Menschen im Fadenkreuz

Erschreckende Ungewissheiten: Was rechter Terror erreichen will

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von Sebastian Leber

Die Gruppe, die sich „Revolution Chemnitz“ nannte, plante eine neue Dimension des Terrors. Gegen sie sollte der Nationalsozialistische Untergrund wirken wie eine „Kindergartenvorschulgruppe“, hoffte der Rädelsführer. Gezielt sollten Menschen getötet werden. Mit dabei war zum Beispiel Tom W., ein bekannter Neonazi-Schläger, der mit anderen „Heil Hitler“ und „White Power“ brüllend und alkoholisiert nachts durch die Straßen zog. Oder Christian K., der blutige Angriffe am Tag der Deutschen Einheit plante. Sechs Anschläge auf sechs Moscheen, dazu Morde an Politikern und Asylsuchenden. Die Taten sollten im Herbst 2018 einen Systemwechsel erzwingen.

Ermittler nahmen alle Verdächtigen fest, bevor diese losschlagen konnten. Die acht Mitglieder der Revolution Chemnitz wurden zu Haftstrafen zwischen zwei Jahren und drei Monaten und fünfeinhalb Jahren verurteilt.

Ein ähnlicher Prozess begann im April 2021 in Stuttgart vor dem Oberlandesgericht gegen den Rechtsterroristen „Teutonico“ und die übrigen Mitglieder der sogenannten „Gruppe S.“. Laut Anklage wollte Teutonico eine „Untergrundarmee“ aufbauen und hatte dafür neben Schusswaffen auch diverse Schwerter gehortet. Das mag verschroben klingen, folgt aber der gleichen Logik wie das Vorgehen von Revolution Chemnitz.

Rechter Terror soll den konkreten Adressaten schaden, sie am besten vernichten. Er soll weitere politische Gegner einschüchtern. Ihnen bedeuten, sie könnten die nächsten Opfer sein. 

Rechter Terror soll ein Signal in die eigene Szene sein. Im Erfolgsfall soll eine Tat Blaupause sein für künftige Straftaten Gleichgesinnter. Die Männer der „Gruppe S.“ träumten etwa davon, durch ihre Anschläge Hunderte, wenn nicht Tausende Rechtsextreme zu ähnlichen Aktionen zu inspirieren. 

Und schließlich soll rechter Terror Racheakte durch Migranten provozieren, was dann wiederum die Mehrheitsgesellschaft aufstacheln soll. Auf diese Weise hoffen die Terroristen einen Bürgerkrieg oder zumindest ein so großes Chaos auszulösen, dass letztlich der „Tag X“ ermöglicht wird – der Moment des gewaltsamen Umsturzes, an dem die verhasste Demokratie abgeschafft wird. 

Je mehr Angriffe es von Vereinigungen wie der Revolution Chemnitz oder der Gruppe S. gibt, umso besser aus Sicht der Terroristen.   

Den Sicherheitsbehörden sind aktuell rund 13.000 gewaltorientierte Rechtsextremisten bekannt. Rund 480 Rechtsextremisten leben im Untergrund. Das heißt, sie werden mit Haftbefehl gesucht, bislang vergeblich. Viele von ihnen sind verschwunden, weil sie wegen einer Straftat vor Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, dann aber die Zeit bis zum vorgesehenen Haftantritt nutzten, um unterzutauchen. Wie viele von ihnen politisch, vielleicht sogar terroristisch aktiv sind, bleibt unklar. Sicher ist allerdings: Die Zahl der untergetauchten Rechtsextremisten hat sich in den vergangenen sieben Jahren verdoppelt.

Die meisten von ihnen dürften bewaffnet sein. In Deutschland befinden sich inzwischen mehr als 10.000 Schusswaffen im Umlauf, die entweder als gestohlen oder als verloren gemeldet wurden. Viele weitere wurden und werden unbemerkt aus dem Ausland eingeführt. Im Dezember 2020 stellten österreichische Ermittler Kriegswaffen sicher, die für deutsche Neonazis bestimmt waren. Darunter mehr als 70 halb- oder vollautomatische Waffen, Kalaschnikows und Uzis, aber auch Sprengstoff. Der Hauptverdächtige gab zu, man habe eine Miliz aufbauen wollen.

Um das Ausmaß der Bedrohung zu begreifen, muss man auch jene im Blick haben, die den Terror mittelbar ermöglichen oder fördern. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat dazu ein anschauliches Modell entwickelt, er nennt es „konzentrisches Eskalationskontinuum“. Das Modell sieht aus wie der Querschnitt einer Zwiebel. In dessen Kern finden sich die tatsächlichen Vernichtungstaten durch einzelne Täter oder Gruppen, in den Schalen drum herum die Milieus, die diesen Verbrechen erst ihre Legitimation verleihen: die rechtsextremen Systemfeinde, die Rassisten und Antidemokraten, die Nationalradikalen der AfD. Heitmeyer sagt: Jene, die öffentlich von „Umvolkung“, „großem Austausch“ oder „Untergang des deutschen Volkes“ schwadronieren, tragen letztlich Verantwortung dafür, dass Gewalttäter sich als Opfer und im Widerstandsrecht wähnen. Das gesamte rechte Spektrum sei „in die Offensive gegangen“ – erhöhte Terrorfähigkeit die Konsequenz. „Ich fürchte, dass Teile der Politik immer noch nicht begriffen haben, wie gefährlich die Situation inzwischen ist“, warnt der Soziologe.

Hinzu kommt ein weiterer erschreckender Gedanke. 13 Jahre lang konnte der NSU ungestört operieren, ehe er sich selbst enttarnte. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass seitdem eine Terrorgruppe weiter unerkannt mordet? Wir wissen schließlich, dass sich viele Gruppen den NSU zum Vorbild nahmen.

Ist es nicht wahrscheinlich, dass neue, noch geschicktere Täter aktiv wurden – vor dem Hintergrund eines massiven Rechtsrucks, angesichts von Pegida, von Hetzjagden in Chemnitz, von Hassorgien auf Telegram und den Anschlägen von Halle und Hanau? Kurz: Ist der NSU tatsächlich beispiellos oder ist es lediglich sein Auffliegen?

Diese Fragen drängen sich auf. 

Gleichzeitig befeuern sie ungewollt das, was der Terror erreichen möchte. Weil bereits die Möglichkeit einer operierenden Terrorzelle Schrecken verbreitet.