischen Desinformation-Mediums Report24, die AfD-Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah und Maximilian Kneller sowie AfD-Vertreter auf Kreisebene eine Grafik, die zeigt, dass seit 2015 die Zahl der Tatverdächtigen für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Deutschland gestiegen ist. 

Sie suggerieren, der Anstieg sei auf Migranten zurückzuführen: etwa durch den Zusatz „Merkels Werk“ in Krahs Beitrag und durch die Betonung des Jahres 2015. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien flüchteten in diesem Jahr viele Menschen, unter anderem nach Deutschland. 

Mit der Grafik wurde schon 2024 Stimmung gemacht. Dabei lassen sich anhand der Daten keine Rückschlüsse auf die Staatsangehörigkeit oder den Aufenthaltsstatus der Tatverdächtigen ziehen. Ein Vergleich der Zahlen über die Jahre ist auch nur bedingt aussagekräftig, da sich die Rechtslage in der Zeit deutlich verändert hat.

Anders als Maximilian Krah, AfD-Bundestagsabgeordneter, behauptet, ist es nicht „Merkels Werk“, dass es einen Anstieg der Tatverdächtigen-Zahl im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gab (Quelle: X / T-Online / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Anders als Maximilian Krah, AfD-Bundestagsabgeordneter, behauptet, ist es nicht „Merkels Werk“, dass es einen Anstieg der Tatverdächtigen-Zahl im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gab (Quelle: X / T-Online / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Deutlich mehr männliche als weibliche Tatverdächtige für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung

Die Grafik stammt aus einem Artikel, den T-Online im August 2023 veröffentlicht hat, und basiert auf Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts (BKA). Die rote Linie für das Jahr 2015 sowie das Bild im Hintergrund der Grafik wurden nachträglich eingefügt. 

Es geht um den Vergleich zwischen Männern und Frauen, die zwischen 1987 und 2022 verdächtigt wurden, eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen zu haben. Solche Straftaten sind in der PKS unter dem Schlüssel 100000 zusammengefasst, wie uns eine Sprecherin des BKA erklärt. Darunter fallen mehrere Paragrafen des Strafgesetzbuches (StGB), unter anderem sexueller Missbrauch, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung sowie Besitz und Verbreitung bestimmter pornografischer Inhalte (Stand: 2024).

Dass die Zahl der männlichen Tatverdächtigen gegenüber den weiblichen Tatverdächtigen jedes Jahr deutlich überwiegt, stimmt mit den Angaben der PKS überein. 

Mehr Tatverdächtige vor allem in den Bereichen sexuelle Belästigung und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen

Die Daten seit den 1980ern bis heute in der Art zu vergleichen, dass Rückschlüsse auf etwaige Entwicklungen gezogen werden, ist aber vor allem wegen der veränderten rechtlichen Lage nicht möglich. Betrachtet man die Daten seit 2015, haben zwei Faktoren besonders große Auswirkungen. 

Erstens: 2016 hat der Bundestag das Sexualstrafrecht verschärft und den Grundsatz „Nein heißt Nein“ in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Dadurch wurde §177 StGB geändert. Seitdem ist jede sexuelle Handlung strafbar, die gegen den erkennbaren Willen der anderen Person begangen wird. 

Neu eingeführt wurden außerdem die Straftatbestände sexuelle Belästigung und Straftaten aus Gruppen (§§184i und 184j StGB). Tatverdächtige für ebendiese Belästigung machen einen großen Teil der Gesamtmenge aus: 2017 rund 17 Prozent und 2022 knapp 14 Prozent. 

Zweitens: Der sprunghafte Anstieg der Tatverdächtigenzahl von 2020 (60.992 Tatverdächtige insgesamt) auf 2021 (81.646 Tatverdächtige insgesamt) liegt maßgeblich an den fast doppelt so vielen Tatverdächtigen für die Verbreitung pornografischer Inhalte (§ 184 StGB), wobei es in den meisten Fällen um Missbrauchsdarstellungen von Kindern ging. 

Nach Angaben des BKA (PDF, Download) habe das mit Ermittlungen der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation National Center for Missing and Exploited Children sowie Ermittlungen, die sich aus den Verfahren unter anderem in Lüdge, Nordrhein-Westfalen, ergaben, zu tun. Eine weitere Rolle spielten Kinder und Jugendliche, die ohne Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrunds kinder- und jugendpornografische Bilder in Gruppenchats teilten. Der Anteil der Straftaten mit mindestens einem Zuwanderer liegt in diesem Bereich bei unter sechs Prozent.

Zu beachten dabei: Der Bundestag hatte 2021 die Mindeststrafe für das Herstellen, Beziehen oder Verbreiten dieser Inhalte angehoben. Dadurch durften Fälle, bei denen kein pädokriminelles Motiv vorlag, nicht mehr wie zuvor eingestellt werden – zum Beispiel wenn jemand einen entsprechenden Inhalt weiterleitete, um über den Vorfall zu informieren. Wegen der fraglichen Verhältnismäßigkeit wurde die Anhebung der Mindeststrafe 2024 wieder rückgängig gemacht.

Polizeiliche Kriminalstatistik sagt nichts über Dunkelfeld sexualisierter Gewalt aus

Zudem ist die PKS insgesamt nur bedingt aussagekräftig. Die Zahlen in der Statistik betrachten Fälle, bei denen die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat. Es ist also unklar, ob eine Staatsanwaltschaft in den Fällen jeweils Anklage erhoben hat und die Vorwürfe durch ein Gericht bestätigt wurden. 

Entsprechend gibt die Statistik nur Auskunft über Tatverdächtige, nicht über verurteilte Straftäter. Sie betrachtet außerdem nur Fälle, die der Polizei bekannt geworden sind. Gerade bei Sexualdelikten wird jedoch von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen

Grafik gibt keinen Aufschluss über Migranten unter Tatverdächtigen

Anders als die Beiträge in Sozialen Netzwerken suggerieren, macht die Grafik zudem keine Aussage darüber, wie viele Migranten unter den Tatverdächtigen sind. Die PKS unterscheidet allgemein zwischen deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen, das Kriterium dafür ist die Staatsangehörigkeit der Personen. 

Zusätzlich zur Statistik werden in den jährlichen Bundeslagebildern zur Kriminalität im Kontext von Zuwanderung Daten zur Gruppe der „Zuwanderer“ unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen angegeben. Das entspricht etwa dem umgangssprachlichen Begriff „Geflüchtete“. Die genauen Definitionen, die seit 2017 gültig sind, haben wir hier aufgeschlüsselt:

Wie das BKA im Bundeslagebild 2017 (PDF, Download) schreibt, wurden ab diesem Berichtsjahr auch tatverdächtige Personen mit positiv abgeschlossenem Asylverfahren zu der Tatverdächtigen-Gruppe „Zuwanderer“ gezählt. Zuvor fielen sie unter einen anderen Sammelbegriff. 

Tatverdächtige für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind meist deutsche Staatsbürger

Ein Vergleich der Bundeslagebilder von 2015 bis einschließlich 2022 zeigt: Personen, die verdächtigt wurden, eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen zu haben, waren in jedem Jahr mehrheitlich deutsche Staatsangehörige. 

Anders als einzelne AfD-Politiker und Report24-Chefredakteur Machl suggerieren, lässt sich der Anstieg bei der Tatverdächtigenzahl für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, also nicht auf das Migrationsgeschehen zurückführen. 

Wir haben die Verbreiter der Behauptung kontaktiert. Die AfD-Politiker antworteten uns nicht, Machl reagierte mit Beleidigungen und erklärte, sein Beitrag zur Grafik sei „humoristisch“.

Redigatur: Sara Pichireddu, Max Bernhard

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Polizeiliche Kriminalstatistiken, Bundeskriminalamt: Link
  • Bundeslagebilder „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“, Bundeskriminalamt: Link (archiviert)
  • Bundestag entscheidet „Nein heißt Nein“, 7. Juli 2016: Link (archiviert)
  • Bundestag beschließt geringere Mindeststrafen für Kinderpornografie-Delikte, 16. Mai 2024: Link (archiviert)
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