Naher Osten

„Kein McDonald’s drive through“: Warum Hilfslieferungen der UN an Gazas Grenzen lagerten

Im Sommer wurde ein Grenzübergang im Süden Gazas zum Schauplatz israelischer Propaganda. Videos von Hilfslieferungen, die dort lagerten, sollten zeigen, dass einzig die Vereinten Nationen und die Hamas für die humanitäre Notlage in Gaza verantwortlich seien. Ein Faktencheck.

von Kimberly Nicolaus

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Israelische Soldaten bewachen Hilfsgüter am Grenzübergang Kerem Shalom (Foto: Mostafa Alkharouf / Anadolu / Picture Alliance)

Bepackte Lastwagen, daneben reihenweise Stapel an humanitären Hilfsgütern. Sie sind offenbar für die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza gedacht, doch lagern an der Grenze. Wie passt das zu den Berichten über die dortige Nahrungsknappheit und Hunger?

Die Aufnahmen stammen aus einem deutschsprachigen Video, das das israelische Außenministerium im Sommer auf Youtube veröffentlichte und damit über drei Millionen Aufrufe erzielte. Die Behauptung darin: Die israelische Regierung genehmige die Einfuhr von Hilfsgütern. Die Vereinten Nationen (UN) „weigerten“ sich aber, die Hilfsgüter abzuholen. Aufnahmeort ist der Grenzübergang Kerem Shalom im Süden Gazas. Neben der angeblich fehlenden Verteilung der UN macht die israelische Regierung die von der EU und den USA als Terrororganisation eingestufte Hamas dafür verantwortlich, die Hilfslieferungen zu stehlen. Auch Influencer mit einer Millionen-Reichweite auf Instagram zeigten sich im Sommer an dem Grenzübergang und verbreiteten die gleiche Behauptung

Was ist zur Situation am Grenzübergang Kerem Shalom im Sommer bekannt? Ein Blick auf verfügbare Daten und Berichte von Hilfsorganisationen zeigt: Der Darstellung der israelischen Regierung zur UN fehlt wesentlicher Kontext. Es gibt Berichte über Plünderungen und gestohlene Hilfslieferungen, unter anderem durch die Hamas. Belege dafür, dass die Hamas systematisch Hilfslieferungen der UN gestohlen habe, liegen aber nicht vor.

Autos der UN am Grenzübergang Kerem Shalom, fotografiert bei einer Medientour, die von der israelischen Armee organisiert wurde (Foto: Ilia Yefimovich / DPA / Picture Alliance)
Autos der UN am Grenzübergang Kerem Shalom, fotografiert bei einer Medientour, die von der israelischen Armee organisiert wurde (Foto: Ilia Yefimovich / DPA / Picture Alliance)

Laut UN-Angaben: Große Mehrheit der UN-Hilfslieferungen wurden im Sommer an Grenzübergängen abgeholt

Vorweg: Fotos belegen, dass im Sommer UN-Hilfslieferungen bei Menschen in Gaza ankamen. Laut UN-Angaben wurde – nach der fast dreimonatigen Blockade von Hilfsgütern durch die israelische Regierung – die absolute Mehrheit, nämlich mehr als vier Fünftel der UN-Hilfslieferungen, von den Grenzübergängen abgeholt. Laut UN blieb etwa ein Fünftel aller UN-Hilfslieferungen zurück (Datenstand: 19. Mai bis 9. Oktober 2025), die für die Koordinierung humanitärer Hilfe zuständige israelische Militärbehörde Cogat gab dazu auf Anfrage keine Auskunft.

Nach Israels Blockade hat Wiederaufbau des Verteilungssystems in Gaza „einige Zeit gekostet“

Die Beiträge der israelischen Regierung und der Influencer zeichneten im Sommer ein scheinbar einfaches Bild der Prozesse vor Ort. Das steht im Widerspruch zu den Berichten internationaler Organisationen, die Hilfe nach Gaza liefern. Die Abholung von Hilfslieferungen an den Grenzen zu Gaza war demnach weitaus komplexer als dargestellt. 

Als die israelische Regierung Anfang März eine fast dreimonatige Blockade von Hilfsgütern verhängte, baute die von der israelischen Regierung und den USA unterstützte private Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ein von der UN und anderen Hilfsorganisationen unabhängiges Verteilungssystem in Gaza auf. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wollte damit auf eine „andere Methode“ setzen – auch, weil er der Hamas immer wieder vorwarf, Hilfe zu plündern. Über die Sommermonate wurde die Arbeit der GHF immer wieder kritisiert, unter anderem wegen Tötungen an GHF-Verteilzentren. Auch die Versorgungskapazitäten mit Zentren mehrheitlich im Süden Gazas waren weitaus geringer als angekündigt. Im November gab die GHF bekannt, ihren Einsatz zu beenden

Nach der Blockade, Ende Mai, konnte die UN ihre Arbeit wieder aufnehmen. Doch es habe nachhaltige Auswirkungen auf das Verteilungssystem gegeben, sagte Sarah Davies, Sprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) gegenüber France24. Dessen „Wiederaufbau“ habe einige Zeit gekostet. Zudem, so Davies im September, sei es schwierig, sich fortzubewegen und zu versuchen, die Zivilbevölkerung zu erreichen, weil die Menschen oft vertrieben würden und von einem Gebiet ins andere ziehen müssten.

Palästinenser, die im September 2025 in Richtung Süden Gazas fliehen (Foto: Habboub Ramez / ABACA / Picture Alliance)
Palästinenser, die im September 2025 in Richtung Süden Gazas fliehen (Foto: Habboub Ramez / ABACA / Picture Alliance)

Grenzübergänge für Hilfslieferungen nach Gaza zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Zahl geöffnet

Die mit Abstand meisten Hilfslieferungen kommen laut israelischen Angaben über den Landweg nach Gaza. Dafür wurden seit Kriegsbeginn verschiedene Grenzübergänge geöffnet. Dazu zählen nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) neben Kerem Shalom die Übergänge Rafah, Kissufim, Gate 96, Erez und Erez West. Seit den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober 2023 waren sie in unterschiedlicher Zahl und zu unterschiedlichen Zeiten geöffnet. 

Vereinte Nationen: Grenzübergang Kerem Shalom kein „McDonald’s drive through“

Lastwagen mit Hilfsgütern passieren die Grenzübergänge und laden sie in Wartebereichen auf der Seite Gazas ab, beschreibt Jens Laerke, stellvertretender Sprecher von Ocha, die Abläufe im August 2025. Die leeren Lastwagen würden dann zurück nach Israel fahren. Um die Hilfsgütern aus den Wartebereichen an der Grenzseite in Gaza abzuholen, brauche man eine Genehmigung der israelischen Regierung. Dazwischen fänden mehrere Sicherheitschecks statt. Dieser Ablauf stimmt grob mit den Angaben der IDF überein, das Militär schreibt von einem „schnellen Screening-Prozess“. 

Was vermeintlich einfach klingt, gestaltet sich in der Praxis laut Berichten von Hilfsorganisationen jedoch wesentlich schwieriger.

Palästinenser in Gaza erhalten UN-Hilfslieferungen. Aufnahmedatum des Fotos: 25. Juni 2025. (Foto: Ali Jadallah / Anadolu / Picture Alliance)
Palästinenser in Gaza erhalten UN-Hilfslieferungen. Aufnahmedatum des Fotos: 25. Juni 2025. (Foto: Ali Jadallah / Anadolu / Picture Alliance)

Israelische Beschränkungen verhinderten die ungestörte Abholung der begrenzten Hilfsgütern auf der Seite des Gazastreifens, so Ocha-Sprecher Laerke im August. Die Genehmigungen, um Hilfsgüter aus dem Zwischenlager abzuholen, würden „routinemäßig ohne Begründung verweigert“. Ähnliches beschrieb Stéphane Dujarric, Sprecher des UN-Generalsekretärs António Guterres, Ende Juli: Kerem Shalom sei „kein McDonald’s drive through“, wo man einfach vorfahren und seine Bestellung abholen könne. Es gebe enorme bürokratische und sicherheitstechnische Hindernisse. Auch die internationale Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) berichtet aus Gaza von „täglichen Schwierigkeiten, Genehmigungen für die Einfuhr von Hilfsgütern zu erhalten“ (Stand: 1. Oktober 2025). 

Dem widerspricht die israelische Militärbehörde Cogat auf Anfrage und erklärt, dass Verzögerungen bei der Einfuhr von Hilfsgütern nur dann auftreten würden, wenn sich Organisationen weigerten, Sicherheitsanforderungen zu erfüllen. Diese seien notwendig, weil die Hamas laut Geheimdienstinformationen humanitäre Hilfe missbrauche. Belege für diese Geheimdienstinformationen oder Informationen dazu, welche Organisationen sich weigerten, die Anforderungen zu erfüllen, legte uns die Behörde nicht vor. 

Keine Belege, dass die Hamas systematisch Hilfsgüter der UN stiehlt 

Laut deutschen Sicherheitskreisen habe es im Juli Vorfälle gegeben, „bei denen 50 bis 100 Prozent der Hilfslieferungen in die Hände dreier Gruppen gefallen seien“. Darunter die Hamas, andere kriminelle Organisationen‘ und ‚bewaffnete Kräfte‘. Die Informationen stammen laut Recherchen des Spiegels vom Bundesnachrichtendienst. Dessen damaliger Präsident, Bruno Kahl, schränkte demnach ein: Es handle sich nur um Beobachtungen aus den letzten Julitagen. Das erlaube keine allgemeine Aussage über die Hilfslieferungen. 

Eine Analyse der inzwischen von der US-Regierung aufgelösten US-Entwicklungsbehörde USAID kam Ende Juli zu dem Schluss, dass es keine Belege dafür gibt, dass die Hamas im großen Stil Hilfslieferungen plündert. Dazu passen die Aussagen zweier hochrangiger israelischer Militärbeamter und zweier mit der Angelegenheit vertrauten Israelis gegenüber der New York Times. Die Operationen der UN seien recht verlässlich gewesen, auch weil sie ihre eigene Lieferkette verwalten und die Verteilung direkt innerhalb von Gaza durchführen würden. Die Hamas habe demnach einige der kleineren Hilfsorganisationen bestohlen, da diese Gruppen nicht immer vor Ort waren, um die Verteilung zu überwachen – Beweise, dass sie regelmäßig von den Vereinten Nationen gestohlen hätte, lägen dagegen nicht vor. 

Zugewiesene Straßen für Transport von Hilfslieferungen überfüllt mit hungernden Menschen

Neben der Abholung gibt es demnach auch beim Weitertransport in Gaza Hürden. Wie UN-Sprecher Laerke im August berichtete, seien die Straßen, die von Israel zugewiesen werden, unsicher, überfüllt mit hungernden Menschen oder beschädigt. Die internationale Hilfsorganisation WCK spricht davon, dass es keinen „gesicherten humanitären Korridor“ gebe und es „unmöglich“ sei, sich sicher auf den zugewiesenen Routen zu bewegen (Stand: 1. Oktober 2025). Von unsicheren und überfüllten Straßen zeugen mehrere Videoaufnahmen. Auf Anfrage widerspricht Cogat diesen Darstellungen nicht. 

Von den abgeholten UN-Hilfslieferungen erreichten laut UN-Angaben zwischen dem 19. Mai und dem 9. Oktober 2025 etwa 20 Prozent ihren eigentlichen Zielort. Rund 80 Prozent seien auf dem Weg „entweder friedlich von hungernden Menschen oder gewaltsam von bewaffneten Akteuren“ abgefangen worden.

Palästinenser halten sich an einem Lastwagen mit Hilfsgütern fest, der am 22. Juli 2025 aus dem nördlichen Gazastreifen nach Gaza-Stadt zurückkehrt (Foto: Jehad Alshrafi / AP Photo / Picture Alliance)
Palästinenser halten sich an einem Lastwagen mit Hilfsgütern fest, der am 22. Juli 2025 aus dem nördlichen Gazastreifen nach Gaza-Stadt zurückkehrt (Foto: Jehad Alshrafi / AP Photo / Picture Alliance)

UN-Sprecher Dujarric glaubte Ende Juli auch, dass es generell an der Bereitschaft mangele, die UN ihre Arbeit machen zu lassen. Mit der Ankündigung aus August, Hilfsgüter über den privaten Sektor wieder zu genehmigen, wollte Cogat zumindest „die Abhängigkeit von den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen“ verringern. Laut den von Cogat veröffentlichten Daten wurden seitdem regelmäßig Hilfslieferungen aus dem privaten Sektor geliefert. Zwischen dem 3. August und dem 9. Oktober 2025 überwog jedoch die Menge an humanitärer Hilfe, die die UN und andere internationale Organisationen lieferten. 

Waffenstillstandsabkommen bessert im Herbst die Versorgungslage in Gaza

Die verfügbaren Daten der UN und die von Hilfsorganisationen beschriebenen Hindernisse zeigen, dass Videos der israelischen Regierung sowie Social-Media-Beiträge von Influencern im Sommer ein verzerrtes Bild abgegeben haben. 

Inzwischen hat sich die Versorgungslage mit UN-Hilfsgütern in Gaza laut Ocha-Daten deutlich verbessert. Hintergrund ist das Waffenstillstandsabkommen, das am 10. Oktober 2025 in Kraft getreten ist. Demnach bleiben an den Grenzübergängen weniger als zehn Prozent der UN-Hilfslieferungen zurück. Die Lieferungen, die abgeholt werden, kommen zu etwa 99 Prozent an ihrem Zielort an (Datenstand: 10. Oktober bis 22. November 2025). 

Im August hatte die IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification), die Ernährungsunsicherheiten weltweit einstuft, eine Hungersnot für Teile Gazas ausgerufen. Eine neue Analyse gibt es bislang noch nicht. Laut Daten des Welternährungsprogramms (WFP) haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel verbessert. Sie liegen jedoch weiterhin über dem Niveau vor Kriegsbeginn. Umfragen von WFP zufolge haben zwei Drittel der Haushalte Schwierigkeiten zu Märkten zu kommen und etwa 40 Prozent sagten, sie könnten sich trotz Preissenkungen keine Grundnahrungsmittel leisten. Im November hatten Haushalte laut der Befragung durchschnittlich zwei Mahlzeiten pro Tag. Jeder vierte Haushalt hatte allerdings nur eine Mahlzeit. 

Redigatur: Paulina Thom, Sophie Timmermann 

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