Gesundheit

Steuerbetrug: Schwere Vorwürfe gegen deutsche „Flugärzte“

Zwölf deutsche Ärztinnen und Ärzte sollen Einnahmen an der Steuer vorbeigeschleust haben: Sie alle sind für die Zürcher Firma PMEDA tätig, die wegen problematischer Gutachten in der Kritik steht. In der Schweiz bleibt dies bisher folgenlos. Nun geraten die Mediziner in Deutschland unter Druck.

von Gabriela Keller

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Deutsche Ärzte erstellen Gutachten in der Schweiz. Nun ermittelt die Steuerfahndung wegen Steuerbetrug. Grafik: Nina Bender

Anfang April durchsuchen Steuerfahnder mindestens zehn Wohnungen und Geschäftsräume in ganz Deutschland. Nach Recherchen von CORRECTIV und der SRF-Sendung „Kassensturz“ wird insgesamt gegen zwölf Personen ermittelt. Der Vorwurf: Steuerbetrug. Die Verdächtigen: Ärztinnen und Ärzte, verschiedene Fachrichtungen, aber es gibt eine Gemeinsamkeit. 

Ob sich der Verdacht gegen sie erhärtet, ist noch unklar. Das Finanzamt Ulm leitet die Ermittlungen und äußert sich zu den Razzien auf Anfrage nicht. Die Ärzte arbeiten offenbar alle als Gutachter für die Zürcher Firma PMEDA, gegen die sich in der Schweiz seit Jahren schwerwiegende Vorwürfe richten. Manche von ihnen führen private Praxen an exklusiven Adressen deutscher Städte. 

Eine weitere Übereinstimmung: Die Namen aller Ärzte standen lange, gedruckt auf billiges Klebeband, auf dem Briefkasten eines schmalen Reihenhauses in der Zürcher Freyastraße  – womöglich ein vorgetäuschter Praxissitz in der Schweiz, wie die Steuerermittler vermuten. Inzwischen sind fast die Hälfte der Namen verschwunden, und die Klebestreifen wurden mit Schildern ersetzt.  Aus Ermittlerkreisen hieß es aber, es gehe „in der Summe“ um einen großen Fall und um zum Teil „sehr, sehr hohe Einkünfte“.

Der PMEDA-Chef gehört zur Jägermeister-Unternehmerfamilie

Die mutmaßliche Steueraffäre ist verknüpft mit einem größeren Geschäftsmodell, an dem in der Schweiz Tausende Schicksale hängen: Als Gutachter für die PMEDA AG untersuchen die Ärztinnen und Ärzte im Auftrag der Schweizer Sozialversicherungen Schwerkranke und entscheiden maßgeblich mit, wer eine Invalidenrente erhält.

Auf Fragen zu den Ermittlungen antwortet die PMEDA nicht: „Zu Fragen zur Besteuerung ihrer Einkünfte können nur die Gutachter selbst und nicht wir Stellung nehmen.“

Die Firma PMEDA wird von dem deutschen Neurologen Professor Henning Mast, einem Erben der Jägermeister-Unternehmerfamilie, geführt. Gegen Mast selbst wird nicht wegen möglicher Steuerdelikte ermittelt. Seine Firma gehört zu den größeren und umstrittensten Akteuren auf dem Gutachtenmarkt in der Schweiz. Seit Jahren shutteln Ärztinnen und Ärzte aus Deutschland in die Schweiz, um Versicherte zu begutachten: „Flugärzte“, wie Schweizer Medien schreiben.

Wie es aussieht, fallen die Gutachten auffällig oft zum Nachteil von Versicherten aus: In der Schweiz steht die Firma seit Jahren in der Kritik, die Rede ist von Widersprüchen und groben Fehlern in den Gutachten. Mehrere Strafverfahren laufen gegen die PMEDA und einige ihrer Ärzte.

Die Firma schaltet auf Anfrage von CORRECTIV und „Kassensturz“ eine Anwaltskanzlei ein, weist die Vorwürfe zurück und spricht von einer „Kampagne von Zürcher Geschädigtenanwälten“ und der Sendung „Kassensturz“ gegen medizinische Gutachtenstellen: „Alle Prämienzahler haben ein Interesse daran, dass Rentengesuche seriös abgeklärt werden.“ 

In Folge fragwürdiger Gutachten vor dem Nichts

SRF und andere Schweizer Medien berichten seit Jahren über Fälle, in denen Versicherten infolge fragwürdiger Gutachten eine Rente versagt blieb. Recherchen von CORRECTIV und „Kassensturz“ zeigen nun auffällige Ungereimtheiten: In mehreren Fällen bleiben ärztliche Berichte offenbar unberücksichtigt. Mitunter werden bereits diagnostizierte Krankheitsbilder anscheinend nicht abgeklärt, und zum Teil tauchen in den Gutachten Untersuchungen auf, die nie durchgeführt worden sein könnten. 

Für die Betroffenen sind die Folgen verheerend. Einige Schwerkranke, mit denen CORRECTIV und SRF sprachen, standen in Folge von fehlerhaft wirkenden Gutachten ohne Leistungen vor dem Nichts. Manche lebten jahrelang auf Pump, andere haben all ihre Ersparnisse aufgezehrt. „Da ist einfach nur ohnmächtige Wut“, sagt einer von ihnen. „Das ist so ungerecht. Wenn ich daran denke, dass weitere Menschen in diese Mühle geraten. Da wird mir übel.“

In der Schweiz gibt es keine wirksame Aufsicht über den 100-Millionen-Markt der Gutachter. Das öffnet die Tür für Anbieter, die auf Kosten von Schwerkranken lukrative Geschäfte machen. „Die Kontrolle funktioniert nicht“, sagt Martin Hablützel, Fachanwalt für Versicherungsrecht in Zürich. Der Spardruck im Sozialsystem ist hoch. Gutachten, die Antragstellern Gesundheit attestieren, dürften den Versicherungen also gelegen kommen. Der Verdacht der Gefälligkeitsgutachten steht im Raum. Hablützel sagt: „Man hat ein System, das Missbräuche, wenn nicht fördert, so zumindest nicht verhindert.“ 

Die PMEDA wehrt sich gegen die Kritik. Die Vorwürfe entbehrten „jeder sachlichen Grundlage“, schreibt ihr Anwalt. Zu einzelnen Gutachten könne sich die Firma „aus Gründen des Patientengeheimnisses“ nicht äußern. Allgemein teilt sie mit: „Tatsache ist: In Gerichtsverfahren um Invalidenrenten sind Gutachten laufend Streitgegenstand. Es geht ums Geld – sowohl für die Gesuchsteller als auch deren Anwälte.“

Frontalhirnsyndrom interessiert offenbar kaum

Wie lückenhaft die Gutachten zum Teil wirken, zeigt der Fall Marco Reuter. Die Namen aller Betroffenen sind geändert, da es in den Gutachten um intime Details geht. 

Reuter war Tankstellenpächter, dann wuchs in seinem Kopf ein großer Tumor, der beschädigte sein Gehirn, in der Fachsprache heißt das Frontalhirnsyndrom. Die Folgen: gravierende Persönlichkeitsveränderungen, wahnhafte Störungen. Hinzu kamen Depressionen. „Ich habe mich zum Negativen verändert“, sagt er. „Das habe ich nicht gewollt, das ist die Folge vom Hirntumor.“

Im November 2015 sollte er sich bei der PMEDA begutachten lassen. Das Frontalhirnsyndrom war bereits mehrfach diagnostiziert. Bei der Begutachtung wurde dieser für Reuters Zustand zentrale Befund offenbar nicht viel Aufmerksamkeit zuteil. In dem Gutachten heißt es nur knapp: Es liege „kein Anhalt“ für ein Frontalhirnsyndrom vor.

Aufgrund des PMEDA-Gutachtens verweigert ihm die Versicherung eine Rente. Er wehrte sich, zog vor Gericht. Dort scheiterte er. „Der Mensch ist stärker als man denkt“, sagt er, „aber irgendwann geht die Kraft aus.“  Sechs Jahre später wurde Reuter erneut begutachtet. Das zweite Gutachten attestiert ihm eine 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit und kritisiert die PMEDA-Ärzte scharf: „2016 waren die Grundlagen hinsichtlich der Entwicklung eines hirnorganischen Psychosyndroms bereits hinreichend bekannt und hätten als solches identifiziert werden müssen.“ Da dies nicht geschah, habe die Versicherung „auf der Grundlage falscher Annahmen“ entschieden. Irritiert schreiben die Ärzte: Warum die PMEDA das Syndrom nicht abgeklärt hätten, „erschließt sich nicht“. 

Widersprüche und Diskrepanzen im Gutachten

Das PMEDA-Gutachten wirft weitere Fragen auf: „Unterberger Tretversuch sicher und ohne pathologisches Drehtendenz“, heißt es darin. Er dient dazu, Gehirn- und Gleichgewichtsstörungen zu ermitteln. Die Sache ist nur: Reuter sagt, den Test habe er gar nicht gemacht. Beweisen lässt sich dies nicht. Eines scheint seine Aussage zu untermauern: Die zweite Gutachtenstelle hat den Versuch durchgeführt – und deutliche Probleme festgestellt: „Unterberger-Tretversuch unsicher mit ungerichteter Fallneigung.“ 

CORRECTIV liegen Informationen zu drei weiteren PMEDA-Gutachten vor, in denen der Versuch dokumentiert ist – womöglich ohne dass er tatsächlich gemacht wurde. In einem der Fälle gibt es ein Tondokument, das die Begutachtung wiedergibt. In den anderen liegen Aussagen der Versicherten vor, in einem davon vor Gericht. In allen Fällen will PMEDA-Chef Henning Mast selbst die Versuche durchgeführt haben. Auf Anfrage schreibt die Firma nichts dazu, ob die Versuche nun durchgeführt wurden oder nicht. Sie teilt mit, es dürften keine Tonbandaufnahmen von körperlichen Untersuchungen gemacht werden. 

Mehrere Gerichtsurteile stellen der Firma in den recherchierten Fällen ein vernichtendes Zeugnis aus: „Insgesamt lassen sich dem PMEDA-Gutachten keine in jeder Hinsicht zuverlässigen Aussagen zur Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde und Symptome ableiten“, heißt es in einem Urteil von 2019. Das Gutachten sei damit ungeeignet als Grundlage für die Versicherung: Es lägen keine „beweiskräftigen medizinischen Angaben“ vor, die eine „zuverlässige Beurteilung der Arbeitsfähigkeit erlauben würden.“  

Zu dem konkreten Urteil äußert sich die PMEDA nicht und spricht von „aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen.“ In ihrer Stellungnahme verweist die Firma auf  „über 100 Gerichtsfälle zu Invalidenrenten“, in denen das Bundesgericht  ihre Gutachten bestätigt habe: „Die Qualität der PMEDA-Gutachten ist somit gerichtlich bestätigt.“  

Invalidenrente
Die Schweizer Invalidenrente (IV-Rente) ist vergleichbar mit der deutschen Erwerbsminderungsrente: Sie wird an Versicherte gezahlt, die aufgrund von Erkrankungen nicht mehr arbeiten können. Um zu überprüfen, ob Versicherte Anspruch darauf haben, können die IV-Stellen der Kantone anerkannte Gutachterstellen beauftragen. Im Jahr 2021 gab die Sozialversicherung für Gutachten 98 Millionen Franken aus, wie das gemeinnützige Schweizer Internetmagazin Infosperper berichtet. Die PMEDA erhielt demnach Aufträge in einer Höhe von 4,1 Millionen Franken. Ein Schweizer Franken entspricht knapp einem Euro. Die Begutachtung ist in oft komplex und aufwändig: Bei polymedizinischen Gutachten sind Untersuchungen von mindestens vier Fachärzten erforderlich. Im Jahr 2021 erteilten die IV-Stellen insgesamt 5.643 Aufträge für polymedizinische Gutachten, davon 258 an die PMEDA.

 

Etwa 30 Gutachtenstellen gibt es in der Schweiz. Die PMEDA sticht mit auffällig niedrigen Quoten von Arbeitsunfähigkeit hervor: Rémy Wyssmann, Jurist und Politiker der rechtskonservativen SVP, hat sich vor Gericht mit einer Klage nach Öffentlichkeitsgesetz Einsicht in alle PMEDA-Gutachten aus dem Kanton Solothurn von 2013 bis 2020 erstritten und diese ausgewertet, 79 Gutachten. Nur knapp 18 Prozent der Begutachteten seien laut seiner Analyse als arbeitsunfähig eingestuft worden und erhielten eine Rente. 

Wyssmann sieht darin ein beunruhigendes Muster: „Man hat gesehen, dass eine sehr große Anzahl bei den PMEDA-Gutachten immer zu Lasten der Versicherten ausfallen und nicht zu Lasten der Versicherung. Und das ist schon seltsam“, sagt er. „Wir haben den Verdacht, dass PMEDA-Gutachter versuchen, lukrative Aufträge so zu bekommen.“

Die PMEDA weist das zurück: „Das Outcome von Gutachten für die Invalidenversicherung hat keinen Einfluss auf die Vergabe von Gutachten.“ Die Firma verweist darauf, dass Aufträge für aufwändige Gutachten inzwischen nur noch per Los vergeben werden. 

Demütigende Verfahren und das Gefühl, ausgeliefert zu sein

Allerdings deutet eine Analyse der offiziellen Daten der kantonalen Invaliditätsstellen von 2022 in eine ähnliche Richtung: Demnach ist bei der PMEDA der Anteil der Versicherten, die als praktisch gesund und uneingeschränkt arbeitsfähig bewertet werden, relativ hoch: In der untersten Kategorie – null bis zehn Prozent Arbeitsunfähigkeit – landen bei der PMEDA prozentual doppelt so viele Menschen wie im Durchschnitt aller Gutachtenstellen.

Mehrere Schwerkranke, mit denen CORRECTIV und „Kassensturz“ sprachen, beschreiben demütigende Verfahren und das Gefühl, den Gutachtern ausgeliefert zu sein. Der Einsatz deutscher Ärztinnen und Ärzte vertieft nach Ansicht von Kritikern das Ungleichgewicht: „Was sichtbar ist: Dass sie die Schweizer Verfahren und rechtliche Terminologie häufiger nicht präsent haben“, sagt Alex Fischer, Bereichsleiter Sozialpolitik bei der Behinderten-Selbsthilfeorganisation Procap. Hinzu kommt: Den „Flugärzten“ kann ihre Reputation in der Schweiz egal sein. Die schlechte Presse können sie bislang einfach hinter sich lassen: „Wer stark auf Flugärzte abstellt, muss auch weniger Verantwortung übernehmen“, sagt Fischer. „Sonst ist man stärker Ansprechpartner und muss Rede und Antwort stehen.“

PMEDA begründet den Einsatz deutscher Ärztinnen und Ärzte mit dem „Fachkräftemangel“ in der Schweiz.

Rechtslage für Betroffene in Deutschland
Auch in Deutschland gibt es aufgrund mutmaßlich fehlerhafter Gutachten mitunter Vorwürfe gegen Ärzte und Sachverständige: „Dass manchmal Gutachten erstellt werden, die beim ersten Lesen schon nicht leitliniengerecht sind, kommt immer wieder vor“, sagt die Berliner Versicherungs- und Medizinrechtsanwältin Nadine Liske. „Dann ist auch die Gefahr, dass auch die Diagnose falsch ist, relativ hoch.“ Dennoch seien die rechtlichen Hürden für Versicherte erheblich: Geht der Streit vor Gericht, könnten sich Anwalts-  Gerichts und Sachverständigenkosten durchaus auf rund 20.000 Euro summieren, oder mehr oder weniger, je nach Höhe der versicherten Rente. „Es ist schwierig“, sagt die Juristin. „Wenn die Betroffenen nicht rechtsschutzversichert sind, oder vermögend, sind sie ziemlich ausgeliefert.“

 

Für ein polymedizinisches Gutachten, an dem bis zu acht Fachärzte beteiligt sind, zahlt die Schweizer Sozialversicherung laut Tarifvereinbarung zwischen 12.000 und 20.000 Franken. Nach wie vor sieht das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) keinen Grund, die PMEDA auszuschließen. „Das BSV war von Anfang an über die Strafanzeigen und den Stand der Verfahren informiert und verfolgt diese laufend“, teilt die Behörde mit. Solange keine rechtskräftigen Urteile vorlägen, gelte die Unschuldsvermutung.“

PMEDA-Chef Henning Mast führt einen Professoren-Titel der Berliner Charité und ist als Neurologe an einer Zürcher Privatklinik tätig. Bei einer Polizei-Vernehmung 2015 gab er sein Vermögen mit 500.000 Franken an; das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Doch seine Angabe war offenbar weit untertrieben. Nach Recherchen im Umfeld der Familie gehört Mast ein rund 700 Hektar großes Forstgut südlich von München. Laut juristischen Dokumenten, die CORRECTIV vorliegen, erbte er 36 Prozent des Vermögens seines Vaters, des langjährigen Jägermeister-Chefs Günter Mast, das Gut eingeschlossen. Der Nachlass betrug demnach mindestens 18 Millionen Euro. 

Die Anwälte der PMEDA antworten nicht auf Fragen dazu, man äußere sich nicht „zu Privatangelegenheiten.“

Zu den laufenden Strafverfahren gegen die PMEDA kamen in den vergangenen Monaten drei Strafanzeigen hinzu. Bislang laufen Verfahren ins Leere oder ziehen sich seit Jahren hin. In einem Fall wurden die Ermittlungen gerade nach mehreren Jahren eingestellt. In einem weiteren Fall dauerte es sechs Jahre, bis es nach der Anzeige zu einer ersten Vernehmung von PMEDA-Chef Henning Mast bei der Polizei kam. 

PMEDA schreibt dazu: „Es geht um viel Geld. Da wird auch zum Mittel der Strafanzeigen gegriffen.“ Jede und jeder könne Strafanzeigen einreichen, „auch wenn sie haltlos sind“. 

Strafanzeigen wegen offenbar fehlerhafter Gutachten

Nun aber geraten einige beteiligte Ärzte vor allem in Deutschland unter Druck: Zwölf Ärztinnen und Ärzte sind im Visier der Steuerfahnder. Auch könnten den beteiligten Medizinern in Deutschland weitere strafrechtliche Verfahren drohen – wegen Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse. Nach Recherchen von CORRECTIV und „Kassensturz“ haben vier Betroffene Strafanzeigen gegen Mast und weitere Ärzte erstattet. Die zuständige Staatsanwaltschaft München II bestätigt, dass „verschiedene Strafanzeigen“ eingegangen seien. Die Staatsanwaltschaft prüfe derzeit, „ob der Anfangsverdacht einer in Deutschland verfolgbaren Straftat“ vorliege.

Straftatbestand Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse
Der Tatbestand Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse rückte zuletzt während der Corona-Pandemie in den Fokus: Im Zusammenhang mit falschen Masken-Attesten und fingierten Impfzertifikaten hat der Gesetzgeber den Paragraphen 278 im November 2021 verschärft. Henning Lorenz, Experte für Straf- und Medizinrecht an der Universität Halle, geht davon aus, dass auch Gutachten unter das Gesetz fallen. Möglich seien Geld- oder Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren. „Wenn die unrichtigen Angaben häufiger oder gegen Zahlung gemacht wurden, könnte es sich sogar um einen besonders schweren Fall handeln – da sind Freiheitsstrafen von drei Monaten bis fünf Jahren vorgesehen“, sagt der Jurist. Dies sei der Fall, wenn ein Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt. Unter den Begriff „Bande“ könne auch eine Firmenstruktur fallen. Es müsse aber nachweisbar sein, dass die Ärzte vorsätzlich gehandelt haben, also nicht zum Beispiel aus Nachlässigkeit. In Bezug auf die PMEDA liegen Beweise hierfür nicht vor.

 

Der Tatbestand Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse rückte zuletzt während der Corona-Pandemie in den Fokus: Im Zusammenhang mit falschen Masken-Attesten und fingierten Impfzertifikaten hat der Gesetzgeber den Paragraphen 278 im November 2021 verschärft. Henning Lorenz, Experte für Straf- und Medizinrecht an der Universität Halle, geht davon aus, dass auch Gutachten unter das Gesetz fallen. Möglich seien Geld- oder Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren. „Wenn die unrichtigen Angaben häufiger oder gegen Zahlung gemacht wurden, könnte es sich sogar um einen besonders schweren Fall handeln – da sind Freiheitsstrafen von drei Monaten bis fünf Jahren vorgesehen“, sagt der Jurist. Dies sei der Fall, wenn ein Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt. Unter den Begriff „Bande“ könne auch eine Firmenstruktur fallen. Es müsse aber nachweisbar sein, dass die Ärzte vorsätzlich gehandelt haben, also nicht zum Beispiel aus Nachlässigkeit. In Bezug auf die PMEDA liegen Beweise hierfür nicht vor.

„Mein Antrieb ist, dass ich verhindern möchte, dass weitere Personen das durchmachen, was ich durchgemacht habe“, sagt einer der Anzeigenerstatter, Jochen Wiegert. Er war ein erfolgreicher Mann, Softwareingenieur von Beruf. 2015 schlug ihm mit voller Wucht eine Brandschutztür vor den Kopf. Er stürzte und prallte mit Hinterkopf und Rücken auf den Boden.

Der Unfall hinterließ bleibende Schäden: verminderte Merkfähigkeit, verlangsamtes Denken, Konzentrationsprobleme, starke Schmerzen, Schwindel, vor allem einen Tinnitus, den ein Arzt mit über 80 Dezibel maß. Wiegert kann deshalb kaum schlafen, hört schlecht und findet keine Ruhe. „Ich habe ein Flugzeug im Kopf“, sagt er. „Ständig, pausenlos.“

Auch ein Halswirbel hat sich verschoben, in zwei Fingern hat er kein Gefühl. Alle diese Symptome sind nachgewiesen in ärztlichen Befunden, die CORRECTIV vorliegen. 

Im Juni 2021 wird er von der PMEDA begutachtet. Fünf Ärztinnen und Ärzte untersuchen ihn. Tondokumente belegen den Verlauf der Untersuchung. Auffällig ist zunächst: In dem Gutachten ist eine Untersuchungsdauer von je 90 bis 120 Minuten angegeben. Geht man nach den Belegen, verbrachten einige der Ärzte gerade 30 oder 40 Minuten mit Wiegert. 

„Das tut so weh.“ – „Trotzdem mal, auch wenn es wehtut.“

Gegenüber dem Neurologen beschreibt Wiegert die Schmerzen: „Es zuckt wie ein Blitz vor den Augen. Das ist, als hätte der Schmerz auf dem Höhepunkt beim Schlag auf den Kopf nicht mehr aufgehört.“ Er sagt: „Es geht bis zur Ohnmacht. Ich spüre das immer.“

Dann soll er Hose, Socken und Schuhe ausziehen. Es gelingt ihm kaum, er keucht und sagt, ihm wird schwarz vor Augen. Der Arzt führt die Untersuchungen weiter, er soll sich auf Zehenspitzen stellen, dann vorbeugen, Wiegert kämpft sich hörbar ab. „Setzen Sie sich bitte mal auf die Liege“, sagt der Arzt. Und: „Ich halte Ihre Augenlider hoch und drehe den Kopf. Passiert nichts Schlimmes.“ – „Ah! Nicht, au. Das tut weh“, ruft der Patient. 

Wiegert soll seine rechte Ferse auf das linke Knie setzen. „Das tut so weh“, sagt er. „Trotzdem mal, auch wenn es weh tut.“ Dann andersherum. „Aaau.“ – „Das tut weh?“

Das Gutachten widerspricht dem Tondokument an mehreren Stellen: „Während der 90-minütigen Begutachtung wirkt der Versicherte nicht schmerzgeplagt“ oder „anderweitig beeinträchtigt“. Und: „Seitliche Kopfbewegung beidseitig kräftig.“ Davon, dass Wiegert mehrfach laut vor Schmerz ausruft und stöhnt, steht nichts in dem Gutachten. Stattdessen legt der Arzt nahe, Wiegert simuliere: „Es besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen der Angabe permanenter auch starker bis stärkster Schmerzen und dem klinischen Befund.“

Kantonsgericht attestiert Mängel im Gutachten

Insgesamt kommen die Gutachter zu dem Ergebnis: Wiegert sei praktisch voll arbeitsfähig. Auch er geht juristisch gegen dagegen vor. Im September 2022 weist das Gericht des Kantons Aargau das PMEDA-Gutachten in Teilen als qualitativ unzureichend zurück: Es lasse wichtige Arztberichte außer Acht und basiere mitunter „nicht auf einer vollständigen Würdigung“ der Aktenlage. Zum Teil bleibe „unklar”, auf welchen Befund sich die Ärzte stützten. Die Annahme, Wiegertes Zustand werde sich verbessern, sei „nicht nachvollziehbar“. Insgesamt fehle es an „zureichenden sachverhaltlichen Abklärungen“.

Auf konkrete Fragen zu dem Fall antwortet die PMEDA nicht.

Der Fall Wiegert zeigt Parallelen zu einem weiteren Fall: Melanie Hahne geht es psychisch extrem schlecht, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Ängste. Bei Stress nässt sich ein und hat oft das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Versucht sie zu arbeiten, ist sie nach kurzer Zeit wie weggetreten, sagt sie: „Nach einer Stunde ist bei mir Aus die Maus.“

In einem Schreiben ihres Hausarztes steht: „Als ihr Hausarzt ist es für mich nicht realistisch, dass sie jemals wieder in irgendeiner Form arbeiten gehen kann.“

Eine Panikattacke taucht im Gutachten nicht auf

Die PMEDA sah das anders und attestierte ihr 2022 eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit; also Anspruch auf eine halbe Rente. Auch dieses Gutachten scheint Fehler aufzuweisen, zudem gibt es ein Tondokument, das einen beklemmenden Eindruck vermittelt. Gegenüber einem Internisten schildert Hahne Schwindelgefühle und starke, lähmende Kopfschmerzen. 

„Sie beschreiben da eine unglaubliche Menge an Beschwerden“, sagt der Arzt. Es hört sich abfällig an. „Und sitzen aber relativ ruhig mir gegenüber.“ Der Arzt fragt weiter, nach der Verdauung, nach Menstruationsbeschwerden, immer wieder äußert er Zweifel. 

Zunehmend reagiert Hahne verunsichert. Der Arzt sagt: „Ich frage Sie ganz konkret: Ist mit der Menstruation alles in Ordnung?“

Sie gerät ins Stocken, atmet schwer, ihre Stimme bricht, sie kriegt kein Wort mehr heraus. „Ich frag Sie doch nur“, sagt der Arzt. „Das ist ja kein Stress, wenn ich Sie frage: Welche Beschwerden?“

Später sagt Melanie Hahne: Die zweifelnden Fragen hätten bei ihr eine Panikattacke ausgelöst. In dem Gutachten aber wird der Aussetzer nicht erwähnt. Stattdessen schreibt der Internist: „Die Versicherte ist stets attent, aufmerksam, freundlich und kooperativ.“

Auch Melanie Hahne und Jochen Wiegert zählen zu den Versicherten, die Anzeige gegen Henning Mast und weitere Ärztinnen und Ärzte erstattet haben. Erst in der Schweiz, nun in Deutschland. Die PMEDA weist alle Vorwürfe von strafbarem Handeln zurück. Die Anzeigen gegen die Firma seien „nicht fundiert“.

Das System PMEDA funktioniert bislang, weil viele Seiten davon profitieren: Die Ärzte verdienen viel Geld; die Firma macht Millionenumsätze. Die Schweizer Sozialversicherung spart Kosten für Invaliditätsrenten. Die Leidtragenden sind Versicherte. In Deutschland wird nun ermittelt – wegen Verdacht auf Steuerbetrug. Nicht, weil sie fragwürdige Gutachten ausstellen und damit Schwerkranke in finanzielle Notlagen bringen.

Wenn Sie Hinweise zu dem Thema haben, melden Sie sich bei unserer Autorin Gabriela Keller unter gabriela.keller@correctiv.org oder direkt über unseren anonymen Briefkasten.


Zu den Vorwürfen wegen Steuerhinterziehung äußerte sich die PMEDA vor der Veröffentlichung auf Anfrage nicht. In Folge eines Schreibens der Firma nach der Veröffentlichung haben wir den zweiten Absatz präzisiert und ergänzt, da bisher Ermittlungen aufgenommen wurden, aber die Vorwürfe nicht nachgewiesen sind.