Von den Lücken bei der Erfassung rechter Gewalttaten
In Schweinfurt wird Fasching gefeiert. Es ist Dienstag, als ein junger Algerier durch einen Messerstich in den Herzmuskel lebensgefährlich verletzt wird. Bei dem 27-jährigen Täter werden Gegenstände gefunden, die als „rechtsextreme Propaganda“ eingestuft werden. Außerdem Kleidung, die der rechten Szene zugeordnet werden kann.
Es ist mitten in der Nacht, als zwei syrische Geflüchtete auf der Straße in Halle an der Saale von drei Unbekannten umringt werden. Es ist kurz vor ein Uhr, als sie an der Haltestelle „Rennbahnstrecke“ von den dreien rassistisch und homophob beleidigt werden. Unvermittelt werden sie dann zu Boden geschlagen. Einer der beiden Angegriffenen erleidet lebensbedrohliche Verletzungen am Kopf und im Gesicht. Er muss mehrfach operiert werden.
Bei einer alternativen Open-Air-Technoparty in Dresden beleidigt ein 16-Jähriger zunächst eine Besucherin rassistisch und zeigt den Hitlergruß. Dann zieht er ein Messer und sticht auf zwei Besucher ein. Er verletzt dabei einen jungen Mann und eine junge Frau lebensgefährlich.
Diese drei Fälle haben eines gemeinsam: Sie tauchen in den sogenannten „PMK-Rechts Statistiken“ der jeweils zuständigen Landeskriminalämter nicht auf (Stand April 2021). In der Kategorie „PMK-Rechts“ soll rechte politisch motivierte Kriminalität erfasst werden. Das definiert das Bundeskriminalamt (BKA) kurz gefasst so: Wenn in Würdigung der Umstände der Tat und oder der Einstellung der Täter Anhaltspunkte für eine „rechte“ Orientierung vorliegen, dann sollen die Straftaten der PMK-Rechts zugeordnet werden.
Nun scheinen die oben genannten drei Fälle laut dieser Definition Anhaltspunkte, wenn nicht sogar klare Hinweise auf eine rechte Orientierung zu geben. Dennoch, in den Statistiken der Ermittlungsbehörden fehlen diese Fälle. In den Statistiken der Opferberatungsstellen rechter Gewalt sind die Fälle erfasst. Eine Lücke in der Statistik?
Genau darauf weist der Verband der Beratungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) hin. Der Verband kritisiert, dass in den Jahresbilanzen der Strafverfolgungsbehörden der Länder und des BKA zahlreiche Gewalttaten aus dem Jahr 2020 fehlen. Dies sei kein neues Phänomen, sondern decke sich laut dem Verband mit seinen Beobachtungen aus den Vorjahren.
Die Unterschiede bei der Erfassung von rechten Gewalttaten fällt auch bei der Zählung von Todesopfern auf. Die Amadeu Antonio Stiftung etwa zählt seit der Wende 213 Todesopfer rechter Gewalt (Stand Januar 2021). Die Bundesregierung zählt für denselben Zeitraum 106 rechte Tötungsdelikte in Deutschland. Das ist eine deutliche Diskrepanz, die an unterschiedlichen Bewertungen liegt.
Nach der Aufdeckung der Mordserie des NSU gab es ein gesellschaftliches Entsetzen. Darüber, wie lange das Trio unerkannt durch Deutschland reisen und dabei seine Taten verüben konnte. Aber das Entsetzen galt auch den Ermittlungen der Behörden, in deren Fokus lange die Hinterbliebenen der Opfer standen – wodurch die eigentliche Täterspur aus dem Blick geriet.
Daraufhin sind ungeklärte Tötungsdelikte und -versuche zwischen 1990 und 2011 durch Polizeibehörden erneut überprüft worden. Und tatsächlich auch neu bewertet worden, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervorgeht (Drucksache 18/5639, 24.07.2015). Durch diese Überprüfung von 745 Fällen sind insgesamt 17 Tötungsdelikte nachträglich anders bewertet worden.
Im Verhältnis eine geringe Zahl, auch vor dem Hintergrund, dass nur in fünf Bundesländern eine Neubewertung der Tötungsdelikte stattfand. In allen anderen Bundesländern blieben die Behörden bei ihrer ursprünglichen Angabe.
Auch wenn es im Jahr 2001 eine umfassende Reform des Erfassungssystems der PMK-Rechts gab, ist klar, dass die Statistik letztlich nur das abbildet, was die Polizei erfährt und aufzeichnet: Es handelt sich nicht um eine Abbildung der tatsächlichen Kriminalität, sondern der Polizeiarbeit in der Strafverfolgung. Die Amadeu Antonio Stiftung bemängelt zudem bis heute die fehlende Einbindung der Opferperspektive.
Genau diese Perspektive kann der Polizei helfen, die Umstände von Taten genauer zu beleuchten und einzuordnen. Doch immer wieder berichten Beratungsstellen, dass Opfer sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen. Weil sie befürchteten oder schon erlebt hätten, dass ihr Anliegen nicht ernst genommen werde. Es gibt also ein Dunkelfeld, in welches die Opferberatungsstellen einen Einblick erhalten, welches durch die Polizeistatistik aber nicht abgebildet wird.
Doch es geht um noch mehr. Durch die lückenhafte Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz werde das Ausmaß tödlicher rechter Gewalt verschleiert, so sieht es der VBRG.
Im Fall des lebensgefährlich verletzten Algeriers beim Fasching etwa lässt das Urteil der Schwurgerichtskammer des zweiten Landgerichts Schweinfurt die Frage nach Rassismus als Tatmotiv offen. Der Täter wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren Haft verurteilt. So berichtet es „B.U.D Bayern“.
Im Fall der zwei syrischen Geflüchteten, die niedergeschlagen wurden, sind in der Anklage der Staatsanwaltschaft Halle weder Rassismus noch Homophobie als Tatmotiv enthalten. So berichtet es die „Mobile Opferberatung“.
Und im Fall der zwei lebensgefährlich verletzten Besucher des Open-Airs hat die Staatsanwaltschaft Dresden Anklage wegen zweifachen versuchten Mordes erhoben. Ein rechtes Tatmotiv wird derzeit nicht gesehen. So berichtet es „RAA Sachsen“.
Ein verstärktes Ausleuchten des Dunkelfelds sowie Studien könnten dazu beitragen, ein verbessertes und detaillierteres Bild der tatsächlichen Kriminalität zu erhalten. Hilfreich wäre dafür auch ein stärkerer Austausch zwischen Ermittlungsbehörden und Opferberatungsstellen. Denn eines ist sicher: Eine unzureichende Strafverfolgung könnte Täter dazu ermutigen, weitere Taten zu begehen.
Die Autorin Anna Neifer hat an dem Projekt „Tatort Rechts“ gearbeitet. Tatort Rechts ist ein webbasiertes Recherche-Tool, mit dem Daten zu rechten, rassistischen und antisemitischen Bezügen gezielt durchsucht werden können. Auf einer interaktiven Karte ist es zum ersten Mal möglich, die öffentlich verfügbaren Daten von derzeit 13 Projekt-Webseiten systematisch zu filtern und Zusammenhänge herzustellen. Sie ist erreichbar unter www.tatortrechts.de/karte