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Inklusion: Musterland Bremen strauchelt

In Bremen gehen Kinder mit Handicaps seit über 30 Jahren in Regelschulen. Doch jetzt will der Senat sparen. Die Folge: Der Druck auf alle Beteiligten steigt, schwierige Kinder werden zunehmend an Förderschulen versetzt.

von Karen Grass

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Dieser Text erscheint parallel in der der Wochenzeitung „Der Freitag“

Christian Gloede gerät ins Schwärmen, wenn er von der guten alten Zeit erzählt. Die gute alte Zeit: Das waren die 80er Jahre, als die Inklusions-Bewegung noch aus der Mitte der Bremer Lehrer- und Elternschaft kam. Damals hieß das noch Integration. Kinder mit Behinderung sollten nicht mehr in Förderschulen unterrichtet, sondern in den Betrieb ganz normaler Schulen einbezogen werden. „Es gab damals eine Haltung bei uns, dass keine Form von Behinderung aus der allgemeinen Schule ausgeschlossen werden soll, das war bundesweit einmalig“, sagt Gloede. Der Behindertenpädagoge ist Vorstandssprecher der Lehrer-Gewerkschaft GEW. Er beteuert: „Bei uns ist die UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 auf sehr fruchtbaren Boden gefallen, die Lehrer und Schulleiter waren offen für die Umsetzung.“

Diese Offenheit hat sich nun teilweise in Resignation verkehrt. Mit krassen Folgen ausgerechnet in dem Bundesland, das mit Claudia Bogedan (SPD) die Präsidentin der Kultusministerkonferez stellt, die bei jeder Gelegenheit die soziale Rolle von Bildung herausstellt. Daheim in Bremen geht indes einiges schief – bei der Inklusion.

Der Meister patzt

Deutscher Inklusions-Meister ist Bremen nur in den Reden der Senatorin. Der Stadtstaat lag 2014 mit einem Inklusionsanteil von 68,5 Prozent unter den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit Abstand weit vorn. Am nächsten kommen dem noch Schleswig-Holstein mit 60,5 und Hamburg mit 59,1 Prozent. „Aber auch ein noch so hoher Inklusionsanteil hilft wenig, wenn es in der Realität an der Ausstattung hapert“, sagt Christian Gloede. Er arbeitet bei der Evangelischen Kirche und beobachtet die Entwicklungen seit Jahren. Gloede sieht einen eklatanten Mangel: Es gibt zu wenig Schulpersonal für gute Inklusion.

Weil es mittlerweile immer größere Probleme bei der Umsetzung der Inklusion in Bremen gibt, schrieben Gewerkschaften, Sozialverbände und Elternvereine im Frühjahr 2015 ein Memorandum, das Nachbesserungen fordert: Es müsse alles getan werden, um die Rahmenbedingungen herzustellen. „Dazu gehört eine deutliche Erhöhung der personellen, räumlichen und sächlichen Ausstattung der schulischen Inklusion in Bremen.“

Hohe Nachfrage

Elke Gerdes vom Verein „Eine Schule für alle“ hat das Memorandum mit vorangetrieben: „Wir wollen zeigen, dass die Inklusion mit der Änderung des Schulgesetzes nicht abgehakt ist, sondern dass das System jetzt qualitativ weiterentwickelt werden muss.“ In Bremen wurden 2012 auch die weiterführenden Schulen für die Inklusion geöffnet. Gegen den Willen der Eltern wird kein Kind mehr in einem Förderzentrum beschult. Der Senat habe damals mit der Nachfrage von etwa einem Drittel der Eltern gerechnet, erinnert sich Christian Gloede. Doch sie lag viel höher. Darauf sei das System nicht ausgelegt gewesen. Das Land hatte für die Inklusion schlicht zu wenig Stellen geschaffen. Stattdessen sollte Personal aus den früheren Förderschulen umverteilt werden. Zudem hoffte Bremens Regierung darauf, dass die Schülerzahlen künftig zurückgehen. Die Inklusion führe deshalb nicht zu einer Verschlechterung der Ausstattung. Das war die Logik in der Bildungsbehörde, der heute Claudia Bogedan vorsteht.

Drei Stufen zur Exklusion

Der Landesrechnungshof warnte schon früh. Er machte vor vier Jahren darauf aufmerksam, dass mehr Stellen für neue Sonderpädagogen nötig seien, als der Senat eingeplant hatte. Das kommt unter anderem dadurch zustande, dass die Schüler sich in der Inklusion stärker verteilen als an den Förderschulen und dann zur Betreuung mehr Sonderpädagogen nötig sind als vorher. Doch die Auflagen des deutschen Stabilitätspaktes seit 2012 lassen Bremen wenig Spielraum. Deshalb funktioniert in der Realität wohl nicht, was offiziell die gesamte Bremer Verwaltung will: Umfassende und gute Inklusion. Die Konsequenzen tragen die Kinder mit Handicaps, ihre Mitschüler und Lehrer.

Die Senatsverwaltung für Bildung musste 2014 die Notbremse ziehen. Auf Druck von Schulen, die wegen ihrer geringen Ressourcen mit verhaltensauffälligen Kindern überfordert waren, stellte die Behörde damals ein spezielles Konzept für bis zu 120 Schüler auf – sie sollten wieder exkludiert werden. Mehrere Dutzend Schüler mit emotional-sozialem Entwicklungsbedarf gehen seitdem wieder auf die Förderschule an der Fritz-Gansberg-Straße. Das Land schob sie quasi aus der Inklusion ab – weil das klamme System nicht für sie bereit war. Sie werden also nicht integriert, sondern ausgeschlossen.

„Eine Rückwärtsrolle“

„Einige Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen sind für das System aktuell noch eine zu große Herausforderung“, erklärt Andrea Herrmann-Weide, Referentin für Inklusion im Bremer Senat. „Das muss erst wachsen.“

GEW-Mann Gloede ist darüber entsetzt. „Das ist eine Rückwärtsrolle, ein Signal, das fataler kaum sein könnte“, sagt der Behindertenbeaufragte. „So wird die Botschaft verbreitet: ‚Diese Kinder sind nicht mehr integrierbar’. Nachdem man ihnen und den Eltern erst Hoffnungen gemacht hat, gibt man sie jetzt quasi verloren.“

Die Maßnahme ist Teil eines Modulsystems, sie ist die oberste von drei Eskalationsstufen Richtung Exklusion. Davor gibt es auch die Möglichkeit, bestimmte Schüler an der Regelschule für eine Zeit durch mehr sonderpädagogische Förderung aufzufangen oder für eine Übergangsphase in einem der regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren zu beschulen. Auf die ersten beiden Stufen kamen die wenigsten Schüler, die meisten mussten in die dritte Modulstufe gehen. Sie sollen nach einiger Zeit wieder in den normalen Unterrichtsbetrieb zurückkehren – laut Andrea Herrmann-Weide vom Senat dauert dies auf der ersten Stufe meist ein halbes Jahr, auf der dritten könne dies aber auch schon mal zwei bis vier Jahre dauern. Das bedeutet eine lange Exklusion. Herrmann-Weide hält es sogar für notwendig, dass die Förderschule an der Fritz-Gansberg-Straße erhalten bleibt, um etwa gewalttätige Kinder aufzunehmen. Die Inklusion ist für diese Kinder außer Kraft gesetzt.

Probleme sollen unsichtbar bleiben

Pikant ist daran nicht nur, dass nun einige Kinder wieder ausgeschlossen werden. An der Förderschulen scheint zumindest gelegentlich eine eher chaotische Situation zu herrschen. Wir wollten vor einiger Zeit  eine Schule in Bremen besuchen, um uns mit eigenen Augen ein Bild von der Lage zu machen. Auf die Anfrage für einen Besuch teilte die Behörde mit: „Leider haben wir an der von Ihnen gewünschten Besuchsschule zur Zeit äußerst herausfordernde Problemlagen: Der Schulleiter ist seit acht Monaten erkrankt und es gibt diverse bauliche Herausforderungen, die besonderer Maßnahmen bedürfen. Aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, von einem Hospitationsbesuch Abstand zu nehmen. Es würde den normalen Ablauf an dieser Schule nicht wiederspiegeln können.“ Anders gesagt: Probleme sollen unsichtbar bleiben. Geschaut werden darf nur, wenn alles prima läuft.

Dass es in Bremen zu fragwürdigen Maßnahmen kommen musste, liegt nach Meinung vieler Kritiker an der mangelnden Personalplanung des Landes. Laut Senat ist vorgesehen, dass so viele Sonderpädagogen für die Betreuung der Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen sind, dass in der Hälfte des Unterrichts eine Doppelbesetzung möglich ist. Die Formulierung ist bewusst vorsichtig gewählt. Denn in der Realität ist das nicht gegeben und das wissen die Beamten auch: „Bei Unterrichtsausfall müssen die Kollegen Vertretung machen und das kommt so oft vor, dass die Doppelbesetzung bei weitem nicht an das geplante Maß herankommt“, sagt Christian Gloede. Um eine Überforderung der Schulen mit schwierigen Kindern zu vermeiden, fordert die GEW eine Reduzierung der Schülerzahl in Inklusionsklassen auf zehn Schüler und eine permanente Doppelbesetzung.

Weite Schulwege

Dafür müsste es weit mehr Lehrer und Sonderpädagogen geben. Wollte man die Inklusion in Bremen komplett machen, müssten es sogar noch mehr sein. Denn bisher werden blinde, hörgeschädigte und motorisch beeinträchtigte Kinder sowie schwerstmehrfach behinderte Kinder ohnehin weiter an Förderzentren unterrichtet. Kinder mit geistiger Entwicklungsstörung werden in speziellen Schwerpunktschulen unterrichtet – was teils zu weiten Schulwegen und Unzufriedenheit bei den Eltern führt. Elke Gerdes vom Elternverein „Eine Schule für alle“ kämpfte für ihre Tochter Amelie, die mit Trisomie 21 zur Welt kam, für eine Abweichung von der Regel. Auch Amelie sollte an eine Schwerpunktschule gehen. Doch Gerdes wollte, dass das Mädchen an die Schule ihres Bruders geht. Dann geschah etwas Wunderliches: Ausgerechnet im vermeintlichen Inklusionsvorreiterland Bremen musste die Mutter zwei Jahre lang gegen die Zuweisung ihrer Tochter an die Schwerpunktschule angehen. Sie schaffte es nur, weil die Schule sie unterstützte. Doch nicht alle Bremer Schulen setzen sich angesichts der personellen Probleme noch beherzt für die Inklusion einzelner Kinder ein. „Teils lassen Eltern ihre Kinder nicht mehr diagnostizieren, weil sie Angst vor einer Zuweisung an eine Schule haben, die sie nicht wollen“, sagt Pierre Hansen vom Zentralelternbeirat Bremen.

Dauerhafte Überlastung

Klar ist: Mehr Flexibilität im System würde mehr Geld kosten. „Bei schwerstmehrfach behinderten Kindern sagen viele Eltern: Setzt uns die Ausstattung aus der Förderschule in eine andere Schule und wir wollen die Inklusion – doch das ist eben nicht gewährleistet“, sagt Elke Gerdes.

Christian Gloede von der GEW sieht nicht, dass sich am sparsamen Inklusionssystem der Landespolitik etwas ändert, Memorandum hin oder her. Stattdessen werde sich der Trend wohl fortsetzen, dass Kollegen wegen der dauerhaften Überlastung häufiger krank werden, ausfallen und dass so der Mangel noch verstärkt wird. „Die Senatorin für Bildung tut nach außen hin so, als liefe alles super und gibt die Schuld für Probleme vor Ort den einzelnen Schulen“, sagt Gloede.