Menschen im Fadenkreuz

Wenn der Schwanz mit dem Hund wackelt – der NSU und das Drama des nicht aufgearbeiteten Rechtsterrorismus in Deutschland

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von Irene Mihalic und Konstantin von Notz

Der 4. November 2011 hat sich tief eingebrannt in die jüngere Geschichte unseres Landes. An diesem Tag enttarnte sich das Terror-Trio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ – kurz NSU – selbst. In Folge konnten zehn bis dahin unaufgeklärte Morde sowie drei Sprengstoffattentate und diverse Raubüberfälle den seit 1998 untergetauchten Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe zugeordnet werden. In einem widerwärtig zynischen Bekennervideo führt die Zeichentrickfigur „Paulchen Panther“ durch das rechtsterroristische und rassistische Mordgeschehen der vergangenen 13 Jahre.

Das Land war zutiefst geschockt von dieser Serie rechtsextremen Terrors, der sich mehr als ein Jahrzehnt scheinbar völlig unentdeckt und unbehelligt vollziehen konnte. Die Sicherheitsbehörden standen massiv in der Kritik und unter einem immensen medialen und öffentlichen Druck. Anfang 2012 wurde der erste Untersuchungsausschuss im Bundestag eingesetzt – insgesamt zwölf weitere versuchten in den darauf folgenden Jahren in Bund und Ländern, dem verworrenen und vielfach unschlüssigen Sachverhalt auf den Grund zu gehen. Die Bundeskanzlerin versprach in der von Regierung, Bundestag, Bundesrat und Verfassungsgericht ausgerichteten zentralen Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer „vollständige Aufklärung“.

Dieses Versprechen wurde bis heute nicht erfüllt. Im Gegenteil: Regierungen und Sicherheitsbehörden haben die parlamentarische Aufklärung vorsätzlich erheblich erschwert und zum Teil sogar unverhohlen blockiert. Akten wurden wiederholt zu spät, unvollständig, umfassend geschwärzt oder gleich gar nicht übermittelt. Ganze Bereiche, unter anderem zu geführten Quellen, wurden in Gänze ausgenommen. Auch das Vernehmen von Zeugen wurde immer wieder bewusst erschwert bis verunmöglicht. Das Bewahren von Staatsgeheimnissen und der Informanten- und Quellenschutz wurden und werden über die Aufklärung gestellt – ungeachtet der Schwere der Taten und der enormen politischen Brisanz der beispiellosen rassistischen Mordserie. Aufklärung wird systematisch verhindert, wo es um Komplexe geht, die über die Schnipsel des Bekennervideos hinausgehen. Damit entspricht man genau der Strategie der Ersteller des Videos, und das, obwohl bereits in diesem Video in zynischer, aber völlig unzweideutiger Weise vor den „neuen Streichen“ des NSU gewarnt wird.

Der 4. November 2011 und spätestens das Schreddern von einschlägigen Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Tage und Wochen später hätte eine Zäsur für den Umgang der Sicherheitsbehörden mit der – weiterhin bestehenden – rechtsterroristischen Bedrohung sein müssen. Dafür hätte es einer behördeneigenen kritischen Aufarbeitung, einer Analyse und einer Transparenz  der Fehler und selbstbestimmter, proaktiver Konsequenzen bedurft. All das ist nicht erfolgt. Im Gegenteil: Die Behörden, aber auch die Bundesregierung und diverse Landesregierungen in unterschiedlichsten Koalitionen gefielen sich darin, platt auf Geheimhaltung, Quellenschutz und Kernbereich zu verweisen. Dieses ignorante „business as usual“ der Exekutive hat öffentlich sehr viel Vertrauen gekostet.

Es brauchte die unermüdliche Arbeit einer Vielzahl kritischer Journalisten und diverser parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, um zumindest herauszuarbeiten, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nur eine Zelle in einem offensichtlich sehr viel größeren rechtsterroristischen Netz waren. Ein Netz mit einer klaren Strategie: „Taten statt Worte“ in kleinen Zellen des „führerlosen Widerstandes“, basierend auf Zugängen zur Infrastruktur der organisierten Kriminalität.

Dieser äußerst anpassungsfähige Ansatz verfestigte sich in den rechtsextremen Kameradschaftsstrukturen der 90er Jahre. Die Sicherheitsbehörden reagierten, ohne die Folgen zu reflektieren, mit einem Instrument, das die Strategie der Rechtsterroristen eher unterstützte, statt sie zu durchkreuzen: Mit der massiven Expansion des V-Leute-Systems stärkte man letztlich sogar die Strukturen, die man eigentlich bekämpfen wollte. Führende Rechtsextremisten wurden als Quellen vor Strafverfolgung geschützt und mit Geld für ihre Informationen bezahlt, das wiederum – zumindest teilweise – nachweislich in den Ausbau rechtsextremer Netzwerke floss.

Der gesamte Bereich der Informationsgewinnung der Behörden durch menschliche Quellen ist der parlamentarischen Kontrolle praktisch vollständig entzogen. Weder in der Anwerbungsphase noch während die Quelle geführt wird noch nach ihrer Abschaltung findet eine irgendwie geartete parlamentarische Kontrolle statt. Selbst den verfassungsrechtlich grundsätzlich stark aufgestellten Untersuchungsausschüssen werden regelmäßig die Quellen selbst als Zeugen, deren V-Personenführer und fast alle Akten aus diesem Bereich vorenthalten. Nach Wahrnehmung der Unterzeichnenden dieses Textes ist auch die Rechts- und Fachaufsicht aufseiten der Exekutive ein Totalausfall. All das führt dazu, dass der gesamte Bereich der Informationsgewinnung durch Quellenführung in Deutschland höchst fehleranfällig und damit auch überaus risikoreich ist. Das zeigte sich zuletzt auch in einem anderen Phänomenbereich, dem islamistischen Terrorismus, beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz im Dezember 2016.

Die systematische Vernichtung von NSU-Akten beim BfV, MAD und diversen Landesbehörden nach der Selbstenttarnung zeigte eindrücklich, dass man sich in den Behörden durchaus bewusst war, dass ein Bekanntwerden von Details der V-Mann-Einsätze sehr schwerwiegende Fragen aufwerfen würde. Diesen Diskussionen wollte man sich bewusst entziehen.

Wer jedoch die dringend notwendige Aufklärung blockiert, lässt nicht nur einen Mangel an rechtsstaatlicher Verantwortung erkennen, sondern sorgt dafür, dass wir den Bedrohungen des Rechtsterrorismus weiterhin nicht angemessen begegnen können. Die offenkundigen Widersprüche und Leerstellen der NSU-Aufklärung halten bis zum heutigen Tag eine schwelende Wunde in unserem Rechtsstaat offen – mit gravierenden Folgen. Das hat uns der Mord an Walter Lübcke, genau wie der Anschlag von Hanau oder die rechtsextremistischen Morddrohungen „NSU 2.0“, noch einmal deutlich vor Augen geführt. Immer wieder stehen Bezüge zum Umfeld des Trios im Fokus. Diese Bezüge erlangen ihre Bedeutung nicht allein durch die Frage, wie unmittelbar sich Verbindungen zu Mundlos, Böhnhardt oder Zschäpe ziehen lassen. Vielmehr geht es um die hinter dem NSU stehenden Strukturen. Es geht um Figuren im organisierten Rechtsterrorismus, die in den letzten Jahrzehnten die Strippen gezogen haben und es bis heute tun. Genau deshalb dürfen wir die Aufklärung nicht zu den Akten legen, sondern müssen – ganz im Gegenteil – alle Akten der Aufklärung vollständig und ungeschwärzt zugänglich machen.

Es scheint aus heutiger Perspektive unausweichlich: Wir müssen noch einmal tief in die vielen offenen Fragen des NSU hineingehen. Wir müssen uns sehr genau das Entstehen rechtsterroristischer Strukturen in den 90er Jahren ansehen und Kontinuitäten bis hin zum Oktoberfestattentat verstehen. Wir müssen ermitteln, wie tief V-Leute von Verfassungsschutz und Polizei in terroristische Planungen und Taten involviert waren. Wir müssen ermitteln, wie nah Sicherheitsbehörden auf Grundlage welcher Erkenntnisse dem NSU in den 13 Jahren des Untertauchens wirklich waren. Wir sollten uns noch einmal genau ansehen, wie es Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in Chemnitz, Zwickau und gegebenenfalls andernorts gelingen konnte, nahezu unbehelligt zu leben. Auf welche Strukturen konnten sie bauen? Und es gilt die Bezüge dieser Strukturen zur organisierten Kriminalität aufzudecken. Im Verständnis der Schnittstelle von Terror und organisierter Kriminalität steckt ein wesentlicher Schlüssel der Analyse. Auch müssen wir wissen, wie die kameradschaftlichen Strukturen bundesweit miteinander verknüpft waren und welche Auswirkungen das auf die Tatortauswahl des Trios hatte. Warum war Bayern und ganz speziell Nürnberg ein solcher Schwerpunkt? In welche Strategie passte der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter? Welche Bedeutung hatte die enge Verknüpfung der Naziszene in Dortmund und Kassel bei den zeitnahen Morden an Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat? Und überhaupt Kassel: Welche Rolle spielt der ehemalige Mitarbeiter des Landesverfassungsschutzes Andreas Temme, der pikanterweise später im Landratsamt Walter Lübckes arbeitete, wirklich? Es wäre der König aller Zufälle, wenn sich Temme just in dem Internetcafé aufhielt, in dem während seines Aufenthalts oder Millisekunden später der Mord an Yozgat begangen wurde. Weiterhin stellt sich die Frage, wie weit rechtsterroristische Bestrebungen in Sicherheitsbehörden unseres Landes reichten und reichen.

All diese Fragen und noch viele mehr verlangen nach umfassender Aufklärung. Und wir sind der Auffassung, dass das zentrale Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin im Jahr 2012 im Namen von Regierung, Bundesrat, Bundestag und Bundesverfassungsgericht endlich konsequent umgesetzt werden muss. Um das zu erreichen, braucht es eine breite Kooperation von Bund und Ländern und endlich die proaktive Unterstützung der Sicherheitsbehörden bei der „vollständigen Aufklärung“.

Dass es sich der Gesetzgeber und kontrollverantwortliche Deutsche Bundestag bis zum heutigen Tag bieten lässt, in diesem für die Sicherheit zentralen Bereich als Bittsteller bei den Behörden außen vor gehalten zu werden, selbst wenn drastischste Skandale die Öffentlichkeit erschüttern, ist ein Trauerspiel, das die erste Gewalt beenden kann, wenn sie es will. Die Legislative muss die vollständige Aufklärung durchsetzen, die die Bundeskanzlerin der deutschen Öffentlichkeit versprochen hat. Dass Angela Merkel in dieser Frage wortbrüchig geworden ist, wird als schwerer Makel ihrer Amtszeit bleiben. Solange die Exekutive die Aufklärung verhindert, die sie selbst versprochen hat, während sich das Parlament in die Schranken weisen lässt und die parlamentarische Kontrolle leerläuft, wackelt der Schwanz mit dem Hund.

Die Aufklärung des NSU-Komplexes darf nicht durch eine Blockade der Bundesbehörden und in den Verästelungen der Bundesländer stecken bleiben, es braucht eine umfassende Herausgabe aller relevanten Akten an eine zentrale Stelle. Eine neue parlamentarische Untersuchung auf Bundesebene muss den Fokus auf die Entstehung rechtsterroristischer Strukturen legen und die Rolle des V-Leute-Systems für Selbige umfassend untersuchen. Der Ausschuss muss klären, welche Personen zentral waren für die Vernetzung der Strategie „Taten statt Worte“ und welche es (bis) heute sind. Es müssen die Verbindungen der Rechtsterroristen zu Strukturen organisierter Kriminalität aufgeklärt werden. Und es ist herauszuarbeiten, ob und wie NSU-Strukturen Verbindungen zu Sicherheitsbehörden aufbauen konnten. Diese Frage ist auch von höchster Brisanz angesichts immer mehr aktuell aufgedeckter rechtsextremer Chats, Aktivitäten, Personen und Gruppierungen bei Verfassungsschutz, Polizei und Bundeswehr. Die demokratisch Verantwortlichen in einem Rechtsstaat dürfen es eben nicht zulassen, dass am Umsturz des demokratischen Systems arbeitende Rechtsextremisten strukturelle Zugänge zu Waffen, Sprengstoff und Behördenwissen haben.

Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass die Aufklärung des NSU weiter strukturell unterlaufen wird durch eine Haltung, die vorgibt, ein vermeintliches Staatswohl zu schützen, während die Bürgerinnen und Bürger dieses Staates rechtsextremem, rassistischem und antisemitischem Terror ausgesetzt sind. Dem Staatswohl kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass die Bedrohungen durch den Rechtsterrorismus und die entsprechenden Schwachstellen der Sicherheitsarchitektur endlich umfassend analysiert werden, ohne Scheuklappen und den verzerrenden Blick von Partei- und Koalitionsbrillen. Transparenz ist die Grundlage für Aufklärung. Aufklärung die Basis für Aufarbeitung. Und Aufarbeitung die Voraussetzung für Veränderung und die Bewältigung der bestehenden Sicherheitsprobleme – zum Schutz unserer Demokratie und der Bürgerinnen und Bürger.
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Irene Mihalic war Mitglied des 2. NSU-Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag und ist innenpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion.

Konstantin von Notz ist stellvertretender Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion und stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Deutschen Bundestags.

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