Faktencheck

Nein, dieses Video zeigt keinen aktuellen „Atomunfall“ in Russland, sondern einen Vorfall von 2015

Im Netz kursiert ein Youtube-Video, das angeblich eine Explosion auf einem militärischen Testgelände in der Nähe von Njonoksa Anfang August 2019 zeigen soll. Das Video stammt tatsächlich aus Russland, ist aber von 2015. 

von Alice Echtermann

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Diese Aufnahmen zeigen nicht den Vorfall am 8. August 2019 bei Njonoksa, sondern stammen mindestens aus dem Jahr 2015. (Screenshot: CORRECTIV)
Bewertung
Falsch. Das Video zeigt keinen „aktuellen Atomunfall“ in Russland, sondern stammt mindestens von 2015.

Update (20. August 2019): Nach der Veröffentlichung dieses Faktenchecks wurde das Video von „Clixoom Science & Fiction“ auf Youtube auf „privat“ gestellt; es ist also nicht mehr öffentlich verfügbar. Focus Online veröffentlichte eine Korrektur in dem Artikel, in dem das Video zu sehen ist. Im Text haben wir außerdem einen Fehler korrigiert – die Region Rostow liegt nicht bei Moskau sondern im Süden Russlands.

Das Video auf Youtube trägt den Titel „Aktueller Atomunfall in Russland schlimmer als gedacht – Sind wir bedroht?“. Es hat bisher mehr als 272.500 Aufrufe und zeigt unter anderem mehrere kurze Aufnahmen einer großen Explosion auf einem Gelände mit mehreren militärischen Fahrzeugen. Es wurde vom Youtube-Kanal „Clixoom Science & Fiction“ am 14. August 2019 veröffentlicht. Der Kanal veröffentlicht nach eigenen Angaben Videos über „spannende Fakten, revolutionäre Forschungsergebnisse, Wissenschaftsnews und verblüffende Innovationen“. In der Beschreibung steht: „Wir machen hier Clickbait-Titel, damit sich auch seriöse wissenschaftliche Inhalte gegen Verschwörungstheorien durchsetzen können und auf hohe Klickzahlen kommen!“ 

Im Beschreibungstext zu dem Video heißt es: „Der Atomunfall in Njonoska (sic) am Weißen Meer in Russland scheint schlimmer als gedacht. Bilder des Unfalls zeigen eine heftige Explosion. Wie schon beim Supergau in Tschernobyl passieren seltsame Ding (sic) und die offiziellen Stellen versuchen Informationen zu vertuschen. Explodiert ist wohl der Flüssigtreibstoff des neuen Marschflugkörpers SSC-X-9 Skyfall.“ Kommentiert werden die Aufnahmen von einem Sprecher mit rotem Oberteil und Brille namens Christoph Krachten. Er berichtet ebenfalls: „Der Atomunfall in Njonoska (sic) am Weißen Meer in Russland letzte Woche scheint schlimmer als gedacht. Bilder zeigen jetzt eine heftige Explosion [..].“

Das Video von „Clixoom Science & Fiction“ wurde am 14. August 2019 auf Youtube veröffentlicht. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)

Es wird also behauptet, das Video zeige einen Unfall beim Test eines Raketensystems, der sich „letzte Woche“ in der Nähe des Dorfes Njonoksa (Region Archangelsk am Weißen Meer in Russland) ereignet habe.

Über diesen Vorfall berichteten bereits zahlreiche Medien in Deutschland, darunter die Tagesschau, das ZDF und Spiegel Online – allerdings hat keines bisher ein Video davon veröffentlicht. Die Explosion hat sich laut den übereinstimmenden Medienberichten am 8. August ereignet. Sie soll mit dem russischen Raketensystem „Skyfall“ zu tun haben und Radioaktivität freigesetzt haben. Das genaue Ausmaß sei unklar. Sieben Menschen seien durch den Vorfall gestorben. 

Focus Online zeigt das Video von „Clixoom Science & Fiction“ in einem am 16. August veröffentlichten Artikel. In der Überschrift heißt es: „Aufnahmen zeigen Explosion: Atomunfall in Russland schlimmer als gedacht“. So wird auch hier suggeriert, das Video sei aktuell und zeige den Unfall von Njonoksa. Über dem Text befindet sich der Hinweis: „Dieser Inhalt wird bereitgestellt von Clixoom.de. Er wird von der FOCUS-Online-Redaktion nicht geprüft oder bearbeitet.“ Nutzer können diesen Hinweis leicht übersehen. Der Link des Artikels beginnt mit „focus.de“ und gibt keine Hinweise auf nicht geprüfte, externe Inhalte. Unter dem Artikel wird auf das Impressum von Christoph Krachtens Agentur United Creators verlinkt, die hinter „Clixoom“ steht. 

Nach Recherchen von CORRECTIV zeigen die Aufnahmen jedoch nicht den verunglückten Raketentest. Das Video stammt demnach zwar aus Russland, ist aber mindestens von 2015. 

Auch russisches Medium behauptet, das Video zeige Njonoksa

Unsere Recherche zeigt, dass neben „Clixoom“ auch eine russische Nachrichtenagentur namens Analytical Network News Agency das Video vor kurzem veröffentlicht hat. Es wurde am 8. August auf ihrem Youtube-Kanal hochgeladen und ist etwa eine Minute lang. Im Text heißt es, es zeige die Explosion bei Njonoksa (mit Google Translate übersetzt): „Zwei Menschen kamen ums Leben, vier weitere wurden infolge der Explosion eines Raketentriebwerks mit flüssigem Treibstoff bei Tests auf einem militärischen Testgelände im Gebiet von Nenoks, Region Archangelsk, unterschiedlich schwer verletzt.“ 

Der Name des Ortes lautet auf Russisch „Ненокса“ – er wird vor allem in englischsprachigen Medien wie der New York Times auch mit „Nenoksa“ übersetzt. 

Das Video der „Analytical Network News Agency“ vom 8. August 2019. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)

Die Aufnahmen sind von 2015, sie zeigen das Militärgelände „Kuzminsky“

Das Video zeigt jedoch nicht den aktuellen Vorfall in Njonoksa. Auf Twitter wurden teilweise Standbilder des Videos verbreitet; unter einem Tweet weisen Nutzer darauf hin, dass das Video von 2015 stamme. 

Tweet-Verlauf zu dem Video. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)

Tatsächlich findet sich ein Youtube-Video vom 16. August 2015, das identische Aufnahmen wie „Clixoom Science & Fiction“ zeigt, mit dem Titel: „Explosionen auf dem Kuzminsky-Übungsplatz am 18. April“. 

Es ist wesentlich länger als das Video von Analytical Network News Agency – fast 20 Minuten. Blickwinkel und die Landschaftsmerkmale stimmen überein, von einem braunen Sandhaufen und Aufstellern im Vordergrund bis hin zu zwei wehenden Flaggen weiter hinten. Etwa ab Minute 3:45 ist zum Beispiel die Szene zu sehen, mit der das Youtube-Video von „Clixoom Science & Fiction“ beginnt. 

Die Szene bei „Clixoom Science & Fiction“ – hölzerne Aufsteller im Vordergrund, ein Sandhaufen links. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)
Die Szene aus dem Video von 2015 – mit Sandhaufen und Aufstellern und den zwei Fahnenmasten mittig vor der Rauchsäule im Hintergrund. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)

Auch von einem weiter entfernten Blick stimmen die Videos der Rauchsäule überein. 

Eine weitere Szene aus dem Video von „Clixoom Science & Fiction“. (Screenshot am 19. August: CORRECTIV)
Das Video von 2015. (Screenshot: CORRECTIV)

Mehrere russische Medien berichteten zudem, dass es im April 2015 Explosionen auf dem Übungsgelände Kuzminsky gegeben habe. Ob diese am 18. April 2015 stattfanden, wie die Überschrift des Videos auf Youtube behauptet, ist unklar. In den Medienberichten ist vom 28. April die Rede.

Die Nachrichtenagentur Ria Novosti schrieb beispielsweise am 28. April 2015 (mit Google Translate übersetzt): „Feuer auf dem Truppenübungsplatz in Kusminsk gelöscht – Während der Übungen auf dem Kuzminsky-Übungsplatz wurde die Munition einer selbstfahrenden Artillerie-Installation gesprengt, woraufhin ein Feuer ausbrach, das Dutzende von Fahrzeugen überrollte.“

Eine Nachrichtenseite namens Gazeta veröffentlichte am 28. April 2015 ebenfalls einen Bericht, in dem es heißt: „In der Region Rostow ereignete sich gegen acht Uhr morgens auf dem Kuzminsky-Übungsplatz eine Munitionsexplosion und ein Feuer. Nach Angaben des Militärs explodierte eine selbstfahrende Artillerie-Bombe, dann breitete sich das Feuer auf die Autos aus.“ Die Region Rostow liegt im Süden Russlands und somit nicht in der Nähe von Njonoksa. 

Die Meldung auf der Webseite der Nachrichtenagentur Ria Novosti vom 28. April 2015 – automatisch übersetzt mit Google Translate. (Screenshot: CORRECTIV)

Ob das Youtube-Video von 2015 wirklich einen Vorfall auf dem Übungsplatz Kuzminsky zeigt, konnten wir nicht belegen. Fest steht jedoch, dass die Aufnahmen nicht von 2019 stammen.