Hintergrund

„Im Kreuzverhör“: Gysi und Wagenknecht nutzen bei Migration und Rente falsche oder irreführende Zahlen

Auf NTV/RTL stellten sich Gregor Gysi (Die Linke) und Sahra Wagenknecht (BSW) Fragen rund um ihr Wahlprogramm. Bei den Themen Migration und Rente nannten beide irreführende Zahlen und ließen relevanten Kontext aus.

von Paulina Thom

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Wahlplakate von Die Linke und BSW in Berlin (Symbolbild: Christian Ender / Pic One / Picture Alliance)

Am 16. Februar waren Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht zu Gast bei RTL und NTV. In der Sendung „Im Kreuzverhör“ beantworteten der Linken-Poltiker und die BSW-Spitzenkandidatin Fragen zu ihrem Wahlprogramm. Beide argumentierten dabei jeweils teils mit irreführenden Zahlen und ließen relevanten Kontext aus, Wagenknecht im Hinblick auf die Durchschnittsrente und Gysi in Bezug auf aufgenommene Geflüchtete in Deutschland. 

Wagenknecht Angabe zur Durchschnittsrente passt nicht zu Daten aus dem Rentenatlas

„Wissen Sie, wie hoch das Haushaltsnettoeinkommen eines Rentnerehepaares pro Monat ist?“, fragte Moderator Nikolaus Blome Wagenknecht gegen Ende des 15-minütigen Interviews. Sahra Wagenknecht spricht anschließend über die Durchschnittsrente in Deutschland. Die betrage laut Zahlen der Rentenversicherung 1.200 Euro, sagt Wagenknecht, das sei unterhalb der Armutsschwelle.

Mit den Zahlen im sogenannten Rentenatlas deckt sich das nicht. Dort veröffentlicht die Deutsche Rentenversicherung jährlich Zahlen zur Durchschnittsrente. Laut den letzten verfügbaren Zahlen (PDF), die im November 2024 erschienen, lag die durchschnittliche Bruttorente 2023 von Männern mit mindestens 35 Versicherungsjahren bei rund 1.800 Euro, von Frauen bei 1.333 Euro. 

Es gibt dabei starke Bundesländer-Unterschiede: Unabhängig vom Geschlecht liegt die durchschnittliche Bruttorente nach 35 Versicherungsjahren im Saarland mit 1.741 Euro am höchsten und mit 1.509 Euro in Thüringen am niedrigsten. Der bundesweite durchschnittliche Rentenzahlbetrag – abzüglich der Kranken- und Pflegeversicherung doch vor möglichen Steuern, auch Nettorente genannt – lag laut der Deutschen Rentenversicherung für Männer bei 1.608 Euro, für Frauen bei 1.237 Euro und damit über den von Sahra Wagenknecht genannten 1.200 Euro. 

Im Juli 2024 antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage Sahra Wagenknechts, dass der Rentenzahlbetrag nach mindestens 45 Versicherungsjahren Ende 2023 rund 1.600 Euro betrug. Jede fünfte Rente lag der Antwort nach dabei unter 1.200 Euro – nicht also der Durchschnitt. 

Wert von Wagenknecht trifft auf durchschnittliche Altersrente inklusive Kleinstrenten zu 

Dennoch ist die Bewertung von Wagenknechts Angaben eine Frage der Betrachtung. Wir haben die Deutsche Rentenversicherung um Einschätzung gebeten. Pressesprecher Dirk Manthey antwortet uns, bei Wagenknechts Zahlen fehlten relevante Angaben zum Jahr, zur Art der Rente (Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten oder Hinterbliebenenrenten?) und dazu, ob es um den Rentenzugang (alle innerhalb eines Kalenderjahres neu hinzugekommenen Renten) oder den Rentenbestand (alle am Stichtag 31.12. eines Jahres gezahlten Renten, unabhängig vom Jahr des Rentenbeginns) gehe.  

Nimmt man nur die Altersrenten, lagen die gezahlten Renten netto sogar niedriger als von Wagenknecht angegeben. Laut Manthey betrugen sie 2023 im Zugang 1.250 Euro brutto, das seien 1.110 Euro netto. Im Bestand, also bei allen Renten unabhängig vom Beginn des Rentenbezugs, lag die Rente bei 1.241 Euro brutto und bei 1.102 Euro netto. 

Manthey fügt jedoch hinzu: „In den Beträgen sind auch Kleinstrenten enthalten, die den Durchschnitt senken.“ Was bedeutet das? Wer in Deutschland mindestens fünf Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat, hat Anspruch auf eine reguläre Altersrente. Kleinstrenten betreffen laut Manthey beispielsweise Hausfrauen, die nur kurze Zeit versichert waren. Unter die Kleinstrenten fallen auch Menschen mit längeren Zeiten eines Auslandsaufenthalts ohne Beitragszahlung sowie Menschen, die in andere Alterssicherungssysteme gewechselt sind, beispielsweise die Beamtenversorgung. 

Je nach Versicherungsjahren verändert sich die Höhe des Anspruchs. „Aussagekräftiger ist daher die durchschnittliche Altersrente von Menschen mit mindestens 35 Versicherungsjahren“, erklärt Manthey. Ihnen könne auch das Ziel einer Alterssicherung über die gesetzliche Rentenversicherung unterstellt werden. Zur Einordnung: Der Anteil der Neurentnerinnen und Neurentner lag laut Deutscher Rentenversicherung (PDF, Download) bis Ende 2022 bei 73 Prozent der Versicherten. 

Ähnlich argumentiert auch das Bundesministerium für Arbeit: „ Da man schon nach fünf Beitragsjahren eine Rente bekommt, sagt die Höhe der Durchschnittsrente wenig über das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung aus“, heißt es dort auf der Webseite.

Rente oft nicht einziges Einkommen, dennoch viele im Alter armutsgefährdet

Wagenknecht argumentierte im Interview dann weiter, die Durchschnittsrente läge unterhalb der Armutsschwelle. 2023 lag die Armutsgefährdungsschwelle laut Statistischem Bundesamt für eine alleinlebende Person bei 1.310 Euro verfügbarem Nettoeinkommen im Monat, 2024 lag sie bei 1.378 Euro. 

Die gesetzliche Rente kann jedoch nicht mit dem Nettoeinkommen gleichgesetzt werden, wie das  Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärt: Die gesetzliche Rente ist mitunter nicht die einzige Einnahmequelle für Rentnerinnen und Rentner – manche haben privat vorgesorgt, verfügen über eine Betriebsrente, sind weiterhin erwerbstätig oder in ein Haushaltseinkommen eingebunden. Auch Manthey von der Deutschen Rentenversicherung schreibt uns: „Die Betrachtung individueller Ansprüche alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung besitzt nur eine begrenzte Aussagekraft hinsichtlich der generellen Einkommenssituation beziehungsweise eines möglichen Armutsrisikos von Rentnerinnen und Rentnern.“ 

Manthey verweist auf den letzten Alterssicherungsbericht der Bundesregierung von 2024. Demnach lag das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von älteren Paaren bei monatlich 3.759 Euro. Bei alleinstehenden Männern sind es 2.213 Euro, alleinstehende Frauen haben mit 1.858 Euro ein im Durchschnitt geringeres Einkommen. „Die monatlichen Haushaltsnettoeinkommen der 65-Jährigen und Älteren betrugen 2023 im Durchschnitt 2.769 Euro“, heißt es im Bericht. 

Wagenknechts Vergleich ist also nicht stimmig: Zum einen argumentiert sie mit Zahlen zur Durchschnittsrente, die laut Rentenversicherung nicht aussagekräftig sind, zum anderen lassen sich diese Zahlen allein nicht einfach mit der Armutsgrenze vergleichen. Fest steht aber auch: 2024 galten rund 20 Prozent der Seniorinnen und Senioren in Deutschland als armutsgefährdet. Und: Alleinstehende Frauen liegen im Durchschnitt auch nach 35 Versicherungsjahren, sofern die gesetzliche Rente ihr einziges Einkommen ist, unterhalb der Armutsschwelle. 

Zahl Geflüchteter pro 1.000 Einwohner in Deutschland ist höher als von Gysi angegeben 

Zu Beginn des Gesprächs mit Gregor Gysi ging es um die Asylpolitik. „Herr Gysi, Ihre Partei möchte alle Asylverschärfungen im Asylrecht rückgängig machen. Sie möchten diese europäische Einigung, die mühsam erreicht wurde, rückgängig machen und noch mehr Fluchtgründe, zum Beispiel Klima, anerkennen. Das heißt, die Zahl der Asylsuchenden würde doch drastisch steigen. Ist es das, was Sie wollen?“, fragte Moderator Blome. Nein, sagt Gysi, man müsse aber aufmerksam machen auf bestimmte Verhältnisse. „Es gibt ja Länder mit viel mehr Flüchtlingen als Deutschland. Wissen Sie, wie viele Flüchtlinge wir auf 1000 Einwohner haben? 3,2 und andere Länder haben 6, 8, 10.“ 

Richtig ist, es gibt Länder, die mehr Geflüchtete pro 1.000 Einwohner aufgenommen haben als Deutschland. In der EU ist Zypern laut einer Statista-Grafik mit 78,6 Geflüchteten und Asylsuchenden pro tausend Einwohner das Land, das die meisten Menschen aufgenommen hat. An zweiter Stelle folgt mit 36 Menschen pro 1.000 Einwohner Tschechien, an dritter Stelle Deutschland mit 35,5. Die Zahl liegt also deutlich über den von Gysi genannten 3,2. 

Statista nutzt für die Grafik Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und bezieht sich sowohl auf Asylsuchende (Menschen, die einen Antrag auf Asyl gestellt haben oder dies vorhaben) als auch auf Personen mit anerkanntem Schutzstatus – also diejenigen, die unter eine der vier möglichen Schutzformen Asylberechtigung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz oder ein Abschiebungsverbot fallen. Das sind dann insgesamt etwa drei Millionen Menschen. 

Statistiken dazu gehen teils auseinander. Unter anderem, weil nicht alle Organisationen und Behörden alle unterschiedlichen Formen des Schutzstatus oder alle Schutzformen in ihre Zahlen gleichermaßen mit einbeziehen und teilweise unterschiedlich definieren.

Das Statistische Bundesamt geht Ende 2024 vorläufig von 3,3 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland aus, darunter Menschen mit einem abgelehnten Asylantrag. 2,7 Millionen der Schutzsuchenden haben der Auswertung nach einen anerkannten Schutzstatus. In beiden Fällen läge die Zahl Geflüchteter deutlich über 3,2 Geflüchtete pro 1.000 Einwohner – nämlich bei rund 39,5 beziehungsweise 32,3. 

Einzig die Zahl der Asylanträge im vergangenen Jahr lag laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in der Nähe des von Gysi genannten Wertes: mit insgesamt 250.945 Anträgen bei drei Anträgen pro 1000 Einwohner. Gysi bezieht sich im Interview jedoch weder auf ein konkretes Jahr, noch spricht er konkret von Asylbewerbern, sondern sagt „Flüchtlinge“.

Gysi und Wagenknecht reagierten auf unsere Nachfragen bis zur Veröffentlichung des Faktenchecks nicht. 

Alle Faktenchecks rund um die Bundestagswahl 2025 lesen Sie hier.

Redigatur: Gabriele Scherndl, Uschi Jonas

Update, 28. Februar: Wir haben weitere Angaben zur Zahl Geflüchteter und zur Zahl der Asylanträge in Deutschland ergänzt.

Update, 4. März: Wir haben weitere Zahlen zur Rente und eine Rückmeldung der Deutschen Rentenversicherung ergänzt. Denen zufolge passt Wagenknechts Angabe zwar in etwa auf die durchschnittliche Altersrente inklusive Kleinstrenten, aussagekräftiger ist laut Deutscher Rentenversicherung aber der Betrag nach 35 Versicherungsjahren.

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