Menschen im Fadenkreuz

Unzureichende Aufklärung der NSU-Morde: Das Desaster der offenen DNA-Spuren

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von Sebastian Leber

Es beginnt mit einer Flasche Erdbeermilch. Sichergestellt im Kühlschrank des Wohnmobils, in dem Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt starben. 400 Milliliter, aus Plastik, Marke „Müllermilch“. An ihrer Außenseite findet das Labor eine DNA-Spur, die bis heute keiner Person zugeordnet werden kann. In den Ermittlungsakten bekommt die unbekannte Person ein prägnantes Kürzel: „P12“.

Sicher ist, dass es sich bei der Person, die diese Plastikflasche anfasste und dabei ihren genetischen Abdruck hinterließ, weder um einen Mitarbeiter des Getränkeherstellers noch um den Kassierer im Supermarkt handelte. Denn „P12“ wird noch eine Reihe weiterer DNA-Spuren zugerechnet. Diese finden sich in den Überresten der ausgebrannten Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße, der letzten Bleibe des vermeintlichen NSU-Kerntrios vor dessen Selbstenttarnung. Die Spuren haften unter anderem an einem Rucksack und einer handbeschrifteten Diskette.

Das Rätsel um die Identität von „P12“ gilt als anschauliches Beispiel für die Vielzahl offener Fragen zu Unterstützern, Mitwissern und möglichen Mittätern, denen im NSU-Komplex nicht zufriedenstellend nachgegangen wurde. Die frühe Festlegung auf die These eines isoliert handelnden Trios hat aus Sicht zahlreicher Prozessbeobachter dazu geführt, dass wichtige und naheliegende Ermittlungsschritte unterblieben. Und es gibt dafür eindrückliche Belege.

An den verschiedenen Tatorten des NSU wurden insgesamt 24 Haarspuren gefunden. Im Labor untersuchten die Techniker jeweils nur, ob diese Haare von Mundlos, Böhnhardt oder Zschäpe stammten, was in sämtlichen Fällen ausgeschlossen werden konnte. Weitere Abgleiche fanden nicht statt. Als dieser Umstand 2016 im zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestags zur Sprache kam, wunderte sich der Vorsitzende, CDU-Innenexperte Clemens Binninger, und hielt der geladenen Oberstaatsanwältin vor: „Wenn Sie immer nur selektiv auf das Trio schauen, werden Sie natürlich nie auf weitere Personen kommen oder auch andere Mittäter.“

Insgesamt stellten die Ermittler im NSU-Komplex mehr als 40 DNA-Muster sicher, die bislang niemandem zugeordnet werden konnten. Was auch daran liegen mag, dass von etlichen Menschen im engeren Umfeld des Trios zu keinem Zeitpunkt DNA-Proben genommen wurden – auch nicht von solchen mit offen rechtsradikaler Haltung. 

Grund hierfür ist, dass viele Weggefährten der drei Terroristen nicht als Beschuldigte, sondern lediglich als Zeugen vernommen wurden. Auch diese Entscheidung wurde im Untersuchungsausschuss des Bundestags hinterfragt. Die zuständige Oberstaatsanwältin erklärte, man könne Zeugen eben rechtlich nicht zwingen, derartige Proben abzugeben. Auf den Einwand des Vorsitzenden, ob man die Zeugen nicht wenigstens um eine eigenverantwortliche Abgabe hätte bitten können, erwiderte sie, auch dies wäre illegal. Für eine konkrete Frage wie „Sind Sie mit einer freiwilligen DNA-Abgabe einverstanden?“ fehle schlicht die Rechtsgrundlage. Nicht einmal von dem Mitglied des „Thüringer Heimatschutzes“, das nachweislich engen Kontakt zu dem Trio hatte, besitze man eine Probe. Der CDU-Mann Clemens Binninger reagierte fassungslos. Er antwortete: „Dann frage ich mich allerdings schon, wie man überhaupt jemals einen Unterstützenden oder Nichtunterstützenden nachweisen will.“

Dass sich die Ermittler derart auf Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe fokussierten, irritiert rückblickend noch stärker, bedenkt man, dass von keinem der drei Terroristen jemals Fingerabdrücke oder DNA-Material an einer der Mordwaffen gefunden wurde. Oder irgendwo an einem der insgesamt 27 Tatorte. Dafür aber viele andere.

Zu den bis heute offenen DNA-Spuren, die auf einen größeren Täterkreis hindeuten, zählen auch jene aus Heilbronn. Dort verübte der NSU im April 2007 seinen mutmaßlich letzten Mord. Nachdem die Polizistin Michèle Kiesewetter in ihrem Streifenwagen durch einen Kopfschuss ermordet und ihr Kollege durch eine Kugel lebensgefährlich verletzt wurde, zerrten die Täter die Beamten aus dem Wagen, entwendeten ihre Dienstwaffen und Handschellen, es kam mehrfach nachweislich zu Körperkontakt. Später fanden Techniker an Brust und Rücken des verletzten Polizisten mehrere DNA-Spuren. Weil rund 100 Kollegen, Familienangehörige und Rettungssanitäter freiwillig Proben abgaben, können sie als Verursacher ausgeschlossen werden. Dennoch wertet die Staatsanwaltschaft die fremde DNA nicht als Täterspur. Eine ungeklärte DNA-Spur sei schließlich nicht automatisch ein Anhaltspunkt für weitere Unterstützer oder Mittäter, heißt es.

Clemens Binninger, der CDU-Abgeordnete und Vorsitzende des Untersuchungsausschusses im Bundestag, sieht das anders. Durch die Konzentration auf Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe sei möglicherweise eine ganze Reihe von Personen aus dem Ermittlungsfokus geraten, von denen belegt sei, dass sie das Trio kannten, mit ihm in Kontakt standen, teilweise über lange Zeit hinweg. Es sei fatal, nicht einmal ihre DNA abgleichen zu können. Wörtlich sagte Binninger: „Dann wissen wir ja nie, ob von denen irgendwo einer auch mal eine Spur hinterlassen hat, oder?“

Die unbekannte Person „P12“, deren Spur sich 2011 an der Flasche Erdbeermilch im Kühlschrank des Wohnwagens und an mehreren Gegenständen in der Zwickauer Wohnung fand, hat wahrscheinlich noch einen weiteren DNA-Abdruck hinterlassen. Dieses Mal im Norden Berlins, im Juli 2012, sieben Monate nach der Selbstenttarnung des NSU, bei einem Verbrechen in einem vermeintlich völlig anderen Kontext. An einem späten Mittwoch wurden zwei Mitglieder des Rockerklubs Bandidos vor ihrem Vereinsheim niedergeschossen. Acht Kugeln trafen die Männer in Beine und Oberkörper. Sie überlebten. Am Tatort wurde später eine Patronenhülse mit einer DNA-Übereinstimmung zu „P12“ gefunden.

Zum Zeitpunkt des Anschlags waren die Bandidos in eine deutschlandweite, blutige Fehde mit den rivalisierenden Hells Angels verwickelt. Im Kampf um Anteile im Drogen- und Waffenhandel sowie im Geschäft mit der Prostitution waren Mitglieder und Unterstützer beider Gruppen wiederholt aufeinander losgegangen, gerade im Großraum Berlin. Im Laufe des Konflikts hatte es bereits Tote gegeben. Daher stuften Ermittler die Schüsse vor dem Vereinsheim der Bandidos als Racheakt der Hells Angels ein. Schoss „P12“ also im Auftrag der Höllenengel – gehörte er gar selbst dem Klub an?

Die Polizei glaubt nicht daran. Eine einzelne DNA-Spur sei wenig aussagekräftig. Außerdem hätten die bisherigen Nachforschungen „keine Anhaltspunkte für strafrechtlich relevante Verbindungen“ zwischen den Terroristen und dem Rockermilieu ergeben.

Diese Argumentation ist fragwürdig. Deutschlandweit existieren enge und vielfältige Verflechtungen von militanten Rechtsextremen in Rockerkreise. Im sächsischen Freital waren diverse Neonazis beim inzwischen verbotenen regionalen Ableger des „Gremium MC“ Mitglied, darunter Sascha N., der Gitarrist der Neonazibands „Stahlwerk“ und „Sachsenblut“. In N.s Wohnung fanden Ermittler erst dieses Jahr NS-Devotionalien und ein Luftgewehr. Ein Rocker aus dem Umfeld der Bandidos saß bereits für die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, in Schleswig-Holstein befand sich eine ganze Ortsgruppe der Bandidos in den Händen von Faschisten. Das Bundeskriminalamt geht von mehr als 500 Menschen aus, die in Deutschland gleichzeitig in der extremen Rechten und im Rockermilieu verkehren. Schon 2008 bestätigte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag, es ließen sich gelegentlich „Hinweise auf gemeinsame Aktivitäten und Treffpunkte sowie einzelfallbezogene Kooperationen von Rechtsextremisten und Rockern feststellen“.

Dokumentiert sind auch Kontakte der bekannten NSU-Mitglieder zu den Hells Angels. Die Ermittlungsakten enthalten zahlreiche Hinweise. In Paderborn soll Uwe Mundlos mehrfach eine Kneipe besucht haben, in der Hells Angels verkehrten. In Kiel soll das Trio am Rande einer Geburtstagsfeier eine Sporttasche in Empfang genommen haben, in denen sich Schusswaffen eines Höllenengels befanden. Der verurteilte NSU-Unterstützer Holger G. wurde auf dem Gelände der Hells Angels Hannover gesehen, Ralf Wohlleben pflegte ebenfalls Kontakte ins Rockermilieu. Auf dem Handy von André Eminger entdeckten Ermittler die PowerPoint-Präsentation eines polizeiinternen Vortrags über Rockerkriminalität. Und auch Andreas Temme, der Verfassungsschutzmitarbeiter, der beim Kasseler NSU-Mord am Tatort anwesend war, jedoch von den Schüssen nichts mitbekommen haben will, pflegte privat Kontakte zu mehreren Hells Angels, unter anderem zum Präsidenten des lokalen Ablegers.

Es gibt viele weitere Unstimmigkeiten, die gegen die Erzählung der Staatsanwaltschaft vom NSU als dreiköpfiger Terrorzelle mit kleinem Unterstützerkreis sprechen. Der Polizist, der 2007 den Mordanschlag des NSU in Heilbronn schwer verletzt überlebte, konnte Angaben zum Aussehen eines Täters machen. Auf dieser Grundlage wurde ein Phantombild erstellt. Es hat überhaupt keine Ähnlichkeiten mit Mundlos oder Böhnhardt. Mehrere Zeugen wollen in Tatortnähe zudem drei blutverschmierte Männer gesehen haben. Und laut Tatrekonstruktion müssen zwei Schützen Rechtshänder gewesen sein. Böhnhardt jedoch war Linkshänder. Ähnliche Widersprüche gibt es an anderen Tatorten.

Die Fokussierung auf Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe mag zwar hilfreich für die Prozessdurchführung gewesen sein. Sie genügt aber nur demjenigen, der bereit ist, über reihenweise Spuren systematisch hinwegzusehen. Im Untersuchungsausschuss erklärte die zuständige Oberstaatsanwältin wörtlich: „Wir müssen natürlich auch mit offenen Spuren leben.“ Ihm wäre lieber, erwiderte der Ausschussvorsitzende, wenn „Sie mit den offenen Spuren nicht leben würden, sondern wenn Sie ermitteln würden, was geht“.

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