Unrechtmässig verschuldet
Personen, die von 10.50 Franken Nothilfe leben, sollen 30 Franken pro Tag Strafe zahlen – so steht es in zahlreichen Zürcher Strafbefehlen. Dabei heisst es längst im Gesetz: Mehr als 10 Franken sind unzulässig. Trotzdem halten Staatsanwaltschaften an der Praxis fest.
Es war gegen zehn Uhr an einem Mittwoch im April dieses Jahres, als die Zürcher Kantonspolizei den ehemaligen Luftschutzbunker in Urdorf betritt. Der Eingang aus Beton, hineingebaut in einen Hügel, unter dem Menschen früher Schutz vor Bomben suchten. Und heute jene untergebracht werden, die in die Schweiz kommen, aber nicht bleiben dürfen. So wie Abdelkader Saidi.
An jenem Morgen nehmen die Beamten ihn fest. Die Nacht verbringt er nicht wie sonst im Rückkehrzentrum (RKZ) auf engstem Raum und ohne frische Luft, sondern in Haft.
Der Grund für seine Festnahme, so steht es im Strafbefehl, lautet: rechtswidriger Aufenthalt. Saidi, der eigentlich anders heisst, hat keinen gültigen Aufenthaltsstatus in der Schweiz. Sein Asylgesuch wurde abgelehnt.
Weil er bisher nicht in sein Herkunftsland ausgereist ist, muss er nun Strafe zahlen. Gleichzeitig wurden zwei zuvor auf Probezeit ausgesprochene Strafen fällig. Insgesamt soll Saidi nun eine Geldstrafe von über 120 Tagessätzen zu je dreissig Franken zahlen. Mit den dazugehörigen Verfahrenskosten und bereits abgesessener Haft ergibt sich daraus eine Rechnung von über 4’250 Franken.
404 Tage ohne Einkommen
Nur: Abdelkader Saidi lebt von der gesetzlich zugesicherten Nothilfe der Schweiz. Die beträgt im Kanton Zürich 10.50 Franken pro Tag und soll die Ausgaben für den täglichen Grundbedarf eines Menschen decken. Um mit diesem Einkommen seine Geldstrafe zu bezahlen, müsste Saidi während circa 404 Tagen auf Essen, Hygieneartikel und Kleidung verzichten. 404 Tage, die er rechtswidrig in der Schweiz verbringt. Während derer er erneut gebüsst werden könnte.
Kann es rechtsstaatlich zulässig sein, dass Saidi gut dreizehn Monate auf seine Nothilfe verzichten müsste, um seine Strafen zu bezahlen? Was bedeutet es für Menschen wie Saidi, wenn sie diese Geldstrafen nicht bezahlen können? Und was sagt es über einen Rechtsstaat aus, der Menschen eine Nothilfe zusichert – sie gleichzeitig aber deutlich höheren Strafen aussetzt?
In einer gemeinsamen Recherche untersuchten CORRECTIV.Schweiz und das Lamm zahlreiche Strafbefehle und sprachen mit Nothilfebeziehenden, Anwältinnen und Anwälten.
Wir zeigen: Die Geldstrafe von Abdelkader Saidi ist kein Einzelfall. In etwa fünfzehn Strafbefehlen, die den Redaktionen von CORRECTIV.Schweiz und das Lamm vorliegen, wurden Nothilfebeziehenden im Kanton Zürich seit 2023 Strafen zwischen 300 und 4600 Franken ausgestellt – immer zu einem Tagessatz von dreissig Franken. Und das, obwohl die Staatsanwaltschaft gemäss Strafgesetzbuch und der Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich von Nothilfebeziehenden nur zehn Franken Strafe pro Tag verlangen dürfte. Wieso halten sich die Zürcher Staatsanwaltschaften nicht daran?
Diese Recherche entstand zusammen mit dem Onlinemagazin Das Lamm.
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Die Bemessung einer Geldstrafe setzt sich im Schweizer Recht aus zwei unabhängigen Schritten zusammen. Zunächst bestimmt das Gericht bzw. im Fall eines Strafbefehls die Staatsanwaltschaft die Anzahl der Tagessätze nach dem Verschulden der Tatperson. Im Anschluss daran wird die Höhe des Tagessatzes nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen festgelegt.
Laut Strafgesetzbuch beträgt ein Tagessatz in der Regel mindestens dreissig Franken, doch kann dieser bei finanziellen Verhältnissen am Existenzminimum auf zehn Franken gesenkt werden. Dazu zählen eben auch jene Menschen, die von Nothilfe leben. Die Gesamtstrafe ergibt sich dann erst aus der Multiplikation von Zahl und Höhe der Tagessätze. Im Fall von Abdelkader Saidi würde sich seine Geldstrafe bei einem Tagessatz von zehn statt dreissig Franken um 2’400 Franken reduzieren.
Systematik trotz Gesetz
Von Unwissen kann keine Rede sein: Bereits im September 2023 konfrontierten die demokratischen Jurist*innen Zürich (DJZ), ein Verband, der sich nach eigenen Angaben „für Solidarität mit Benachteiligten in Recht und Politik“ einsetzt, die Oberstaatsanwaltschaft mit dieser Praxis. Der Verband wies die Oberstaatsanwaltschaft darauf hin, dass einzelne Staatsanwältinnen und Staatsanwälte den Tagessatz im Strafbefehlsverfahren konsequent bei dreissig Franken festsetzen – auch, wenn die zu bestrafende Person unbestritten bedürftig sei.
Im Schreiben weist die DJZ darauf hin, dass Betroffene, wenn sie sich gegen den hohen Tagessatz wehren wollen, erst Einsprache und dann ein Gerichtsverfahren bestreiten müssen. Das sei kontraproduktiv, da die Gerichte und Inkassostellen sowieso schon hoch ausgelastet sind.
Dazu kommt: Halten Betroffene keine Einsprache, riskieren sie einen Gefängnisaufenthalt. Dieser steigert die Kosten nochmals – Kosten, für die der Steuerzahler aufkommt.
Zudem zeigte der Verband, dass sich die Staatsanwaltschaften seiner Erfahrung nach dabei auf eine interne Weisung beziehen, die besagt, dass alle Strafbefehlsverfahren einen Tagessatz von mindestens dreissig Franken vorsähen. Den Redaktionen von CORRECTIV.Schweiz und das Lamm liegt das Schreiben der DJZ an die Oberstaatsanwaltschaft vor.
Die Anwältin Nadia Zink ist Vorstandsmitglied der DJZ. Auf dem Tisch ihres Büros im Kreis 4 liegen regelmässig Strafbefehle, die an abgewiesene Asylsuchende ausgestellt wurden. Und zwar stets mit Tagessätzen à dreissig Franken. Sie sagt: „Wir haben Kenntnis, dass diese Strafbefehle immer wieder, wenn nicht sogar systematisch, in dieser Höhe ausgestellt werden.“ Und zwar von allen Staatsanwaltschaften des Kantons, etwa Zürich-Limmat und Limmattal-Albis. Das weise auf eine Systematik hin.
Oberstaatsanwaltschaft bleibt tatenlos
In ihrer Antwort, stritt die Oberstaatsanwaltschaft 2023 alle Vorwürfe der DJZ ab. Zudem betonte sie, dass keine interne Weisung an die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte bestehe.
Danach passierte lange nichts.
Doch Zink und die Demokratischen Jurist*innen erhielten weiterhin Strafbefehle weitergeleitet: Allein aus dem Jahr 2024 liegen ihnen 19 Fälle vor, in denen Nothilfebeziehende mit Tagessätzen in Höhe von dreissig Franken bestraft wurden.
Auch CORRECTIV.Schweiz und das Lamm liegen fünf Strafbefehle vor, die seit Mai diesen Jahres an abgewiesene Asylsuchende ausgestellt worden sind. Noch immer mit einem Tagessatz in Höhe von dreissig Franken.
Juristin Nadia Zink sagt: „Die ursprüngliche Idee des Tagessatzsystems ist gewesen, Menschen mit geringem Einkommen gleich stark zu bestrafen wie solche mit hohem Einkommen.“ Dieses Ziel werde mit der heutigen Praxis verfehlt.
Auf Nachfrage bei der Oberstaatsanwaltschaft weist diese den Vorwurf der Systematik weiterhin von sich. Sie betont zudem, dass die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte nach den von der DJZ eingebrachten Hinweisen im Rahmen einer internen Information ausdrücklich auf den entsprechenden Gesetzesartikel aufmerksam gemacht worden seien.
„Die Bestimmung der Tagessatzhöhe liegt letztlich in der Kompetenz des verfahrensleitenden Staatsanwalts bzw. der verfahrensleitenden Staatsanwältin. Diese handeln unabhängig und legen die Tagessatzhöhe stets auf Grundlage der konkreten Umstände des Einzelfalls fest“, schreibt die Oberstaatsanwaltschaft.
Gemeinnützige Arbeit als mögliche Lösung
Wenn Abdelkader Saidi seine Geldstrafe nicht bezahlt, folgt über kurz oder lang die Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe – die Anzahl der Tagessätze wird dann in Hafttage umgewandelt.
Dass unbezahlte Geldstrafen in Gefängnisstrafen enden, schadet nicht nur den Beschuldigten. Ein Tag Gefängnis kostet den Staat circa 300 Franken. Personen mit Schweizer Pass können die Ersatzfreiheitsstrafe umgehen, indem sie ihre Geldstrafen in Form von gemeinnütziger Arbeit begleichen. Abgewiesene Asylsuchende hingegen sind davon ausgeschlossen.
Bisher hielt das Bundesgericht in einem Grundsatzentscheid fest, dass sich die Anordnung gemeinnütziger Arbeit nur rechtfertigen lasse, solange wenigstens Aussicht darauf bestehe, dass die Betroffenen in der Schweiz bleiben dürfen. Saidi würde somit nach bisheriger Rechtsprechung der Zugang zur gemeinnützigen Arbeit verwehrt bleiben. Weil er sich die Bezahlung der Strafe nicht leisten kann, bleibt so nur der Gefängnisaufenthalt.
Immerhin das könnte sich bald ändern. Auf Anfrage schreibt die Bussenanlaufstelle, die für die gemeinnützige Arbeit zuständige Stelle des Justizdepartments, dass die entsprechenden Richtlinien derzeit überarbeitet werden. „Es wird damit gerechnet, dass diese per 1.1.2026 in Kraft gesetzt werden. Werden die Richtlinien so verabschiedet wie geplant, wird es grundsätzlich möglich sein, dass Personen ohne Aufenthaltsrecht gemeinnützige Arbeit leisten können“, heisst es in der Stellungnahme. Damit könnten künftig Bussen, Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten durch gemeinnützige Arbeit abgegolten werden.
Dieser Artikel ist Teil einer dreiteiligen Serie zum Thema “Zwischen Gefängnis und Nothilfe – Razzien und Strafbefehlsflut in Zürcher Rückkehrzentren” von CORRECTIV.Schweiz und dem Onlinemagazin das Lamm. Die Serie beschäftigt sich mit dem Umgang der Justiz mit abgewiesenen asylsuchenden Personen und den oft fragwürdigen Methoden, die angewendet werden, um die Betroffenen aus dem Land zu bringen.
Diese Recherche wurde finanziell unterstützt von investigativ.ch: Recherche-Fonds der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung.
Text & Recherche: Hanna Fröhlich und Annika Lutzke (das Lamm)
Redaktion: Das Lamm, Janina Bauer, Marc Engelhardt
Faktencheck: Janina Bauer
Illustration: Iris Weidmann
Kommunikation: Charlotte Liedtke
