Menschen im Fadenkreuz

Ayse Yozgat: »Für mich ist jeder Tag 6. April«

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Interview: Matthias Lohr und Florian Hagemann

Am 6. April 2006 kommt Ismail Yozgat wenige Minuten zu spät, um seinen Sohn noch einmal lebend zu sehen. Der Deutschtürke aus Kassel wollte Halit in dessen Internetcafé in der Holländischen Straße ablösen, damit der es noch rechtzeitig in die Abendschule schafft. Doch Ismail Yozgat, der einen Tag später Geburtstag hat, braucht etwas länger. Mit seiner Frau wollte er in der Stadt einen Werkzeugkasten kaufen. Als er in der Holländischen Straße 82 eintrifft, sieht er seinen blutenden Sohn auf dem Boden liegen, erschossen von den Rechtsterroristen des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).

Der 21-Jährige ist das neunte Opfer von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. 

Seine Eltern kämpfen immer noch dafür, dass der Mord lückenlos aufgeklärt wird – „damit in Deutschland alle Menschen in Frieden leben können“, wie sie sagen. Ein Gespräch mit Ismail und Ayse Yozgat.

Herr Yozgat, es ist ein trauriger Anlass, weswegen wir uns treffen. Trotzdem erst einmal herzlichen Glückwunsch. Sie sind am Mittwoch 66 Jahre alt geworden.

Ismail Yozgat: Vielen Dank.

Nach dem Mord an Ihrem Sohn haben Sie gesagt, dass Sie Ihren Geburtstag nie mehr feiern wollen. Haben Sie auch am Mittwoch nicht gefeiert?

Ismail Yozgat: Zum ersten Mal haben wir doch wieder ein bisschen gefeiert.

Ayse Yozgat: In den vergangenen Jahren haben wir tatsächlich nie gefeiert. Aber nach 15 Jahren war es diesmal etwas anders, weil sich unsere sieben Enkelkinder das gewünscht haben. Sie haben gesagt: „Opa, wir wollen ein bisschen feiern.“

Ihr Sohn ist einen Tag vor Ihrem 51. Geburtstag erschossen worden. Am Dienstag fand hier auf dem Halitplatz noch eine Gedenkveranstaltung statt. Wie geht es Ihnen in diesen Tagen?

Ismail Yozgat: Das sind ganz besonders schmerzhafte Tage.

Ayse Yozgat: Für mich ist jeder Tag 6. April. Ich denke jeden Tag an unseren Sohn. Wenn ich etwas esse, denke ich: Das hat ihm auch geschmeckt. Seine Abwesenheit spüre ich jeden Tag. Es macht keinen Unterschied, ob es der 6. April ist oder ein anderer Tag.

Ismail Yozgat: Halit wäre jetzt 36 Jahre alt. Wenn ich draußen Männer sehe, die ungefähr in seinem Alter sind, dann denke ich an Halit und was wohl aus ihm geworden wäre. Viele seiner Freunde von damals heiraten jetzt. Wir sind dann auch eingeladen, aber wir gehen nicht auf die Feiern, weil wir dann immer an Halit denken und uns sagen: Er würde jetzt auch heiraten, wenn er noch am Leben wäre. Ich weiß bis heute nicht, warum uns die Leute das angetan haben.

Wie wichtig ist so eine Gedenkfeier wie jene am Dienstag am Halitplatz für Sie?

Ismail Yozgat: Das ist sehr wichtig. Wir möchten uns von Herzen bei der Stadt Kassel, Oberbürgermeister Christian Geselle, der Presse und den Menschen, die uns nicht alleine lassen, herzlich bedanken. Bei solchen Gedenktagen kommen viele Menschen. Das unterstützt uns und zeigt, dass wir mit unserem Schmerz nicht allein sind. Wir wünschen uns von Herzen, dass keine Familie solch etwas Schmerzhaftes erleben muss.

Ayse Yozgat: Wir werden immer als Ausländer betrachtet, aber unser Sohn war deutscher Staatsangehöriger. Wir leben seit vielen Jahren hier, und wir fühlen uns heimisch. Deshalb verstehe ich nicht, dass wir immer als Ausländer angesehen werden. Seit 42 Jahren sind wir hier.

Bekommen Sie auch Hass zu spüren?

Ismail Yozgat: Nein, wir fühlen uns wohl hier. Kassel ist unsere zweite Heimat geworden. Und für unsere Kinder ist es die erste Heimat.

Haben Sie jemals daran gedacht, wieder zurück in die Türkei zu gehen?

Ismail Yozgat: Nein, unsere Kinder, unsere Enkel leben hier. Und wir haben länger in Deutschland gelebt als in der Türkei.

Sie haben im Münchner NSU-Prozess ausgesagt, Sie waren im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags. Es gibt immer noch offene Fragen, die womöglich im Untersuchungsausschuss rund um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zur Sprache kommen. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Sie irgendwann die ganze Wahrheit erfahren werden?

Ismail Yozgat: Die Wahrheit ist hier vor Ort. Und es muss hier vor Ort festgestellt werden, was genau geschehen ist. Bisher hat die Aufarbeitung nur sehr oberflächlich stattgefunden. Damit sind wir nicht zufrieden. Das betrifft vor allem die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme. Er war Stammgast im Internetcafé meines Sohnes. Wir würden uns wünschen, dass ein Richter, Herr Temme und wir am Tatort zu einer Rekonstruktion zusammenkommen und dass eine Untersuchung an Ort und Stelle stattfindet. Danach kann der Richter entscheiden, was die Wahrheit ist. Die Aussagen, die Herr Temme vor Gericht gemacht hat, haben unserer Meinung nach nichts mit der Wahrheit zu tun. Wir sind nach wie vor erstaunt, dass das Gericht hier so oberflächlich vorgegangen ist.

Haben Sie jemals mit Herrn Temme selbst gesprochen?

Ismail Yozgat: Nein, ich habe ihn bisher nur gesehen, nicht gesprochen.

Es gab in alle den Jahren zahlreiche Ermittlungspannen. Vertrauen Sie den deutschen Behörden noch?

Ismail Yozgat: Was das Gericht in München und den NSU-Prozess anbelangt, habe ich das Vertrauen verloren. Aber ich vertraue den Behörden hier in Kassel, etwa der Polizei.

Ayse Yozgat: Unmittelbar nach dem Mord hat uns die Polizei sehr harte Fragen gestellt. Wir waren sehr traurig darüber, obwohl wir versucht haben, die Wahrheit zu sagen. Die Beamten haben immer versucht, einen Hintergrund zu konstruieren, den es nicht gab. Wir haben uns sechs Jahre nicht auf die Straße getraut, weil die Menschen dachten, unser Sohn habe etwas mit der Mafia zu tun oder mit Drogengeschäften. Wir wollten nicht mit diesen Fragen konfrontiert werden. Sechs Jahre waren wir fast nur zu Hause. Erst als die Wahrheit ans Licht kam, hat der Druck nachgelassen. Mir tut es sehr weh, dass die Gerichtsmappe jetzt geschlossen ist. Der Rechtsradikalismus ist nicht nur für Migranten bedrohlich, sondern auch für Deutsche. Deshalb verlangen wir, dass alles lückenlos aufgeklärt wird, damit in Deutschland alle Menschen in Frieden leben können.

Frau Yozgat, im NSU-Prozess haben Sie zu Beate Zschäpe gesagt: „Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett legen. Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann.“ Hat sie sich je bei Ihnen gemeldet?

Ayse Yozgat: Nein, ich habe ihr auch gesagt: „Ich verzeihe dir alles.“ Danach hat sie ihre Anwälte gewechselt. Sie hat sich nie gemeldet.

Wir stehen hier am Halitplatz, Sie haben immer wieder gefordert, die Holländische Straße, die hier vorbeiführt, nach Ihrem Sohn zu benennen. Besteht diese Forderung noch?

Ismail Yozgat: Solange ich lebe, werde ich diese Forderung aufrechterhalten. Ich weiß nicht, ob ich es noch erleben werde. Aber man soll immer an das Unmögliche glauben.

Ayse und Ismail Yozgat leben in Kassel. Sie stammen aus der türkischen Provinz Yozgat in Zentralanatolien. Vor 42 Jahren zogen sie nach Deutschland, wo Ismail Yozgat im Baunataler VW-Werk arbeitete. Neben ihrem Sohn Halit, der nur 21 Jahre alt wurde, hat das Paar vier Töchter und sieben Enkelkinder. Wir sprachen mit ihnen zwei Tage nach dem 6. April 2021, an dem sich Halit Yozgats Tod zum 15. Mal jährte.