BLACK

SITES

TURKEY

Das Erdoğan-Regime verschleppt weltweit Anhänger der Gülen-Bewegung. Opfer erheben einen schweren Vorwurf: zu dem Programm gehören auch geheime Foltergefängnisse. Eine gemeinsame Recherche von neun internationalen Medienpartnern unter der Leitung von CORRECTIV.

11. Dezember 2018

Kosovo

Die Szene auf einer Straße am Stadtrand von Pristina könnte eine Verkehrskontrolle sein. Zwei Autos parken hintereinander auf dem Seitenstreifen, neben Sträuchern mit weißen Blüten und akkuraten Reihen von Baumsetzlingen. Zwei Polizisten steigen aus dem vorderen silbernen Wagen aus.

Dann öffnen die Polizisten die Türen des hinteren Autos. Einer reißt einen Jungen am Hals vom Rücksitz des Wagens und ringt ihn zu Boden. Eine Frau springt hinten aus dem Auto, versucht den Jungen zu befreien. Sie verschwinden zwischen den Sträuchern.

Der andere Polizist holt den Fahrer aus dem Auto, legt ihm Handschellen an. Die Polizisten führen ihn zum vorderen Auto und fahren davon.

Über die Recherche

Über internationale Kooperationen und die Recherche BlackSitesTurkey.

Video abspielen
Video abspielen

Eine Gülen-nahe Einrichtung in den USA hat bisher 49 Entführungsfälle aufgelistet. Auf der Liste der Länder, aus denen Opfer entführt wurden, befinden sich unter anderem Malaysia, Kosovo, Pakistan, Ukraine und Aserbaidschan. Die gemeinsame Recherche hat durch die Befragung von Zeugen und Auswertung von Videoaufnahmen Fälle aus dem Kosovo und Malaysia detailliert dokumentiert.

Die türkische Regierung spricht von 100 Gülenisten, die man aus dem Ausland zurückgeholt habe.

Die Entführungen finden sowohl im Ausland als auch in der Türkei selbst statt. Aufzeichnungen von Überwachungskameras zeigen Szenen, die sich in aller Öffentlichkeit abspielen. In der Türkei werden viele Opfer in schwarzen Transportern weggefahren. Im Ausland werden sie oft mit Privatjets, die dem türkischen Geheimdienst zuzurechnen sind, in die Türkei geflogen. In anderen Fällen wurden die Opfer mit einem Linienflug der staatlichen Fluggesellschaft Turkish Airlines oder einem gecharterten Flugzeug in die Türkei gebracht.

Lokale Behörden kooperieren mit dem türkischen Geheimdienst. Im Kosovo und in Malaysia hat die lokale Polizei die Opfer festgenommen und dem türkischen Geheimdienst zugeführt.

Dies ist kein rechtsstaatliches Verfahren. Normalerweise läuft eine Auslieferung in etwa so ab: ein Gericht des Landes, in dem sich der Beschuldigte aufhält, prüft vor der Auslieferung ihre Rechtmäßigkeit. Dabei spielt zum Beispiel eine Rolle, ob es ein Auslieferungsabkommen zwischen den jeweiligen Ländern gibt und ob die Vorwürfe gegenüber dem Beschuldigten auch in dem Land, das ihn ausliefern soll, eine Straftat darstellen. Dem Beschuldigten steht bei der Prüfung durch das Gericht zudem ein Anwalt zu.

In der Mongolei hat die Regierung eine Entführung verhindert, die der türkische Geheimdienst offenbar ohne Wissen der Regierung durchführen wollte.

Der Bundesregierung ist das Programm bekannt, wie aus einer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag hervorgeht. Sie verweist auf die Mitarbeit lokaler Behörden und geht nicht davon aus, dass türkische Behörden bei dem Programm die Souveränität anderer Staaten verletzen.

Die Regierung macht die Bewegung für den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich. Seitdem sind Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei und im Ausland erheblichen Repressionen ausgesetzt.

Die Gülen-Bewegung ist eine islamistische Bewegung, die sich eine Islamisierung der Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat. Da ihr in der Türkei der direkte Weg in die Politik jahrzehntelang versperrt war, hat sie sich auf die Gründung von Schulen und wohltätigen Einrichtungen konzentriert.

Früher war die Gülen-Bewegung mit der AKP verbündet und konnte nach den Wahlerfolgen der AKP viele Posten in der Türkei mit ihren Anhängern besetzen. Ab 2013 wurden die AKP und die Gülenisten jedoch zu politischen Gegnern.

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Misshandlungen und Folter in türkischen Polizeistationen und Gefängnissen weit verbreitet, wenn nicht sogar systemisch, sind. Von geheimen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Einrichtungen war bislang nichts bekannt.

Präsident Recep Tayyip Erdogan wehrte sich gegen Foltervorwürfe von Amnesty International im Juli 2016 und erklärte, es gebe „null Toleranz für Folter”. Unabhängige Beobachter bekommen jedoch keinen Zugang zu Gefängnissen, und es gibt keine parlamentarische Untersuchungskommission, die die Vorwürfe aufklären kann. Der von Erdogan nach dem Putsch verhängte Ausnahmezustand erlaubte es Beamten, Verdächtige bis zu 30 in Polizeigewahrsam festzuhalten, ohne sie einem Haftrichter vorzuführen. Bis zu fünf Tage durfte ihnen der Kontakt zu einem Anwalt verwehrt werden. Die türkische Regierung habe Schutzmaßnahmen gegen Folter außer Kraft gesetzt, schlußfolgerte Amnesty. Der Ausnahmezustand wurde im Juli 2018 beendet.

Wir haben die beiden wichtigen Zeugen Tolga und Ali mehrfach interviewt. Wir haben zudem im Kosovo und in Schweden recherchiert und dort Zeugen von Entführungen im Ausland befragt. Um die bei den Entführungen eingesetzten Flugzeuge nachzuverfolgen, haben wir Unterlagen des Flughafens Pristina, des türkischen Handelsregisters sowie Radardaten ausgewertet.

Die Kooperation

BlackSitesTurkey ist ein Kooperationsprojekt von 9 Medien aus 8 Ländern unter der Leitung des Recherchezentrums CORRECTIV. Hier finden Sie alle Veröffentlichungen.

Das Team

13 Journalisten von 9 Medien aus 8 Ländern haben über Monate hinweg gemeinsam recherchiert.

Oliver Schröm ist Chefredakteur von CORRECTIV. Er Initiator und Leiter der internationalen Recherchekooperation CumEx-Files, die im Oktober 2018 den größten Steuerraub Europas aufdeckte. Er ist Autor von zehn Enthüllungsbüchern, darunter Bestseller über Terrorismus, Geheimdienst- und Politikskandale. 2010 gründete er das Investigativ-Team des stern und leitete es bis zu seinem Wechsel zum ARD-Magazin Panorama. Seine Recherchen wurden vielfach ausgezeichnet.

Frederik Richter ist stellvertretender Chefredakteur von CORRECTIV und Koordinator des Rechercheprojektes BlackSitesTurkey. Vor seinem Einstieg bei CORRECTIV hat er zehn Jahre im Nahen Osten und Südostasien als freier Journalist und Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuters gearbeitet. Frederik gehörte zu dem internationalen Journalistenteam, das unter der Leitung von CORRECTIV im Oktober 2018 mit den CumEx-Files den größten Steuerraub Europas aufdeckte.

Christian Rohde ist stellvertretender Redaktionsleiter beim ZDF-Magazin Frontal 2. Er hat empirische Sozialforschung und Journalistik in Leipzig studiert, war freier Radioreporter für DLF, WDR, RBB und MDR und Korrespondent für epd medien. Nach einem Volontariat beim NDR arbeitete er als TV Reporter u.a. für Panorama. 2006 wechselte er zu Frontal21. Christian ist Autor mehrerer ausgezeichneter Fernsehdokumentationen.

Stefan Melichar ist Investigativ-Journlaist bei der österreichischen Plattform Addendum. Er berichtet vor allem über Wirtschaftskriminalität und Korruption, Seit einigen Jahren wirkt er regelmäßig an internationalen Kooperationen wie Offshore-Leaks, Swiss-Leaks oder Panama Papers mit. Stefan gehörte zu dem internationalen Journalistenteam, das unter der Leitung von CORRECTIV im Oktober 2018 mit den CumEx-Files den größten Steuerraub Europas aufdeckte.

Olaya Argüeso Pérez ist Datenjournalistin bei CORRECTIV. Zuvor arbeitete sie unter anderem für den wichtigsten Radiosender Spaniens, Cadena SER, als Expertin für Wirtschafts- und Finanzthemen. Olaya gehörte zu dem internationalen Journalistenteam, das unter der Leitung von CORRECTIV im Oktober 2018 mit den CumEx-Files den größten Steuerraub Europas aufdeckte. Für die spanische Tageszeitung El Pais hat sie über BlackSitesTurkey recherchiert und geschrieben.

Ruth Fend ist stellvertretende Chefredakteurin bei CORRECTIV und gehörte gehörte zu dem internationalen Journalistenteam, das unter der Leitung von CORRECTIV im Oktober 2018 mit den CumEx-Files den größten Steuerraub Europas aufdeckte. Vor ihrem Einstieg bei CORRECTIV war Ruth Redaktionsleiterin von Business Punk und Chefredakteurin von NEON und Nido. Davor arbeitete sie im Kommentar-Team der Financial Times Deutschland und berichtete für die Tageszeitung drei Jahre lang aus Peking.

Ulrich Stoll ist seit 2001 Redakteur bei dem ZDF-Magazin Frontal21 mit den Schwerpunkten Innenpolitik, Rüstung, Geheimdienste und Extremismus. Er ist Autor mehrerer Krimimalromane, Sachbücher und szenischer TV-Dokumentationen, etwa „NSU: Brauer Terror, blinder Staat“ (2012), „Putins geheimes Netzwerk“ (2016) oder „Die Akte Anis Amri“ (2017). Stoll studierte Germanistik (MA) und arbeitete bis zu seinem Wechsel zu Frontal 21 als freier TV-Autor für den WDR.

Erkan Pehlivan ist freier Journalist und schreibt zu den Themen Türkei, deutsch-türkische Beziehungen sowie Islam in verschiedenen Zeitungen. Nach dem Putschversuch in der Türkei vom Sommer 2016 schrieb er für den Münchner Kurier als einer der ersten Journalisten über Spionage durch Imame des Moscheeverbandes Ditib. Auch für das ARD-Politmagazin Panorama arbeitet er als Autor zu dem Thema Ditib und den Einfluss durch Ankara.

Rachel Goldberg arbeitet für die israelische Zeitung Haaretz, wo sie unter anderem die Titelseite der Printausgabe betreut. Davor war sie Redakteurin im internationalen Newsdesk von Haaretz. Sie ist auch Chefredakteurin von The Whistle, der ersten unabhängigen Fact-Checking-Organisation Israels. Momentan arbeitet sie im Rahmen ihres Stipendiums des Internationalen Journalistenprogramm (IJP) bei CORRECTIV.

Claus Kragh ist Europa-Redakteur der dänischen Wochenzeitung Monday Morning in Kopenhagen. Er schreibt über europäische Politik mit dem Spezialgebiet Sicherheit, Russland, saubere und schmutzige Energie wie Schwarzgeld. Davor vor arbeitete er als Korrespondent der dänischen Tageszeitung Berlingske in Paris und Brüssel wie auch als Klima-, Energie- und Nachrichtenredakteur Redakteur für Berlingske in Kopenhagen.

Ola Westerberg ist preisgekrönter Investigativ-Journalist der schwedischen Nachrichtenagentur TT. Seine Schwerpunkte sind u.a. Menschenrechte, Terrorismus und Sicherheitspolitik. Als ehemaliger Auslandsredakteur wirkte er oft an länderübergreifenden Kooperationen mit. Er war Teil des Recherchteams für die Paradies Papers und gehörte zu dem internationalen Journalistenteam, das unter der Leitung von CORRECTIV im Oktober 2018 mit den CumEx-Files den größten Steuerraub Europas aufdeckte.

Nicola Boucier ist stellvertretender Chef des Auslandsressorts von der französischen Tageszeitung Le Monde. Er hat u.a. an der Sorbonne Internationale Beziehungen studiert und danach zwei Jahre lang an den Universitäten in Istanbul und Yildiz unterrichtet. Danach begann er für Le Monde zu arbeiten, zunächst für das Europa-Ressort, dann für das Magazin. Mit Beginn der Kampagnen für die US-Wahl 2008 wechselte er in das Amerika-Ressort. Von 2011 bis 2015 war Korrespondent in Brasilien.

Lorenzo Bagnoli arbeitet für das italienische Investigativ-Redaktion IRPI (Investigativer Reporting Project Italy). Er ist spezialisiert auf Themen wie Korruption, organisierte Kriminalität und Migration. Er war beteiligt an internationale Recherchekooperation über Mafia in Afrika, Security for Sale und das Daphne-Projekt.

Benjamin Schubert ist Kommunikationsdesigner und Mediengestalter bei CORRECTIV. Benjamin verantwortete bereits das visuelle Erscheinungsbild bei dem internationalen Kooperationsprojekt CumEx-Files. Vor seinem Einstieg bei CORRECTIV arbeitete er im Verlagswesen, in der Marktforschung, im digitalen Marketing und gründetet in Berlin einen Coworking Space für Künstler.

Ivo Mayr arbeitet als Fotograf und Fotoredakteur für CORRECTIV. Er hat Fotografie in Dortmund studiert und in diversen Magazinen veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden national und international ausgezeichnet und ausgestellt. Neben seiner Arbeit für CORRECTIV arbeitet er zusammen mit Architektur-Studenten der RWTH Aachen an visuellen Umsetzung ihrer Projekte und als freier Fotograf.

Kidnapping im Staatsauftrag. Geheime Foltergefängnisse. Wir decken auf, wie die Opposition in der Türkei unterdrückt wird.

Unterstützen Sie uns dabei.

CORRECTIV ist das erste gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum. Unsere Arbeit ist spendenfinanziert. Dank Ihrer Unterstützung arbeiten wir unabhängig, investigativ und nicht gewinnorientiert.

Projektmanagement: Frederik Richter, Oliver Schröm (Leitung)
Text: Frederik Richter, Ruth Fend
Gestaltung/Umsetzung: Benjamin Schubert
Videos: Benjamin Schubert
Fotos:  Ivo Mayr, Byambasuren Byamba-Ochir/AFP (TT410)
Illustration: Ali Soozandeh/Frontal 21
Mitarbeit: Bhrikuti Rai (Recherche), Madison Lang (Übersetzung)