Menschen im Fadenkreuz

Verschwörungserzählungen – wer an sie glaubt, wie sie sich verbreiten und welche Folgen sie haben

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von Alexander Roth

Am 16. Januar 2019 hielt Markus H. in Stuttgart einen Vortrag. Wie viele Menschen, die Vorträge halten, erstellte er dafür im Vorfeld eine Präsentation, die er anschließend auf einer von ihm verwalteten Website zum Download anbot.

In den Kommentaren auf dieser Webseite bezeichnen Menschen, die diesen Vortrag offenbar gehört haben, ihn als „gelungen“, „informativ“, „hochinteressant“, ein richtiges „Highlight“. Man ist dankbar für die Themenauswahl, die Sachkenntnis, die „Denkanstöße“.

Lädt man sich die Präsentation herunter, findet man auf mehreren Hundert Seiten wirr formatierter Folien „Thesen“ wie diese:

  • Bundeskanzlerin Angela Merkel soll „mit Hilfe künstlicher Befruchtung und sowjetischer Unterstützung 1954 durch tiefgefrorenes Sperma Adolf Hitlers“ gezeugt worden sein.
  • Die Menschheit werde von Aliens, Reptiloiden, Klonen und anderen Wesen beherrscht.
  • Wir befinden uns angeblich „inmitten der Endphase des Genozids und Ethnozids an den deutschen Völkern und der weißen Rasse“.

Verschwörungserzählungen. Unzählige, sich teils widersprechende, scheinbar wahllos aneinandergereihte Verschwörungserzählungen. Es lässt sich wohl kaum eine Verschwörungserzählung finden, die Markus H. nicht über die Jahre auf seiner Webseite oder in seinen Vorträgen thematisiert hätte.

Was verbindet diese Erzählungen? Wie verbreiten sie sich? Wer glaubt tatsächlich daran? Und welche Folgen kann das haben?

Die globale „Infodemie“: Was ist eine Verschwörungserzählung?

Das Phänomen der Verschwörungserzählung ist nicht neu. Manche Wissenschaftler sind sogar der Meinung, Verschwörungserzählungen habe es zu allen Zeiten gegeben. Der deutsche Historiker Dieter Groh sprach von ihnen als „anthropologischer Konstante“.

Doch selten haben sich so viele Verschwörungserzählungen so schnell und öffentlichkeitswirksam verbreitet, wie während der Coronapandemie. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus warnte in diesem Zusammenhang schon im Februar 2020 vor einer globalen „Infodemie“.

Als das Coronavirus Deutschland erreichte, verbreiteten sich schnell Verschwörungserzählungen über die angebliche Herkunft des neuartigen Virus, angebliche Machtstrukturen „hinter Corona“ und die teuflischen Pläne, die damit angeblich verfolgt werden.

Im Rahmen einer Befragung, die von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld im März 2020 durchgeführt wurde, stimmten 24 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Medien und Politik bestimmte Informationen zur Coronakrise gezielt verschweigen würden. Acht Prozent waren der Meinung, es gebe geheime Organisationen, die während der Krise großen Einfluss auf politische Entscheidungen hätten.

Aber was genau ist eigentlich eine Verschwörungserzählung?

Die Psychologin Pia Lamberty und die Publizistin Katharina Nocun definieren Verschwörungserzählungen in ihrem Buch „Fake Facts“ als „eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunklen lassen“. 

 „Als Psychologin würde ich sagen, dass der Verschwörungsglaube eine Vorurteilsstruktur gegen all jene ist, die als mächtig markiert werden“, sagt Pia Lamberty, die an der Universität Mainz zu Verschwörungsglauben forscht, im persönlichen Gespräch. Es gelte nicht die objektive Macht einer Person oder Gruppe, sondern wie diese Macht wahrgenommen werde.

Das zeige sich zum Beispiel bei antisemitischen Verschwörungserzählungen. „Juden und Jüdinnen sind häufig marginalisiert und keine mächtige Gruppe, werden aber dennoch oft so gezeichnet.“

Michael Blume, Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, beschäftigt sich seit Längerem mit Verschwörungserzählungen. Er sagt: „Bislang ist es keiner Gruppe Verschwörungsgläubiger gelungen, sich glaubwürdig vom Antisemitismus zu distanzieren“.

Auch Markus H. verbreitete während der Pandemie Verschwörungserzählungen zum Coronavirus, in denen er seinen Antisemitismus offen zur Schau stellte. In einem seiner „Webinare“ hieß es im März 2020, israelische Wissenschaftler würden einen Impfstoff herstellen, der „Biochips zur Kontrolle der Oberflächenbevölkerung enthält.“

Oder: „Laut P3-Freimaurer-Quellen führt der israelische Verbrechensminister Benyamin Netanyahu (sic!) den jüngsten Versuch an, den dritten Weltkrieg zu beginnen und 90 Prozent der Menschheit zu töten“.

Verschwörung und Feindbild

In solchen Verschwörungserzählungen würden sich bereits lange bestehende Feindbilder Bahn brechen, sagt Michael Blume. „Die jüdische Gesellschaft ist die des Alphabets, die der Gelehrten, und am Ende traut man eine Weltverschwörung offenbar immer nur diesen Menschen zu.“

Feindbilder und Verschwörungserzählungen erfüllen eine ähnliche Funktion, sagt Pia Lamberty. „Man erschafft mit einem Feind das absolut Böse, das Satanische, und in dem Moment hat man psychologisch die Möglichkeit, sich als das absolut Gute darzustellen.“

Mit der eigenen Aufwertung sei das Erfüllen narzisstischer Bedürfnisse verbunden, die auch im Verschwörungsglauben eine Rolle spielen.

Und noch eine Funktion, die sich Feindbilder und Verschwörungserzählungen teilen, sei während der Pandemie erneut deutlich geworden, sagt Lamberty: „Mit beidem lassen sich abstrakte Bedrohungen handhabbar machen. Nehmen wir die Coronakrise – man hat plötzlich nicht mehr dieses unsichtbare Virus, sondern konkrete Verschwörer, gegen die man sich zur Wehr setzen kann.“

Das sei bei Verschwörungsgläubigen mit Widerstands- und Heldennarrativen verbunden. „Diese Menschen sehen sich als Opfer einer Verschwörung, was sich zum Beispiel in unsäglichen NS-Vergleichen bei Demonstrationen äußert“, sagt Pia Lamberty.

„Querdenker“ und rechtsextreme Reichsbürger

Im Widerstand wähnt sich auch die „Querdenken“-Bewegung, auf deren Demonstrationen Lamberty anspielt. 

Seit dem Frühjahr 2020 protestiert die Initiative „Querdenken711“ unter Gründer Michael Ballweg gegen die Coronapolitik und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Heute gibt es Ableger in ganz Deutschland. 

Bestimmte Gruppen und Einzelpersonen der „Querdenken“-Bewegung werden seit April 2021 vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Man hat dafür einen eigenen Phänomenbereich geschaffen: „Verfassungsschutz relevante Delegitimierung des Staates“. Zuvor hatten bereits Landesbehörden, allen voran das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, die Szene unter Beobachtung gestellt. 

Die selbst ernannten „Querdenker“ leugnen die Gefährlichkeit des Coronavirus, fordern ein Ende der Maßnahmen zu dessen Eindämmung und sprechen auf Bühnen und in Chatgruppen von einer „Plandemie“. Sowohl führende Köpfe, als auch Anhänger und Personen aus dem erweiterten Umfeld der Bewegung fielen während der Coronakrise durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen auf.

Eine dieser Personen hat eine Verbindung zu Markus H., dieser hält nicht nur Vorträge, in denen er seinen eigenen Verschwörungsglauben ausbreitet. Er ist auch der Vorsitzende eines rechtsextremen Reichsbürgervereins aus dem schwäbischen Schorndorf, der seit Jahren vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet wird: „Primus inter Pares“. 

Gründungsmitglied von „Primus inter Pares“ ist Stephan Bergmann, der bis Herbst 2020 Sprecher von „Querdenken711“ war und auch danach immer wieder auf Demonstrationen der „Querdenker“-Bewegung zu sehen war.

Als mein Kollege Peter Schwarz und ich Bergmann im Frühjahr erstmals im Zuge unserer Recherche für den Zeitungsverlag Waiblingen kontaktierten, gab dieser lediglich an, „seit vielen Jahren“ nichts mehr von „Primus inter Pares“ gehört zu haben. Seine Botschaft sei „Menschlichkeit, Herzlichkeit und Freiheit“.

Rückfragen sowie weitere Anfragen ließ Bergmann, wie er bei einer Demo auf der Bühne selbst einräumte, bewusst unbeantwortet. Fest steht aber, dass der selbst ernannte schwäbische Schamane weiterhin Verschwörungserzählungen verbreitet. Vor allem zur Coronakrise.

Während eines Interviews am Rande einer „Querdenken711“-Großdemonstration in Berlin bezeichnete Bergmann das Coronavirus im August 2020 als „politische Agenda“ und forderte Beweise für die Existenz von Viren.

Als der SPD-Politiker Thomas Oppermann am 25. Oktober 2020 vor einem Live-Interview zusammenbrach und starb, suggerierte Bergmann auf seinem Telegram-Kanal, Oppermann sei wegen seiner Kritik an der Coronapolitik ermordet worden.

Superspreader Telegram

Der Messengerdienst Telegram hat sich während der Coronapandemie zur zentralen Anlaufstelle für Verschwörungsgläubige entwickelt.

„Telegram hat mittlerweile einen sehr großen Stellenwert in der Szene“, sagt Josef Holnburger. Der Politikwissenschaftler liefert auf Twitter seit Längerem immer wieder umfangreiche Datenanalysen zum Messengerdienst. Mit Pia Lamberty und weiteren Expertinnen und Experten hat Holnburger das „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“ (CeMAS) gegründet, wo er sich mit Verschwörungs­ideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus beschäftigt.

Bereits seit 2018 werde Telegram von Rechtsextremen und Rechtspopulisten genutzt. Damals habe vor allem die Identitäre Bewegung diese Entwicklung vorangetrieben, nachdem Instagram und Facebook gegen die rechtsextreme Gruppierung vorgegangen waren.

Dass mittlerweile auch massenhaft Verschwörungsgläubige und Coronaleugner die Plattform bevölkern, habe mit einem Facebook-Beitrag vom 28. April 2020 zu tun: „Es gab auf Facebook die Gruppe ‚Coronarebellen‘, die befürchtete, von der Plattform gelöscht zu werden“, so Holnburger. „Deshalb hat man dazu aufgerufen, Telegram-Gruppen zu gründen.“ Was dann auch passierte.

Auch der sogenannte „Netzwerkeffekt“ habe eine Rolle bei dieser Entwicklung gespielt. „Weil sehr viele der rechten Influencer Telegram  früh genutzt haben, konnte sich der Dienst hierzulande etablieren. Im Gegensatz zur Twitter-Alternative ‚Parler‘ beispielsweise, die überwiegend in den USA genutzt wurde.“

Telegram wurde schnell zum Dreh- und Angelpunkt der Szene. „Jede größere Demo wurde über die Plattform geplant“, sagt Josef Holnburger. „Es wurden Busse organisiert, sogar darüber gesprochen, welche Plakate man malen darf.“ Außerdem werde immer wieder aufgerufen, an Umfragen teilzunehmen – egal ob es um universitäre Studien oder den Teletext geht. „Man versucht, eine größere Öffentlichkeit zu suggerieren, die die eigenen Überzeugungen teilt.“

Die Mitglieder sind Teil einer Gemeinschaft und tauschen Verschwörungserzählungen aus, als wären sie Insiderwissen – innerhalb der Gruppe, aber auch zwischen verschiedenen Kanälen. Wer nicht Teil des eigenen Telegram-Netzwerks ist, den Erzählungen keinen Glauben schenkt und etablierten Medien vertraut, wird als „Schlafschaf“ belächelt.

Manchmal kommt aber auch Frust hinzu: Mitglieder ärgern sich in Beiträgen darüber, dass Familie und Freunde sich abwenden, und die breite Öffentlichkeit trotz vermeintlich vieler „Beweise“ Verschwörungserzählungen nicht als Wahrheit akzeptiert. Pia Lamberty verweist in diesem Zusammenhang auf Forschungen zum sogenannten „kollektiven Narzissmus“.

„Beim Narzissmus hat man ein grandioses Selbst, hat eine übersteigerte Perspektive auf sich und sein Können, seine Werte, aber das ist nicht stabil. Das ist ein fragiles Konstrukt, was permanent eine Validierung von außen bedarf“, so die Psychologin. Kollektiver Narzissmus beziehe sich dagegen auf die Gruppe, „deren Wahrnehmung ist, dass man permanent nicht gehört, dass die Großartigkeit der Gruppe nicht gesehen wird“.

Eine der populärsten Verschwörungsideologien – nicht nur unter „Querdenkern“ auf Telegram – spielt mit diesem Bedürfnis nach Wahrnehmung: QAnon.

QAnon: Brotkrumen für die Verschwörungsgläubigen

Die QAnon-Bewegung stammt aus den USA. An ihrem Anfang stand ein Beitrag auf dem Imageboard 4chan. Ein Nutzer namens „Q Clearance Patriot“, kurz „Q“, gab an, über klassifizierte Informationen aus dem Umfeld des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zu verfügen. Demnach führe Trump einen geheimen Krieg gegen eine verborgene Elite, den sogenannten „deep state“.

 „Q Clearance“ ist die höchste Freigabestufe für Geheiminformationen des US-Energieministeriums, die „Q“ angeblich besitzt. Seine Anhänger werden „QAnon“ genannt. Das „Anon“ steht dabei für „anonymous“ und bezeichnet die anonymen Nutzer auf Imageboards.

Die Kommunikation zwischen „Q“ und seinen Anhängern läuft in der Regel folgendermaßen ab: „Q“ schreibt einen kryptischen Beitrag, der für Außenstehende kaum zu verstehen ist. Diese Beiträge nennt man „Q Drops“. Die QAnon greifen diese angeblichen Hinweise auf und versuchen zu erraten, was gemeint sein könnte.

Zentrale Erzählungen der QAnon lauten:

  • Donald Trump sei ein Held, der vom US-amerikanischen Militär auserwählt worden sei, einen von einem geheimen Zirkel geführten internationalen Pädophilenring zu zerschlagen.
  • In unterirdischen Lagern würden – auch in Deutschland – Kinder gefoltert und ermordet, um ihnen Adrenochrom abzuzapfen. Angeblich, weil es sich bei der chemischen Verbindung, die es frei zu kaufen gibt, um eine Verjüngungsdroge handelt.
  • Der Lockdown im Zuge der Coronavirus-Pandemie diene nicht dem Gesundheitsschutz, sondern ermögliche eine geheime Operation zur Befreiung dieser Kinder aus ihren unterirdischen Gefängnissen.

Dazu kommen: popkulturelle Anleihen. Antisemitische Erzählmuster. Pathetische Durchhalteparolen für die Anhängerschaft. Die ständige Ankündigung eines angeblichen „Sturms“, der alles verändern und ans Licht bringen werde. Und ab und an Prophezeiungen, die sich je auf ein exaktes Datum beziehen, aber bisher nie eingetroffen sind.

„Die [Verschwörungserzählung] findet auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung, vor allem durch eine Vielzahl von Homepages, Blogs und YouTube-Kanäle, deren Reichweite aber weder zu quantifizieren noch zu qualifizieren ist“, hieß es 2020 in einer Zusammenfassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz. „Es liegen Hinweise darauf vor, dass sowohl einzelne Rechtsextremisten als auch eine Reihe von Reichsbürgern der QAnon-Theorie anhängen.“

Auch Markus H. zählt zu diesen Reichsbürgern. Immer wieder finden die sogenannten „Q-Drops“ in seinen Vorträgen oder auf seinem Profil beim russischen sozialen Netzwerk VK statt. Als die Videoplattform YouTube im Oktober 2020 Zehntausende QAnon-Inhalte löschte, sprach H. in einem Webinar von einer „Zensurwelle“. Die „alternative Medienszene“ werde „ausgelöscht“.

Neben dem Sänger Xavier Naidoo ist auch der ehemalige Finanzjournalist Oliver Janich ein prominenter Anhänger der QAnon-Bewegung in Deutschland. Und einer der größten Multiplikatoren dieser Verschwörungsideologie. Auf seinem Telegram-Kanal, wo Janich „Q“ regelmäßig zum Thema macht, folgten ihm im Februar 2020 über 160.000 Menschen.

Dass es in Deutschland heute die größte „QAnon“-Community außerhalb der USA gibt, wäre ohne den Messengerdienst Telegram vermutlich undenkbar. „Telegram war ein großer Nährboden für QAnon“, sagt Josef Holnburger. Dieser Nährboden könnte bald entzogen werden.

„Telegram war bisher mehr ein Freizeitprojekt von Gründer Pawel Durow“, so Holnburger. „Man wollte eigentlich nichts löschen, außer es handelt sich um Spam-Bots und ab und an illegal hochgeladene Filme. Auch beim Islamischen Staat oder nach dem sogenannten ‚Sturm auf das Kapitol‘ hat man mal kurzzeitig eingegriffen.“

Nun hat Telegram allerdings angekündigt, ab Januar 2021 die Monetarisierung des Dienstes voranzutreiben – zum Beispiel durch Werbung auf großen Kanälen. Das könnte für die Szene problematisch werden. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich viele Unternehmen finden, die ihre Werbung zwischen terroristischen Inhalten und QAnon-Content schalten möchten“, sagt Josef Holnburger.

Absurde Behauptungen, reale Gefahren

Dabei dürfte auch das Gewaltpotenzial der Bewegung eine Rolle spielen. „Derartige Verschwörungs[erzählungen] können sich zu einer Gefahr entwickeln, wenn antisemitische oder gegen politische Funktionsträger gerichtete Gewalttaten mit der Behauptung einer Bedrohung durch den ‚tiefen Staat‘ legitimiert werden“, warnt das Bundesamt für Verfassungsschutz.

In den USA ist seit Jahren zu sehen, dass die absurd klingenden Behauptungen der QAnons reale Gefahren bergen. Anhänger der Bewegungen haben bereits mehrfach schwere Straftaten begangen.

Im März 2019 wurde in Staten Island, New York, ein amerikanischer Gangsterboss ermordet. Der mutmaßliche Täter bekannte sich vor Gericht offen zu „Q“. Sein Anwalt baute gar die Verteidigung darauf auf, dass sein Mandant dieser Verschwörungsideologie verfallen sei. Der Mann hielt den Gangsterboss offenbar für ein hochrangiges „deep state“-Mitglied.

Im April 2020 stoppten Polizisten eine 37-Jährige, die mit mehr als einem Dutzend Messern im Gepäck nach New York City unterwegs war, um den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden „auszuschalten“. Die Frau, die ihre Fahrt per Livestream mit der Welt teilte, bezog sich dabei auf „Q“.

Auch beim sogenannten „Sturm auf das Kapitol“ in Washington am 6. Januar 2021 waren QAnon-Anhänger maßgeblich beteiligt.

Die Psychologin Pia Lamberty warnt seit Längerem vor den Konsequenzen, die die Verbreitung von Verschwörungserzählungen haben könnten. „Wenn jemand wirklich an so etwas glaubt, sieht man sich im schlimmsten Fall berechtigt, auch gewaltsam vorzugehen“, sagt sie. Je stärker jemand an Verschwörungserzählungen glaube, desto eher sei er bereit, zu drastischen Mitteln wie Anschlägen zu greifen.

Das Mobilisierungspotenzial sei groß. Nicht nur, aber vor allem unter Rechten.

„Studien in mehreren Ländern zeigen kohärent, dass der Verschwörungsglauben sich stärker bei Menschen, die sich politisch rechts verorten, eher rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien wählen, manifestiert“, sagt Lamberty. „Populismus ist in seiner Definition sehr nahe am Verschwörungsglauben dran – wir da unten gegen die da oben.“

Verschwörungserzählungen über Kindesentführungen und ritualisierte Gewalt gegen Kinder würden von Rechtsextremen gerne für ihre Zwecke genutzt, sagt die Psychologin. Die Nähe der Szene zu QAnon sei daher nicht verwunderlich.

Auch Rassismus und Antisemitismus würden von Rechten immer stärker verschwörungsideologisch aufgeladen. „Vor allem mit dem Motiv des ‚Großen Austauschs‘“, sagt Pia Lamberty. „Mit solchen diffusen Verschwörungserzählungen lassen sich auch Leute erreichen, die man mit offenem Rassismus oder Antisemitismus verprellt hätte.“

Die AfD, der „Große Austausch“ und rechter Terror

Die Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch“ oder „Bevölkerungsaustausch“ geht auf den Franzosen Renaud Camus zurück. Der Vordenker der Neuen Rechten behauptete, Einwanderer würden von Eliten gezielt ins Land gebracht, um Bevölkerungsschwund auszugleichen. Das führe letztlich zu einem Austausch der Bevölkerung, der mit einem Identitätsverlust verbunden sei. Camus sprach in diesem Zusammenhang auch von „Gegenkolonisierung“.

Das Narrativ breitete sich mithilfe der rechtsextremen Identitären Bewegung schnell in der internationalen rechten Szene aus. Der „Bevölkerungsaustausch“ wurde dabei meist als angebliches geheimes Ziel und nicht als bloße Folge von Politik beschrieben. In Verschwörungserzählungen, die rund um dieses Narrativ gesponnen wurden und werden, verbinden sich Rassismus, Islamfeindlichkeit und häufig auch Antisemitismus. 

AfD-Politiker wie Alexander Gauland trugen zur Verbreitung dieses Narrativs bei. Im April 2017 veröffentlichte Gauland, damals stellvertretender Parteivorsitzender, eine Pressemitteilung zum Thema Familiennachzug. Zitat: „Der Bevölkerungsaustausch in Deutschland läuft auf Hochtouren.“

Auch auf der Webseite des Reichsbürgers Markus H. gibt es eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich mit dem angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ beschäftigen. Einer dieser Beiträge aus dem Jahr 2017 beginnt so: „Ohne weitere Worte gibt es nun genug Lesestoff zur empfohlenen Eigenrecherche, zum abkotzen und auch gerne zum handeln [sic!] – wer denn mag!“

Der Attentäter von Halle, der im Oktober 2019 zwei Menschenleben auslöschte, nachdem er an der Tür einer Synagoge gescheitert war, glaubte an die Verschwörungserzählung vom „Bevölkerungsaustausch“. Vor Gericht behauptete er einem Spiegel-Bericht zufolge, „die Juden“ seien „die Organisatoren“.

Der Rechtsterrorist, der wenige Monate zuvor 51 Menschen muslimischen Glaubens bei einem Anschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch getötet hatte, hing ihr ebenfalls an. Er hat seine Ideologie in einer Art „Manifest“ ausgebreitet.

Es trug den Titel: „The Great Replacement“. 

Der Große Austausch.