120 Namen an drei Briefkästen: Nein, dieser Bild-Artikel belegt keinen Sozialbetrug
Ein Ausschnitt eines Bild-Artikels sorgte im Netz für wilde Spekulationen: Angeblich seien in einem Haus in Germersheim rund 120 Menschen gemeldet, die sich Sozialleistungen erschleichen würden, heißt es in den Sozialen Netzwerken. Doch das Haus wurde von einer Spedition für ausländische Berufskraftfahrer angemietet.
Die Schlagzeile über dem Foto von drei Briefkästen mit unzähligen Namensschildern lautet: „1 Haus, 3 Briefkästen, 120 Namen“ – und darunter steht: Niemand habe aufgemacht, als Bild-Reporter geklingelt hätten. Ein Foto dieses Bild-Artikels verbreitete sich in Sozialen Netzwerken.
Mehrere Nutzer teilten einen Ausschnitt des Artikels mit der Behauptung, Bild habe hier einen Fall von Sozialbetrug aufgedeckt – darunter auch der ehemalige Landesvorsitzende der AfD Berlin Georg Pazderski. Auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck mit der Bitte um Stellungnahme reagierte Pazderski bis zur Veröffentlichung dieses Textes nicht. Teilweise ist in den Beiträgen von Roma aus Rumänien die Rede. Auf X, ehemals Twitter, wurde das Foto der Schlagzeile über 700 Mal geteilt. Auch Matthias Matussek, Autor bei rechtsgerichteten Publikationen wie der Schweizer Weltwoche, Achgut oder Tichys Einblick teilte den Artikel-Ausschnitt auf Facebook und schrieb dazu von einer „Ausplünderung“ des Staates.
Doch geht es in dem Artikel wirklich um Sozialbetrug? Nein. Das Gebäude wurde von einer Spedition zur Unterbringung von LKW-Fahrern angemietet. Die Kreisverwaltung Germersheim bestätigte auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, dass sie keine Sozialleistungen wie Bürgergeld an die Personen im Haus ausbezahlt.
Kreisverwaltung und Bürgermeister bestätigen, dass in dem Haus kein Sozialbetrug stattfindet
Geteilt wird der Ausschnitt eines Print-Artikels, aber auch digital ist der Artikel von August 2023 auf der Bild-Webseite veröffentlicht. Darin fragt die Bild zwar: „Schon wieder so ein krasser Fall von Sozialbetrug?“ und verlinkt direkt auf einen Artikel, in dem es wirklich um eine Razzia gegen mutmaßlichen Sozialbetrug ging – schreibt aber dann, der Bürgermeister von Germersheim, Marcus Schaile, habe klargestellt: Das Gebäude wurde von einer Spedition zur Unterbringung von LKW-Fahrern angemietet.
Auch im Pfalz-Express, einem lokalen Medium, dementierte der CDU-Politiker die Spekulationen über einen angeblichen Sozialbetrug. Auf mehrfache Anfragen von CORRECTIV.Faktencheck antwortete Schaile nicht.
Michael d‘Aguiar, Sprecher der Kreisverwaltung Germersheim bestätigte auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, dass von dort keine Sozialleistungen wie Bürgergeld an die Personen im Haus ausbezahlt werden. Auch er schreibt: Eine Spedition habe das Gebäude angemietet, um dort Fahrer unterzubringen. Tatsächlich ist an derselben Adresse auch eine Pension registriert.
Laut Bild ist an der Adresse eine Spedition namens Transalbert Deutschland GmbH gemeldet. Im Unternehmensregister sind zwei Geschäftsführer eingetragen. Laut Linkedin arbeiten sie in leitender Funktion bei der Hegelmann-Gruppe – einer Großspedition, die Transalbert laut Berichten 2021 aufgekauft hat. Der internationale Logistikdienstleister hat seinen Hauptsitz im baden-württembergischen Bruchsal, eine halbe Autostunde von Germersheim entfernt. Das Logo von Hegelmann ist auch auf den Bildern der Briefkästen zu erkennen.
Die Hegelmann-Geschäftsführung schreibt auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck: Die Fahrer würden dort zeitweise untergebracht und seien im Haus angemeldet, um ihre Post empfangen zu können: „Um zu verhindern, dass Amts-Post, Briefe usw. an die ausländischen Wohnanschriften der Fahrer gesendet werden (was mitunter Fristen gefährden könnte), haben wir unseren LKW-Fahrern die Möglichkeit geboten, eine Meldeadresse in Deutschland zu nutzen“, heißt es in der Antwort. Dabei geht es aber nicht um Sozialbetrug oder, wie die Bild spekulierte, um Scheinfirmen.
LKW-Fahrerinnen und -Fahrer zahlen in das deutsche Sozialsystem ein
Bürgerinnen und Bürger aus EU-Ländern können legal für deutsche Unternehmen arbeiten und sind wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig. Aus einem Dossier des Beratungsnetzwerks Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbunds geht hervor, dass ausländische Fahrerinnen und Fahrer häufig sogar einzahlen, ohne später Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Sie arbeiten oft als Grenzgänger in Schichtsystemen, durch die sie wochen- oder monatelang nicht an ihren Wohnort im Ausland zurückkehren. Sie haben in Deutschland dann höchstens – wie in der Pension in Germersheim – eine Postadresse am Standort ihres Arbeitgebers.
Deshalb müssten sie nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oft in ihre Heimatländer zurückkehren, da sie mit dem Arbeitsverhältnis auch ihre deutsche Adresse verlieren. Dort stünden sie aber den „Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit“ offiziell nicht zur Verfügung, weshalb sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hätten – und das, obwohl sie teilweise jahrelang in die Arbeitslosenversicherung in Deutschland eingezahlt haben. Von Sozialbetrug kann in diesem Fall also keine Rede sein.
LKW-Fahrer müssen nach vier Wochen Fahrt an Wohnsitz oder Firmensitz zurückkehren
Laut Daten des Bundesamts für Logistik und Mobilität (ehemals Bundesamt für Güterverkehr) kam 2020 knapp ein Viertel der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Kraftfahrerinnen und -fahrer aus dem EU-Ausland. Am häufigsten kommen diese aus Polen, gefolgt von Rumänien, Bulgarien, Tschechien und Ungarn. Da in Deutschland geschätzt 45.000 bis 80.000 Berufskraftfahrerinnen und -fahrer fehlen, gibt es außerdem für Fachkräfte aus dem Nicht-EU-Ausland vereinfachte Zuwanderungsbedingungen.
Im Jahr 2020 trat das sogenannte Mobilitätspaket I auf EU-Ebene in Kraft, welches die Arbeitsbedingungen von LKW-Fahrerinnen und -Fahrern in vielerlei Hinsicht neu regelt. Seither muss der Arbeitgeber ermöglichen, dass sie nach spätestens vier Wochen entweder an ihren Wohnort oder an den Firmensitz zurückkehren. Dort müssen sie eine Pause von mindestens 45 Stunden machen, die sie – auch das ist neu – nicht in der Fahrerkabine verbringen dürfen. Während Fahrerinnen und Fahrer früher also oft wochenlang im Fahrzeug geschlafen haben, muss der Arbeitgeber jetzt eine geeignete Unterkunft stellen. Diese Regelungen machen ein Konstrukt wie in Germersheim attraktiv für die Speditionen, da hier der formale Firmensitz und die Unterkunft an einer Adresse sind.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Bild-Artikels wurde ein Teil der Namen von den Briefkästen vor der Germersheimer Pension entfernt und eine aktualisierte Liste der gemeldeten Personen in einem Glaskasten angebracht, wie sowohl der Pfalz-Express als auch Bild berichteten. Auch dazu äußerte sich die Geschäftsführung von Hegelmann: „Tatsächlich haben wir auch Fluktuation in unserem Flottenbereich. Fahrer, die nicht mehr bei uns arbeiten, werden selbstverständlich abgemeldet.“
Redigatur: Max Bernhard, Gabriele Scherndl
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Branchendossier Internationaler Straßentransport, Faire Mobilität, Juli 2022, (Link, archiviert)
- Mobilitätspaket I: Die Änderungen auf einen Blick, Bundesministerium für Digitales und Verkehr, 26. April 2023, (Link, archiviert)