Junge sammelt Flaschen? Wie eine gestellte Szene zum Symbolbild für Armut in Deutschland wurde
Ein Foto eines Jungen, der Pfandflaschen sammelt, wird seit Jahren immer wieder in Medien verwendet, manchmal auch illegal. In sozialen Netzwerken zeigen Nutzer es als Beweis für Kinderarmut in Deutschland. Doch das Bild ist ein reines Symbolfoto – es wurde inszeniert.
Symbolbilder werden in Medienberichten häufig verwendet; im Grunde immer dann, wenn es kein aktuelles Bild zu einem Artikel gibt. Allerdings sollten diese stets als Symbolfotos benannt werden, damit keine Missverständnisse aufkommen.
Wie sich Bilder andernfalls verselbstständigen können, zeigt der Fall von mehreren Fotos eines blonden Jungen. Ein Foto, auf dem er Flaschen aus einem Mülleimer sammelt, wurde zum Beispiel im Februar 2018 auf Facebook veröffentlicht, ohne Angaben zum Kontext. Es wurde seitdem mehr als 1.100 Mal geteilt, in letzter Zeit verstärkt. Recherchen von CORRECTIV zeigen: Das Foto ist kein Beweis für Kinderarmut in Deutschland. Der abgebildete Junge musste nie selbst Flaschen sammeln; die Szene ist gestellt.
Durch die Rückwärtssuche bei Google konnte CORRECTIV den Namen des Fotografen in Erfahrung bringen: Walter Allgöwer. Eine Bildersuche nach ihm mit den Suchworten „Flaschen sammeln Armut“ fördert weitere Fotos des Jungen zutage. Erst kürzlich, im Mai 2019, wurden zwei solcher Fotos von Allgöwer verwendet: in einem Bericht des Stern über Straßenkinder in Berlin, und auf der Webseite des Deutschlandfunks zur Illustration eines Textes über Kinderarmut. Das Foto in dem Deutschlandfunk-Artikel stammt wahrscheinlich nicht aus derselben Serie, denn der Junge trägt andere Schuhe, deren Sohlen durchgelaufen sind, und er hat keine Flaschen dabei. Aufgrund der grauen Hose aber und der Tatsache, dass beide Fotos von Allgöwer gemacht wurden, ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um dasselbe Kind handelt.
In beiden Fällen fehlt die Information, dass es sich um Symbolbilder handelt. Beim Stern wird in der Bildunterschrift sogar konkret suggeriert, bei dem Kind handele es sich um eines der Straßenkinder, die vom Verein „Straßenkinder e.V.“ betreut werden: „Ein Junge verdient sein Taschengeld durch das Sammeln von Pfandflaschen: Auffangen vor dem Absturz, darum geht es beim Kinderhaus Bolle des Vereins ‘Straßenkinder e.V.’“
Die Evangelische Kirche Deutschland verwendete 2017 ein Foto des Jungen aus der Serie – diesmal von hinten, aber eindeutig erkennbar durch die Kleidung. Hier steht als Zusatz „Archivbild“ darunter. Im Text geht es allgemein um die wachsenden sozialen Unterschiede in Deutschland, vor denen der Chef der Diakonie Deutschland gewarnt habe.
Und bei RBB tauchte ein Foto aus der Serie im Februar 2019 auf; darauf ist der Junge ebenfalls an der Kleidung zu erkennen. Nur wenn man mit dem Mauszeiger über das Foto fährt, öffnet sich ein Fenster, in dem vermerkt ist, dass es sich um ein Symbolbild handelt. Allerdings steht dabei, das Kind bringe die Bierflaschen der Eltern weg.
Das Kind ist der Sohn des Fotografen
Der Fotograf Walter Allgöwer stammt aus Baden-Württemberg. CORRECTIV hat ihn kontaktiert und gefragt, welchen Hintergrund die Aufnahmen haben. Seine Antwort: „Das Kind ist mein Sohn.“ Die Bilder seien 2009 für eine Reportage über Armut und Hartz IV entstanden.
Auf unsere Nachfrage präzisiert Allgöwer in einer zweiten E-Mail: „Die Aufnahmen sind natürlich gestellt, mein Sohn hat niemals Flaschen gesammelt. Aber es hat ihm großen Spaß gemacht diese Rollen zu spielen.“ Er habe die Fotos damals an mehrere Bildagenturen verkauft – explizit als Symbolbilder. Sie tauchten jedoch inzwischen ohne seine Erlaubnis „zahlreich in osteuropäischen Zeitschriften auf“. Die Bildagenturen verneinten ihm gegenüber, etwas darüber zu wissen.
CORRECTIV hat die Bildagentur Picture Alliance kontaktiert, die zur DPA-Gruppe gehört und eine wichtige Bildquelle für Medien in Deutschland ist, und gefragt, in welcher Form die Fotos in ihrer Datenbank hinterlegt sind. Die Picture Alliance antwortete, die ganze Fotoserie mit dem blonden Jungen, der Flaschen sammelt, sei in ihrer Datenbank zu finden. Sie seien als Symbolbilder zum Thema Armut auch über die Partneragenturen „Joker“ und „Imagebroker“ im Vertrieb. „Bei uns sind die Bilder in der Datenbank mit ‘Modellfreigabe vorhanden’ gekennzeichnet“, schrieb eine Sprecherin per E-Mail. „Da weiß sofort jeder unserer Kunden, dass es gestellte Bilder sind und keine ‘echten’ redaktionellen. Ob der Kunde die Bilder ebenfalls klar als Symbolbilder kennzeichnet, liegt nicht in unserer Hand.“ Im Fall Kinderarmut könne wegen der Persönlichkeitsrechte „schwerlich mit journalistischen Bildern gearbeitet werden“.
Ein Auszug aus der DPA-Datenbank, den CORRECTIV als PDF zugeschickt bekam, zeigt, dass bei den Fotos als Beschreibung steht „Ein neunjähriger Junge verdient sein Taschengeld durch Sammeln von Pfandflaschen, Deutschland, Europa“ und „Junge beim Sammeln von Pfandflaschen“.
Bild wird auch illegal verbreitet
In einigen Beispielen wurden die Fotos offenbar illegal aus Bilddatenbanken kopiert. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass in dem Bild, das auf Facebook verbreitet wurde, Wasserzeichen mit dem Namen der Agentur Zoonar zu sehen sind. Dort wird das Foto ebenfalls angeboten. Die Wasserzeichen wären nicht vorhanden, wäre das Foto gekauft und heruntergeladen worden – stattdessen wurde offenbar ein Screenshot gemacht.
Über die Bilder-Rückwärtssuche in Suchmaschinen lässt sich das Foto auch zum Beispiel auf Twitter finden, wo es 2018 von einer türkischen Medienseite namens R-Komplex verbreitet wurde. In dem dazugehörigen Artikel auf der Webseite findet sich ebenfalls das Foto des Jungen – ohne irgendeine Quellenangabe. Am unteren rechten Bildrand sind drei Buchstaben zu erkennen, vermutlich „pic“. Sie deuten darauf hin, dass das Bild mit einem Screenshot kopiert wurde, dort könnte ursprünglich „Picture Alliance“ gestanden haben.
Die Überschrift des türkischen Textes lautet laut der automatischen Übersetzung durch Google: „Kinderarmut ist in Europa und Deutschland unheimlich!“ Darunter heißt es: „Es wurde festgestellt, dass die in Deutschland und Europa beängstigende Kinderarmut von Generation zu Generation weitergegeben wurde und der Staat nicht eingreift.“
Die Verwendung des Bildes ohne jeden Kontext lässt es wie eine reale Momentaufnahme, wie einen Beweis für Kinderarmut in Deutschland erscheinen. Das ist es aber nicht.
Walter Allgöwer verweist in seiner Mail auch auf die Seite „Imagebroker“, an die er seine Fotos regelmäßig verkauft. Dort sind zahlreiche Bilder des Jungen zu sehen – in ganz unterschiedlichen Situationen. Beim Fußball, beim Wandern, am Strand, beim Graffiti-Sprühen. Der Junge steht offensichtlich sehr oft Modell für seinen Vater.
Die Bildunterschrift bei dem Foto mit den Flaschen am Mülleimer lautet: „Ein neunjähriger Junge verdient sein Taschengeld durch Sammeln von Pfandflaschen, Deutschland, Europa“. Entstanden im August 2009. Auch dort steht der Vermerk „Model Release“. Er weist auf einen Modelvertrag hin, mit dem die abgebildete Person in die Veröffentlichung ihres Bildes einwilligt. Laien dürfte es trotzdem schwer fallen, dies als Hinweis auf eine gestellte Szene zu erkennen.