Menschen im Fadenkreuz

Die Zentrale der Rechten. Auf den Spuren des Lübcke-Mörders Stephan Ernst – die Kneipe »Stadt Stockholm«

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von Matthias Lohr

Nach dem Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke lauteten einige Schlagzeilen: „Kassel ist eine Neonazi-Hochburg.“ Für den Experten Christopher Vogel ist das eine populistische These. „Es gibt in der Stadt nur wenige Orte, an denen sich Rechtsextreme offen zeigen können, ohne auf Widerspruch zu treffen“, sagt der  Sozialpädagoge, der beim Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus arbeitet.

Kassel ist nicht Dortmund, wo es mit Dorstfeld ein ganzes Viertel gibt, das die Nazis als ihren Kiez proklamieren. Man findet hier auch keine No-go-Areas wie in Ostdeutschland, wo man mit dunkler Hautfarbe oder bunten Haaren lieber nicht allein unterwegs sein sollte. Trotzdem existieren auch in Kassel Orte, an denen Rechtsextremisten zu Hause sind – oder früher mal waren. 

Einer dieser Orte befindet sich am Rand der Innenstadt. Die Kneipe „Stadt Stockholm“ verdankt ihren Namen dem schwedischen König, der hier im 18. Jahrhundert übernachtet haben soll. Später ging hier nicht nur der Lübcke-Mörder Stephan Ernst ein und aus.

„Das war eine ganz schlimme Zeit“, erinnert sich die Betreiberin Claudia Hauck. Ihr Mann hatte die Kneipe Anfang der 80er Jahre übernommen. Damals trafen sich vor allem Fußballfans des KSV Hessen Kassel hier, dann kamen die Hooligans und später die Neonazis.

Deutschlandweit bekannt wurde die „Stadt Stockholm“ nach dem Lübcke-Mord, als ein Foto die Runde machte. Es zeigt Ernst und ein Dutzend andere Rechtsextreme vor der Kneipe, wo sie sich am 30. August 2002 für eine Auseinandersetzung mit linken Gegendemonstranten wappnen. Anlass war eine Wahlkampfveranstaltung der NPD. Ernst hält einen Stuhl als Wurfgeschoss in der Hand, die anderen Stöcke oder Steine.

Claudia Hauck kann sich noch gut an eine Begebenheit aus dem April 2006 erinnern. Damals soll der Kasseler Neonazi Bernd T., Anführer der mittlerweile verbotenen Kameradschaft „Sturm 18“, mit NSU-Mitglied Beate Zschäpe und weiteren Rechtsradikalen in ihre Kneipe gekommen sein. Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem nur zwei Kilometer entfernten Internetcafé durch den NSU erschossen.

Später rief Hauck regelmäßig die Polizei, um die Nazis aus ihrer Kneipe zu bekommen. Angst vor ihnen hat sie heute nicht: „Wenn sich einer von denen blicken lässt, greife ich zum Telefonhörer.“

Die „Stadt Stockholm“ war nicht der einzige Treffpunkt der Kasseler Rechten. In einem Nebenraum der Kneipe „Goldener Anker“ besuchte Stephan Ernst in den Nullerjahren den Stammtisch der NPD. Die Gaststätte gibt es nicht mehr. Dort bietet ein Restaurant nun türkische und mediterrane Spezialitäten an.