Wie Menschen unterstützt werden können, wenn sie von rechter Gewalt betroffen sind – und warum ihre Perspektive wichtig ist
von Alexander Roth
Rechte Gewalt ist ein Problem, das häufig von der Täterperspektive ausgehend verhandelt wird. Wer sind die Täter? Begründen sie ihre Tat – falls ja, wie? Wie haben sie sich radikalisiert? Gibt es Verbindungen zu vorigen Taten? Sind sie Teil einer Szene, eines Netzwerks?
Hinter diesen und anderen Fragen verschwindet eine andere Perspektive oftmals aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit: die Frage, wie es für die Betroffenen nach diesem gewaltsamen Eingriff in ihr Leben weitergeht. Oder für ihre Angehörigen.
Alena Kraut arbeitet bei der Beratungsstelle „Leuchtlinie“ in Stuttgart. „Wir unterstützen Menschen, die von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt betroffen sind – aus ganz Baden-Württemberg“, beschreibt sie die Aufgabe ihrer Organisation. „Wir sind auch Ansprechpartner für Angehörige, Freundinnen und Freunde, Zeuginnen und Zeugen von Angriffen sowie für Institutionen.“
Die Beratungsstelle Leuchtlinie wurde im Jahr 2015 ins Leben gerufen. „Vor fünf Jahren hatten wir es vor allem mit Angriffen auf Geflüchtete zu tun“, erinnert sich Alena Kraut im Gespräch. Dass die Türkische Gemeinde Baden-Württemberg, eine migrantische Organisation also, die Trägerschaft der Beratungsstelle übernahm, war damals ein Novum – und ist noch heute ein Alleinstellungsmerkmal.
„Die allermeisten Menschen, die zu uns kommen, sind von Rassismus betroffen“, sagt Kraut. „Im letzten Jahr haben wir außerdem vermehrt antisemitische Vorfälle registriert.“ Die Zahl der Ratsuchenden sei 2020 erstmals auf über 100 angestiegen. „Wenn es darum geht, welche Art von Unterstützung wir anbieten können, waren wir in den ersten fünf Jahren schlechter ausgestattet als Beratungsstellen in anderen Bundesländern, deren jeweilige Landesregierungen mehr Personalstellen finanziert haben. Das ändert sich jetzt zum Glück auch in Baden-Württemberg.“
Wie groß das reale Ausmaß rechter Gewalt ist, lässt sich anhand der folgenden Zahlen immerhin erahnen.
In der Jahresbilanz für 2020 registrierte der Bundesverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) in acht Bundesländern insgesamt 1.322 rechts-, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe.
Damit wurden in der Hälfte aller Bundesländer täglich mindestens drei bis vier Menschen Opfer rechter Gewalt – „trotz Ausgangsbeschränkungen in der Pandemie“. Von den 1.922 direkt von diesen Taten Betroffenen seien fast ein Fünftel besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche, hieß es in der dazugehörigen Pressemitteilung.
Neun Menschen seien 2020 durch Rassismus und Rechtsterrorismus, zwei Menschen durch homosexuellenfeindliche Gewalt gestorben.
„Wir veröffentlichen jährlich ein eigenes, unabhängiges Monitoring zu der Frage: Wie groß ist das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt?“, sagt Heike Kleffner, Geschäftsführerin des VBRG. „Unser unabhängiges Monitoring wird von zahlreichen staatlichen und internationalen Institutionen genutzt – von der Bundesintegrationsbeauftragten ebenso wie von der Europäischen Grundrechteagentur oder der OSZE.“
„Das unabhängige Monitoring ist auch deshalb so wichtig, weil die Landeskriminalämter und das Bundeskriminalamt die Dimension rechter Gewalt in den Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität eben nur in einem Ausschnitt erfassen – trotz aller Reformen bei den Strafverfolgungsbehörden –, das zeigt sich unter anderem in einer BKA-Studie zu Viktimisierungserfahrungen aus dem Jahr 2017“, so Kleffner. „Einen Überblick über das Ausmaß rechter Gewalt ist deshalb so wichtig, damit effektive Maßnahmen durch Justiz, Polizei und Politik auf den Weg gebracht werden und nicht nur Sonntagsreden.“
Beraterinnen wie Alena Kraut begleiten die Betroffenen bei der Bewältigung der materiellen und psychischen Angriffsfolgen. Dabei geht es beispielsweise darum, die Betroffenen über ihre Rechte als Gewaltopfer in Strafverfahren zu informieren oder zu Gerichtsprozessen zu begleiten. „Bei vielen geht es auch darum, dass sie nach den Angriffen ihr Sicherheitsgefühl im Alltag verloren haben“, sagt Kraut. „Das äußert sich zum Beispiel darin, dass man die Tatorte meidet, an denen die Gewalttat stattfand.“
An diesem Punkt setzen die Beratenden an: Was kann die betroffene Person tun, um das Sicherheitsgefühl wiederherzustellen? Wie sehen die Betroffenen selbst das Risiko? Was würde helfen?
Wie diese Fragen beantwortet werden, hänge von den individuellen Wünschen und Voraussetzungen ab, sagt Alena Kraut.
Betroffenen helfe es, wenn das private Umfeld sich solidarisiere. „Viele Menschen, die zu uns kommen, erleben große Unterstützung. Überhaupt nicht hilfreich ist es, wenn den Betroffenen von Familien und Freunden noch vorgeworfen wird, selbst an allem schuld zu sein.“ Auch der Austausch mit anderen Betroffenen könne helfen.
In vielen Fällen erfüllen Beratungsstellen wie die „Leuchtlinie“ zudem eine Vermittlungsfunktion. „Uns erreichen Wünsche nach der Vermittlung von Anwältinnen und Therapeutinnen bis hin zur Unterstützung bei der Frage: Wie mache ich meine Erfahrungen öffentlich, ohne dass ich mich wieder in Gefahr begebe oder negative Erfahrungen mache?“
In bestimmten Fällen ist Öffentlichkeit das Problem, mit dem alles anfängt. Nämlich dann, wenn Menschen von Rechten als Feinde markiert werden.
„Gerade in der Pandemie wächst neben den bekannten Betroffenengruppen auch die Gruppe der als politische Gegner markierten Menschen“, sagt Heike Kleffner. „Rechte Gewalt und Bedrohungen treffen Menschen in der Kommunalpolitik, im Journalismus und in der Wissenschaft sowie Ehrenamtliche aus Bürgerinitiativen“, sagt Kleffner. „Aber beispielsweise auch Pädagogen und Pädagoginnen, die in einen Shitstorm der AfD geraten, weil sie zum Beispiel über die sogenannten ‚Meldeportale‘ gemeldet werden und sich dann oft sehr unvorbereitet vor Ort in einem Shitstorm wiederfinden.“
Derartige Fälle werden von den Strafverfolgungsbehörden bislang nicht ausreichend verfolgt, sagt Kleffner. „Entweder weil sie nicht ernst genommen oder weil die Möglichkeiten, die es bei Gewalt und Bedrohungen im Netz gibt, nicht ausgeschöpft werden.“ Dies gelte auch für die Verbreitung von Morddrohungen und Gewaltaufrufen in Telegram-Gruppen beispielsweise der Coronaleugner-Netzwerke.
In dem Maß, in dem soziale Medien dazu genutzt würden, relativ konsequenzlos Menschen zu markieren, sei auch die Bedrohung von Betroffenen – im Netz und vor Ort – gewachsen, sagt Heike Kleffner.
Eine besondere Form der Markierung findet mittels sogenannter „Feindeslisten“ statt. Die Ersteller, Neonazis ebenso wie Coronaleugner, sammeln Namen und Adressen von politischen Gegnern. In manchen Fällen werden Informationen zu Wohnorten oder Arbeitgebern auch mit Ausspähnotizen ergänzt. Eine der bekanntesten ist die sogenannte „10.000er-Liste“ des NSU.
Der Bundesregierung sind aktuell 24 solcher Feindeslisten bekannt. Das geht aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage mehrerer Politiker sowie der FDP-Fraktion im Bundestag hervor. Die meisten davon seien im Netz abrufbar, heißt es darin. Und das, wie sich bei Recherchen immer wieder zeigt, nicht sonderlich versteckt. Wer danach sucht, stößt relativ schnell auf Online-Pranger oder Listen angeblicher Antifa-Mitglieder in Coronaleugner-Chatgruppen.
„Immer wieder melden sich Menschen bei der ‚Leuchtlinie‘, die auf Feindeslisten stehen“, sagt Alena Kraut. Wenn neue Listen auftauchen oder ältere gerade wieder vermehrt verbreitet oder in Telegram-Gruppen verteilt werden, mache sich das in der Stuttgarter Beratungsstelle bemerkbar. Das Gefährliche an diesen Listen ist, dass Personen zum Ziel werden können, die von den Behörden nicht darüber informiert wurden, dass ihre Adressen von Neonazis gesammelt und verbreitet wurden.
Ein Beispiel: Bei Mitgliedern des rechtsextremen Nordkreuz-Netzwerks wurde eine Feindesliste mit über 25.000 Datensätzen gefunden. Die Daten stammten aus einem Hackerangriff auf die Kundendatenbank eines Punk-Versandhandels.
Auf der Liste, die schon in verschiedenen Kontexten als Feindesliste verbreitet wurde und immer noch wird, fanden sich demnach Menschen, die dort – teilweise einmalig – zum Beispiel T-Shirts oder Kosmetikartikel bestellt hatten.
Gerade im Fall der Nordkreuz-Liste hätte es eine „absolute Verunsicherung“ bei den Menschen gegeben, sagt Alena Kraut. „Stehe ich drauf?“, hätten viele gefragt. Die Polizei habe die Betroffenen nicht informiert und öffentlich abgewiegelt. Aus Krauts Sicht ein Fehler.
„Einfach nicht darüber zu reden, bedeutet für die Betroffenen, keine Möglichkeit zu haben, sich zu entscheiden – bin ich vorsichtiger, wenn ich das Haus verlasse? Sag ich das jetzt meiner Familie oder nicht? Da gibt es sehr viel Unmut darüber, dass sie nicht informiert wurden.“
„Behörden müssen das ernst nehmen“, sagt Heike Kleffner vom VBRG. Ungefährliche Sammlungen persönlicher Daten durch Rechtsextreme gebe es nicht. „Wir fordern deshalb eine vollständige Informationspflicht, die nur in begründeten Einzelfällen eingeschränkt werden darf.“
Dabei müssten ausnahmslos alle Informationen weitergegeben werden, die zur Einschätzung des Gefahrenpotenzials notwendig und verfügbar seien. „Das Entscheidende ist, dass Strafverfolgungsbehörden, wenn sie auf die Information stoßen, nach dem Bundesmeldegesetz die Möglichkeit haben, eine Sperrung der Meldeadressen der Betroffenen zu veranlassen.“ Ein großer Vorteil: Die Betroffenen müssten nicht selbst glaubhaft machen, dass eine Bedrohungslage vorliegt.
„Die gesetzliche Grundlage dafür existiert – insbesondere seitdem im März 2021 mit einem neuen Paragrafen 126a StGB das Erstellen und Verbreiten von Feindeslisten unter Strafe gestellt ist und das Meldegesetz explizit erweitert wurde“, sagt Kleffner. „Allerdings sind wichtige Gesetzesänderungen nur dann wirklich effektiv, wenn Justiz und Verwaltung in den Ländern, die für die Umsetzung zuständig sind, die entsprechende Praxis auch anpassen.“ Und weiter: „Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke, der in Feindeslisten von Neonazis und durch Gewaltandrohungen im Netz markiert war, gibt es keine Rechtfertigung mehr, Feindeslisten nicht ernst zu nehmen.“
Was die Behörden nicht leisten, versuchen die Beratungsstellen aufzufangen.
„Wenn wir von Feindeslisten erfahren, gibt es einen sehr verantwortungsvollen Umgang damit“, so Kleffner. „Betroffene werden durch unsere Mitgliedsorganisationen angeschrieben und ihnen wird ein Hilfsangebot unterbreitet.“
Alena Kraut hat bei ihrer Arbeit in der Stuttgarter Beratungsstelle „Leuchtlinie“ immer wieder mit Menschen zu tun, die schlechte Erfahrungen mit Polizei oder Justiz gemacht haben. „Da haben sich Leute überwunden, sind zur Polizei gegangen und wurden dann nicht ernst genommen. Das macht es für die Betroffenen besonders schwer, damit umzugehen.“
Dazu komme der Vertrauensverlust durch Fälle von Rechtsextremismus bei der Polizei, die mittlerweile in erschreckender Regelmäßigkeit öffentlich werden. Heike Kleffner hat mit dem Journalisten Matthias Meisner ein Buch herausgegeben, das sich mit diesem Problem befasst: „Extreme Sicherheit“. Sie sagt: „Betroffene, die erfahren, dass ihre Daten aus widerrechtlichen Abfragen aus Polizeicomputern an rechtsextreme Netzwerke weitergegeben werden, erleben selbstverständlich einen hohen Vertrauensverlust.“ Dieser weite sich auch auf das Umfeld der Betroffenen aus.
Von Einzelfällen könne man in dieser Hinsicht längst nicht mehr sprechen, sagt Kleffner. „Wenn man sich einen ungefähren Überblick verschafft, muss man einfach sagen: Das passiert in jedem Bundesland und führt dazu, dass Menschen, die eigentlich ein hohes Maß an Vertrauen in die Polizei hatten, dieses Vertrauen verlieren.“
Dass die Verantwortlichen das Problem kleinredeten, sei ein Fehler – und verstärke den Vertrauensverlust noch. „Wenn das Problem klar benannt wird und Konsequenzen folgen, sind die allermeisten Betroffenen bereit zu differenzieren“, sagt sie.
Nicht nur auf der Polizeiwache, auch vor Gericht würden Betroffene schlechte Erfahrungen machen, sagt Alena Kraut. „Wenn Gerichtsprozesse zu Fällen von rechter Gewalt stattfinden, das menschenverachtende Tatmotiv aber gar nicht benannt und die Tat entpolitisiert wird, ist das für die Angegriffenen eine krasse Erfahrung.“
Dass es dazu komme, liege auch daran, dass rechte Gewalt immer noch „klassischen Neonazis“ zugeschrieben werde. „Jemand, der keine Hakenkreuzfahne im Zimmer hängen hat, kann trotzdem ein rechter oder rassistisch motivierter Gewalttäter sein.“
Es müsse endlich eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Problematik geben, sagt Alena Kraut. Die Perspektive der Betroffenen stärker wahrzunehmen, wäre ein Anfang.
„Es geht beim Thema rechte Gewalt immer stark um Täterinnen und Täter und um Prävention – was sicher wichtig ist“, sagt sie. „Aber nach den rassistischen Morden des NSU oder rechtsterroristischen Anschlägen wurde den Menschen, die ihre Angehörigen verloren hatten, oft nicht zugehört.“
Umso bewundernswerter und wichtiger, wenn sie sich dennoch Gehör verschaffen.
Nach dem rassistischen Anschlag von Hanau riefen Angehörige, Familien und Freunde der Ermordeten und Verletzten die „Initiative 19. Februar Hanau“ ins Leben. „Wir werden nicht zulassen, dass der 19. Februar 2020 unter den Teppich gekehrt wird – so wie die unzähligen rechten Morde zuvor“, heißt es in deren Gründungstext. Und auch nicht, dass erneut Täter geschützt und ihre Gewalttaten verharmlost würden.
Seitdem halten sie die Erinnerung an die Tat und die Verstorbenen wach, recherchieren zu den Hintergründen, konfrontieren Politik und Sicherheitsbehörden. „Es ist eigentlich nicht ihre Aufgabe, nachdem ihnen so was passiert ist“, sagt Alena Kraut. „Aber sie tun es, und sie haben damit viele andere Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ermutigt.“