Menschen im Fadenkreuz

Was muss passieren, damit wir uns sicher fühlen können? Übernehmt endlich Verantwortung!

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von Christina Feist

Christina Feist zählt zu den Menschen, die am 9. Oktober 2019 den rechtsterroristischen Anschlag in Halle überlebten. Sie ist 30, promoviert in Geschichte und Philosophie und lebt heute in Paris. In diesem Essay erhebt sie Anklage gegen die schweigende Mehrheit in Deutschland – und ruft sie zu echter Solidarität auf.

Dieser Text richtet sich an diejenigen, die mich immer wieder fragen, warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen kann.

Im März 2019, sieben Monate vor dem Attentat auf die Synagoge in Halle, zog ich im Rahmen meiner Promotion für einen ursprünglich einjährigen Auslandsaufenthalt von Berlin nach Paris. Ein Jahr später und fünf Monate nach dem Attentat in Halle kämpfte ich in Paris nach wie vor mit Symptomen des erlebten Traumas. 

Ich hatte Alb- und Angstträume, erschrak bei jedem plötzlichen, lauten Geräusch und hatte Schwierigkeiten, durch den Tag zu kommen. Das Attentat begleitete mich auf Schritt und Tritt. Ein Umzug – ganz egal wohin – war unvorstellbar. 

Auch jetzt, anderthalb Jahre später, wird mir beim Gedanken, nach Deutschland zurückziehen zu müssen, immer noch schlecht. Und das sorgt für Irritationen. 

Warum ich mir ein Leben in Deutschland nicht mehr vorstellen könne, fragt Ihr mich bestürzt. In Deutschland bewege ich mich in der Angst, antisemitisch angegriffen zu werden. Und gleichzeitig in der Gewissheit, damit gegebenenfalls alleine dazustehen: Werde ich auf der Straße angegriffen, wie es Freunde und Freundinnen von mir in Deutschland regelmäßig passiert, ist darauf Verlass, dass von den Umstehenden niemand eingreift. Falls überhaupt jemand stehen bleibt. 

Von der Polizei ist statt Hilfe im besten Fall noch Gleichgültigkeit zu erwarten. Im schlimmsten Fall begegnet Betroffenen dort erneut Antisemitismus, Rassismus, Trans- oder Homofeindlichkeit. 

Die Politik bedient derweil beharrlich das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall. Lasst mich Euch also eine Gegenfrage stellen: Wie entbehrlich sind Euer Sicherheitsgefühl und Vertrauen in den Staat, in dem Ihr lebt? 

Diese Antwort gefällt vielen von Euch nicht. Trotzdem begegnet Ihr mir ungläubig, ungeduldig und wütend. Das könne ja alles gar nicht sein, Deutschland habe schließlich aus seiner Geschichte gelernt. Ein Problem mit gesellschaftlich tief verankertem Antisemitismus und Rassismus könne es also gar nicht geben. Ich frage Euch: Wo ist diese angeblich solidarische Mehrheit, die Zivilcourage und Menschlichkeit beweist? Wo ist sie, wenn Freunde an Yom Kippur auf der Straße antisemitisch beschimpft werden? Wenn Mitstipendiaten die Kippa vom Kopf gerissen wird und sie körperlich angegriffen werden? 

Der Antisemitismus marschiert in Form der Querdenker ungehindert durch Deutschlands Straßen. Während diese die Shoah verharmlosen und antisemitische Parolen skandieren, ist diese angeblich solidarische Mehrheit, als Teil derer Ihr Euch begreift, damit beschäftigt, die Perspektive der Betroffenen infrage zu stellen. Ihr relativiert und bagatellisiert unsere Erfahrungen mit antisemitischen und rassistischen Angriffen. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und an Veränderung zu arbeiten, stellt Ihr infrage, was wir, die Überlebenden und Hinterbliebenen, schon lange wissen: Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rassismusproblem. 

Antisemitische und rassistische Anfeindungen – online wie offline – sind schon lange Teil unseres Alltags. Gehört werden wir, die Betroffenen, aber erst, wenn es zu Terrorakten wie 2019 in Halle oder 2020 in Hanau kommt. Dann ruft Ihr reflexartig „Nie wieder“ und „Einzeltäter“. Und verliert bald wieder das Interesse. Aber antisemitische und rassistische Angriffe sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines tief verwurzelten Netzwerks rechtsextremer Ideologie. 

Auch ich, als Betroffene eines rechtsextrem und neonazistisch motivierten Terroranschlags, bin keine Einzelerscheinung. Ich bin Teil einer ganzen Reihe von Menschen, die allesamt Opfer und Betroffene rechter Gewalt- und Terrorakte sind und deren Zahl stetig und mit erschreckender Geschwindigkeit wächst. Die Menge derer, die auch nach dem ersten „Nie wieder“-Hype noch neben uns, den Betroffenen, stehen, ist hingegen überschaubar gering. Einige davon durfte ich während des Prozesses gegen den Täter von Halle kennenlernen. Jeden Prozesstag standen sie im und vor dem Gerichtsgebäude, gaben mir Kraft und Halt. Diese Menschen sind Teil einer couragierten, solidarischen Minderheit in einer überwiegend schweigenden Mehrheit. 

Dieses ohrenbetäubende Schweigen einer Mehrheit, die von sich behauptet, weder antisemitisch noch rassistisch zu sein, übertönt oft die vereinzelten solidarischen Zwischenrufe. Zu einsam und leise sind auch die Stimmen der Betroffenen, die sich nicht abspeisen lassen, sondern unentwegt mahnen, warnen und fordern. Sie versanden in der Gleichgültigkeit ebendieser schweigenden Mehrheit. 

Was sich denn ändern muss, fragt Ihr mich. Fangen wir damit an, was sich seit Oktober 2019 für mich geändert hat: Ich lebe nach wie vor in Paris. Meine Berufsaussichten mit einer deutschsprachigen Dissertation im nicht deutschsprachigen Ausland sind begrenzt. Und trotzdem werde ich nicht nach Deutschland zurückkehren. 

Getrieben von der Angst vor Eurem eigenen schlechten Gewissen, hakt Ihr nach. Ich schaue Euch in die Augen und antworte: 

Ihr stellt Euch nicht neben uns, wenn Juden und Jüdinnen auf Deutschlands Straßen beschimpft werden. Wenn wir um Hilfe rufen, hört Ihr weg. Stattdessen winkt Ihr mit Israel-Flaggen, weil Ihr jüdische Menschen nicht von Israel unterscheiden könnt, setzt Euch eine Kippa auf und ruft empört „Nie wieder“. Dann suhlt Ihr Euch in Selbstzufriedenheit und nennt das „Solidarität“. 

Eure Empathie reicht genau bis zum Ende Eurer Komfortzone. 

Und Ihr gebt Bestürzung vor und fragt mich, warum ich nicht in Deutschland leben will? 

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