Personalmangel in Kitas

Kitanotstand: Wie das System versagt

Die deutschen Kitas stehen vor dem Zusammenbruch: Erzieherinnen vor dem Burnout, Schließungen durch Personalmangel – und Kinder, die nur verwahrt statt gefördert werden. Tausende Kita-Mitarbeitende berichten von ihren Erfahrungen.

Die deutschen Kitas stehen vor dem Zusammenbruch: Erzieherinnen vor dem Burnout, Schließungen durch Personalmangel – und Kinder, die nur verwahrt statt gefördert werden. Tausende Kita-Mitarbeitende berichten von ihren Erfahrungen.

14. November 2023

Inhalt

Das System kollabiert leise, jeden Tag ein bisschen mehr. Noch läuft der Alltag, weil Erzieherinnen und Erzieher sich aufreiben, um die Lücken zu schließen. Aber in vielen Kitas reichen die Kräfte nicht mehr. Deutschlandweit meldeten Kitas den Jugendämtern im vergangenen Kita-Jahr tausendfach, dass sie die Betreuung nicht mehr gewährleisten konnten und früher oder zeitweise ganz schließen musste. Weil sie zu wenig Personal hatten.

 „Nachdem ich mehrmals aus Personalmangel-Gründen meinen Urlaub verschoben habe, bin ich bei der Arbeit zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus “, schreibt eine Erzieherin aus Rheinland-Pfalz.

„Wir waren zu dritt und mussten 53 Kinder betreuen. Wir sind von Raum zu Raum gerannt. Konnten weder eine Pause machen noch einmal schnell auf die Toilette. Es war Horror“, schreibt eine Erzieherin aus Berlin.

„Dauerhaft mehr Kinder betreuen zu müssen als vorgesehen, ohne Kollegen, macht fertig. Es gibt Tage, wo ich nach Hause komme und einfach nur weine“, teilt eine Erzieherin aus Niedersachsen mit.

Tausende erzählen von den Folgen des Kitanotstands

Bei dieser Recherche hat CORRECTIV.Lokal Aussagen von mehreren Tausend Eltern und Kita-Beschäftigten aus ganz Deutschland erfasst und zeigt damit ein schleichendes Systemversagen auf. Dass in vielen Kitas Personalnot herrscht, ist bekannt. Was die CORRECTIV.Lokal-Recherche nun erstmals aufdeckt, ist ein umfassendes und detailliertes Bild der konkreten Folgen für Beschäftigte, Kinder und Eltern: Erzieherinnen müssen teilweise mehr als 20 Kleinkinder alleine betreuen. Vielen Kindern mit Behinderungen bleibt eine angemessene Förderung vorenthalten. Das Risiko von Gewalt steigt. Kinder leiden – und sind in Gefahr. 

Wir haben mit dem CrowdNewsroom, einer von CORRECTIV entwickelten Online-Plattform, Kita-Mitarbeitende und Eltern befragt, welche Folgen der Personalmangel in Kitas für sie hat.

Insgesamt nahmen in der Zeit vom 6. Oktober bis zum 14. November 2023 mehr als 6.700 Personen teil. In der Umfrage wurden offene Fragen gestellt – die Teilnehmenden konnten somit von ihren eigenen Erfahrungen berichten. Die Umfrage konnte anonym beantwortet werden. Teilnehmende konnten aber auch ihre Kontaktdaten für Rückfragen angeben.

Für diesen Artikel haben wir alle 2.005 Antworten von Kita-Mitarbeitenden, die bis zum 6. November 2023 an der Umfrage von CORRECTIV.Lokal teilgenommen haben, gelesen und inhaltlich ausgewertet. Die vollständige Auswertung der weiteren Antworten folgt in den kommenden Wochen. 

 Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Sie gibt aber einen tiefen Einblick, welche Folgen der Personalnotstand für Kita-Mitarbeitende und Eltern hat. CORRECTIV.Lokal führte zehn vertiefende Interviews mit Teilnehmenden der Umfrage und sichtete Dokumente wie Kita-Verträge.

Burnout nach vier Jahren im Beruf

Es gab Morgen, an denen schaffte es Anna Weber kaum aus dem Bett. Tag für Tag schleppte sie sich zur Arbeit. Denn dort, in der Kita, wurde sie gebraucht. Von den Kindern, den Kolleginnen, den Eltern. Weber gab alles und konnte ihren beruflichen Idealen doch nicht gerecht werden. Sie weinte dauernd und fühlte nichts mehr. Auch nicht gegenüber den Kindern, die sie betreute. So erzählt Weber es heute.

Ihre Arbeit hatte sie krank gemacht – nach nur vier Jahren im Beruf. 2015 schloss sie ihre Ausbildung zur Erzieherin ab. 2019 bekam sie einen Burnout. Der ständige Stress und die tägliche Überlastung wurden zu viel.

Überlastung der Kita-Mitarbeitenden gefährdet Kinder

Weber ist eine von 2.005 Kita-Mitarbeitenden, die an einer Umfrage von CORRECTIV.Lokal teilgenommen haben. CORRECTIV.Lokal hat mit ihr, sieben weiteren Kita-Mitarbeitenden und zwei Eltern, die an der Umfrage teilgenommen haben, ausführliche Interviews geführt. Zudem hat CORRECTIV.Lokal Kita-Verträge, E-Mails und Chat-Nachrichten gesichtet, die ihre Schilderungen stützen. 

 44 Kita-Mitarbeitende geben an, dass sie während ihrer Arbeit nicht einmal auf die Toilette gehen konnten oder keine Zeit hatten, zu essen oder zu trinken. 133 von ihnen geben an, dass sich der Stress direkt auf die Kinder auswirkt, sie beschreiben psychische Belastungen und auffälliges Verhalten bei den Kindern.

Durch die Personalnot steigt auch das Risiko, dass sich Kinder verletzen oder in Gefahr begeben: Mehrere Erzieherinnen sagen, dass Kinder zum Beispiel über den Zaun ihrer Kita kletterten – ohne dass es jemandem auffiel. Mehrere Pädagoginnen beschreiben, dass sie Angst haben, dass einem Kind etwas zustößt, und sie es vor lauter Stress nicht rechtzeitig merken. Und wenn wirklich etwas passiert, sind sie der Situation hilflos ausgeliefert:

Andere Erzieherinnen berichten, dass sie ein verletztes Kind nicht angemessen versorgen konnten. Oder die Aufsichtspflicht für die anderen Kinder vernachlässigen mussten, um sich zu kümmern. 

Wie die Umfrage zeigt, scheint auch das Risiko für Gewalt in den Kitas mit dem Stress zuzunehmen: Knapp 40 Kita-Beschäftigte beschreiben gegenüber CORRECTIV.Lokal Vorfälle, bei denen Kolleginnen oder Kollegen Kinder psychisch oder körperlich misshandelten – häufig nach wochenlanger Überlastung. Die Rede ist von Anschreien, Ohrfeigen, auf den Boden werfen und Einsperren.

„Sowas passiert, weil man nicht mehr weiter weiß“, sagt Anna Weber, die Erzieherin aus Berlin. Auch sie hat erlebt, wie Kolleginnen aus der Haut fahren. Webers Geschichte steht für viele. Sie heißt eigentlich anders. Sie möchte nicht, dass ihr Arbeitgeber weiß, dass sie mit CORRECTIV.Lokal über ihre Arbeit gesprochen hat.

Verwahren statt bilden

Man könne nur vom „täglichen Wahnsinn“ sprechen, sagt Weber. Sie ist in einer Berliner Kita mit Kindern unter drei Jahren tätig. Der Alltag bestehe nur noch daraus, hin- und herzuhetzen. Pädagogische Arbeit sei nicht mehr möglich: Ausflüge, musikalische Früherziehung – dafür gebe es keine Zeit mehr. Weil so viel Personal fehlt.

Was Anna Weber sagt, wirft ein Licht auf die Missstände in den deutschen Kitas: Der Personalmangel geht auf Kosten der Kinder. Mehr als jede zweite Mitarbeiterin schreibt in der Umfrage von CORRECTIV.Lokal, dass sie keine pädagogische Arbeit mehr leisten könne. Dass sie Kinder nur noch verwahre, statt sie zu bilden und zu fördern. Dabei gebe es heute sehr viel mehr Kinder, die eine verstärkte Förderung brauchen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Anforderungen an die Erzieherinnen und Erzieher seien in den letzten Jahren gewachsen.

Kinder müssen funktionieren

Das hat verheerende Folgen: Gut 60 Prozent der Kita-Mitarbeitenden geben an, dass sie dauerhaft unter großem Druck, Stress und Überlastung arbeiten. Die Erzieherinnen, Kita-Leiterinnen, Auszubildenden und Kinderpfleger sprechen von Überstunden und von Urlauben, die sie absagen mussten, um für Kollegen einzuspringen. Davon, dass sie weinend zusammengebrochen sind, weil sie nicht mehr konnten.

Die Kinder müssen in vielen Fällen einfach funktionieren. Raum zum Ausprobieren und Erkunden gebe es wenig für sie. So schildert es zum Beispiel Anna Weber. Sie sehe viele Kinder, die sich eigentlich gerne selbst anziehen oder selbst essen würden. „Aber das bräuchte zu viel Zeit. Deshalb dürfen sie es nicht.“

Seit zehn Jahren haben Kinder in Deutschland ab dem ersten Geburtstag Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Die Realität sieht oft anders aus. Eltern finden monatelang keinen Platz. Die Bertelsmann Stiftung schätzt, dass in diesem Jahr bundesweit knapp 385.000 Plätze fehlen. Und knapp 100.000 Erzieherinnen und Erzieher.

Alleine mit 30 Kindern​

„Ich hatte eine Gruppe (15 Kinder unter drei Jahren), meine Kollegin kam nicht. Die andere Gruppe hatte wegen Krankheit gar keine Erzieher und so hatte ich 30 Kinder alleine! Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich eine Blinddarmentzündung hatte.“

Erzieherin, arbeitet mit Kindern unter drei Jahren, Nordrhein-Westfalen

Fast eine von fünf Kita-Mitarbeitenden – unter ihnen Auszubildende – schreibt, dass sie bereits ganz allein mit einer Gruppe Kindern arbeiten musste. Das ist rechtlich problematisch. Und vor allem gefährlich.

Den Kindern können die Erzieherinnen in solchen Situationen kaum gerecht werden. Einzelne individuell fördern? Unmöglich. Der Stress belastet die Kinder zum Teil schwer: Manche brechen Regeln, um Aufmerksamkeit zu bekommen, andere sind traurig und verschüchtert, weil sich niemand um sie kümmert. Eine Erzieherin aus Nordrhein-Westfalen schreibt: 

„Ein zweieinhalbjähriges Kind sagte zu mir: ‚Frau X, setz‘ dich mal hier hin, wir sind lieb und es passiert nichts!‘ Weil es gemerkt hat, wie gestresst ich durch die Gruppe gelaufen bin. Die Kinder merken das und entwickeln ein Verantwortungsbewusstsein für UNS. Das ist nicht richtig. Sie sollen unbeschwert spielen und an Bildungsangeboten teilnehmen dürfen. Es bricht mir oft das Herz.“

In vielen Fällen erreicht die Zeit- und Personalnot beunruhigende Ausmaße: Etwa jede zwanzigste Kita-Mitarbeiterin berichtet, dass sie Grundbedürfnisse der Kinder nicht mehr erfüllen konnte – beispielsweise nicht mehr dazu kam, die Windeln von Kindern zu wechseln. Sonst hätte sie die anderen Kinder alleine lassen müssen und ihre Aufsichtspflicht verletzt. 

Auf Toilette gehen wird unmöglich

Auch ihre eigenen Bedürfnisse müssen Erzieherinnen und andere Kita-Mitarbeitende hinten anstellen. „Es fehlt Zeit für einfache banale Dinge, wie zum Beispiel auf Toilette gehen zu können, wenn man muss“, schreibt etwa eine Erzieherin aus Niedersachsen. 

Anna Weber, die Erzieherin aus Berlin, kennt solche Situationen. Sie sei mit vier oder fünf Kindern unter drei Jahren alleine gewesen. Und habe ihre Tage  gehabt. Auf der Toilette habe sie die Tür so weit offen lassen müssen, dass sie die Kinder im Blick behalten konnte. „Das war eine schwierige Situation.“

Krank zur Arbeit

Die Kita-Mitarbeitenden stehen unter enormem Druck. Sie wissen, dass die Kolleginnen, Eltern und Kinder auf sie angewiesen sind. Das führt zu Selbstausbeutung. Viele Beschäftigte gehen an die eigene Substanz. Denn sie wissen: Wenn sich nur ein weiterer Erzieher krank meldet, muss die Kita im Zweifelsfall schließen – so gravierend ist die Personalnot in vielen Kitas.

„Ich bin so häufig krank zur Arbeit gegangen“, sagt Anna Weber. „Und selbst wenn ich mal krank zuhause geblieben bin, habe ich mich nie richtig auskuriert und bin immer zu früh zurück zur Arbeit.“ 

Wenn ihr eigenes Kind krank wurde, hat sie oft organisiert, dass es von jemand anderem betreut wurde, sagt sie. „Damit der Betrieb der Kita nicht zusammenbricht, weil ich ausfalle.“ 

Auch damit verhielt sich Anna Weber typisch: 65 weitere Kita-Mitarbeitende teilen mit, dass sie oder Kolleginnen bereits krank zur Arbeit gegangen sind.

Mehrere Kita-Mitarbeitende schreiben, dass sie oder Kolleginnen Urlaub abgesagt oder verschoben hätten – damit die Kita geöffnet bleiben kann.

Vor Kurzem war Weber eine Woche lang krank zu Hause. Sie hat deshalb ein schlechtes Gewissen: „Meine Kolleginnen mussten das auffangen.“ Irgendwann müssten ihre Kolleginnen ihre Überstunden wieder abbauen – dann sei sie wieder alleine. „Das zieht einen Rattenschwanz nach sich.“

Es ist ein Teufelskreis, dem viele Kita-Mitarbeitende ausgeliefert sind: Der große dauerhafte Stress macht mehr Erzieherinnen und Kita-Leitungen krank. Und wegen des Personalausfalls steigt die Belastung für die anderen weiter. Die wiederum in der Folge eher krank werden.

Arbeit, die krank macht​

„Im Jahr 2022 war der Personalnotstand in der Kita, die ich leite, besonders hoch. Die psychische Belastung war letztendlich so hoch, dass bei mir ein vergleichsweise geringer Infekt so stark wirkte, dass ich zu Hause bewusstlos wurde.“

Kita-Leiterin, Einrichtung für Kinder unter und ab drei Jahren, Hamburg

Etwa 20 Prozent der Kita-Mitarbeitenden berichten CORRECTIV.Lokal, dass ihre Arbeit sie krank macht. Dass sie sich von Infekt zu Infekt hangeln. Oder Panikattacken bekommen oder einen Burnout haben oder hatten. 

Weber hatte Glück, dass sie bei ihrem Burnout vor vier Jahren schnell Hilfe bekam. Eine befreundete Psychotherapeutin habe die Warnzeichen bei ihr erkannt und sie an eine Kollegin vermittelt. Seitdem wird sie therapeutisch begleitet.

Andere müssen lange warten, bis sie ernst genommen werden und ihnen geholfen wird. Michaela, eine Erzieherin aus Hessen, die nur mit ihrem Vornamen genannt werden möchte, merkte im Sommer 2018 zum ersten Mal, dass etwas anders war. Dass sie den Kindern gegenüber immer gereizter wurde. Dass sie auf einmal dauernd und lange krank wurde: Grippe, Magen-Darm-Infekte, Blasenentzündung.

„Beim Hausarzt hat mich nie jemand mal gefragt, was los ist, als ich dauernd krank war“, sagt sie. Sie kämpfte sich durch die nächsten drei Jahre. Bis sie im Sommer 2021 zusammenbrach.

Einige Monate später suchte sie sich therapeutische Hilfe. „Es war als hätte mir jemand einen Klotz von der Schulter genommen“, sagt Michaela. In der Therapie habe sie verstehen gelernt, was mit ihr passiert sei. Und dass das nicht ihr Fehler war.

Gewalt gegen Kinder

„Ich hatte einen Kollegen, der leider in Stresssituationen dazu neigte, völlig überzureagieren. Einmal hat er ein dreijähriges Kind einfach von oben herab auf den Boden geknallt und ein anderes so angeschrien, dass es sich vor Angst in die Hosen gemacht hat.“

Erzieherin, arbeitet mit Kindern unter drei Jahren, Bayern

„Man hat Angst, Fehler zu machen, weil man so überlastet ist“, sagt Weber, die Erzieherin aus Berlin. Sie habe immer wieder erlebt, dass Kolleginnen und Kollegen Kinder angeschrien oder grob angefasst hätten, weil sie mit den Nerven am Ende gewesen seien.

Und manchmal nimmt die Gewalt gegen Kinder noch schlimmere Ausmaße an: In einer Einrichtung, in der Weber früher arbeitete, sperrte ein Kollege ein verhaltensauffälliges Kind für knapp 15 Minuten in einen Nebenraum der Gruppe ein, berichtet sie. CORRECTIV.Lokal liegen Unterlagen vor, die diesen Vorfall bestätigen.

„Der betreffende Kollege war über Wochen alleine in der Gruppe“, sagt Weber. Er habe über Wochen immer wieder gesagt, dass er nicht mehr könne und Unterstützung brauche. Aber nichts habe sich geändert. „Und dann ist er schließlich ausgeflippt.“ Der Kollege sei sofort suspendiert und die Berliner Kita-Aufsicht informiert worden.

Weber ist nicht die einzige Erzieherin, die von gewalttätigem Verhalten berichtet. Knapp 40 andere Kita-Beschäftigte erzählen von beunruhigenden Vorfällen. Die Schilderungen reichen von Anschreien und Herabwürdigungen bis hin zu Schlägen:

Personalnot ohne Ausweg

Es sind die Kita-Leitungen, die dafür zuständig sind, qualifiziertes Personal zu finden. Und einzuschreiten, wenn sie unangemessenes Verhalten bei Mitarbeitenden feststellen. 

Manche erzählen in der Umfrage, dass die Personalnot sie inzwischen zwingt, jede Bewerberin oder jeden Bewerber zu nehmen. Auch wenn die Person eigentlich nicht geeignet sei. Andere Kita-Leiterinnen schreiben, dass Stellen in ihrer Einrichtung monatelang unbesetzt blieben.

Viele berichten, dass ihre Arbeit inzwischen hauptsächlich daraus bestehe, Löcher zu stopfen: 

Wenn zu viele Stellen unbesetzt sind, zu viele Mitarbeitende krank, im Urlaub oder auf Fortbildung, dann bleibt die Kita im schlimmsten Fall ganz zu. Rund  14 Prozent der Kita-Mitarbeitenden berichten, dass ihre Kita bereits wegen Personalmangel ihre Öffnungszeiten einschränken oder schließen musste.

Notbetreuung als Normalzustand

Kommen zu wenige Erzieherinnen zur Arbeit, gilt das Kindeswohl als gefährdet. Das müssen Kitas melden, etwa dem örtlichen Jugendamt oder dem Landesjugendamt. Und sie müssen zum Beispiel die Öffnungszeiten verkürzen. Oder die Einrichtung ganz schließen.

In einer monatelangen Recherche hat CORRECTIV.Lokal gemeinsam mit gemeinsam mit FragDenStaat und Lokalmedien aus ganz Deutschland Landesjugendämter und Jugendämter gefragt, wie häufig Kitas solche Personalmangel-Meldungen bei ihnen gemacht haben und welche Maßnahmen sie ergriffen haben.

Diese Recherche zum Kitanotstand ist eine Kooperation von CORRECTIV.Lokal, FragDenStaat, Journalismus-Studierenden der TU Dortmund und zahlreichen Lokalmedien. Deutschlandweit haben Lokalmedien als Teil des Netzwerkes von CORRECTIV.Lokal eigene Geschichten zum Thema recherchiert und werden in den kommenden Wochen darüber berichten.

Auf unserer Themenseite finden Sie die Veröffentlichungen aller Medien.

Das Ergebnis ist ernüchternd. Viele Bundesländer haben keinen Überblick über die Meldungen, die bei ihnen eingegangen sind. Das hat weitreichende Folgen: Ohne eine realistische Einschätzung, wie häufig und wo Kitas unter dem Personalmangel kollabieren, ist es für die Politik schwierig, gezielt gegenzusteuern.

Dort, wo es Zahlen gibt, zeichnet sich ein dramatisches Bild: Allein in Nordrhein-Westfalen mussten Kitas im vergangenen Kita-Jahr mindestens 16.400 Mal ihre Öffnungszeiten einschränken oder Gruppen oder die ganze Einrichtung schließen, weil sie zu wenig Personal hatten.

Ob alle Kitas überhaupt melden, ist fraglich. Dauerhafte Einschränkungen aufgrund von Personalmangel sind in diesen Zahlen sowieso nicht enthalten. Und auch nicht die Fälle, in denen Kitas zwar nicht offiziell ihre Öffnungszeit verkürzen, aber die Eltern bitten, ihre Kinder wenn möglich früher abzuholen.

Eltern unter Druck

Ohne Großeltern würden wir unsere Jobs nicht schaffen. Regelmäßig fällt in der Kita das Personal aus, weshalb wir gebeten werden, die Kids zu Hause zu betreuen. Hinzu kommt die Sorge, dass oft über Wochen nur eine Erzieherin unsere Kinder beaufsichtigt.

Vater, Nordrhein-Westfalen

Für die Eltern bedeuten die kürzeren Öffnungszeiten und kurzfristigen Schließungen Stress und ständiges Umplanen. Arbeiten sie im Homeoffice, müssen sie Arbeit, die deswegen liegen geblieben ist, nachts oder am Wochenende nachholen. Und sitzen sie an der Supermarktkasse oder stehen im OP, geraten sie leicht in ein kaum lösbares Dilemma.

Eltern schreiben in der Umfrage von Konflikten mit ihrem Arbeitgeber oder finanziellen Verlusten, wenn sie selbständig sind. Im schlimmsten Fall müssen sie ihre Arbeitszeiten verkürzen oder verlieren ihren Job.

Alleinerziehende treffen die Kita-Schließungen besonders hart. Wer keine Familie oder Freunde vor Ort hat, oder kein Geld für einen Babysitter, ist in solchen Situationen hilflos.

Zerrieben zwischen Arbeit und Kinderbetreuung

„Ich hatte immer Angst, irgendwo zu spät anzukommen – in der Kita, in der Schule, auf der Arbeit“, sagt Julia Bauer, Mutter von drei Kindern in Berlin. „Es ist ein Hamsterrad, aus dem man nicht herauskommt.“ Sie lebt vom Vater der Kinder getrennt und betreut sie abwechselnd mit ihm. 

In ihrer Kita konnten zwei Stellen nicht mehr besetzt werden. Also war sie nicht mehr neun Stunden am Tag geöffnet, sondern nur noch sieben, bis sie im Frühling 2023 ganz geschlossen wurde. CORRECTIV.Lokal liegen Dokumente vor, die beides belegen. 

Bauer jonglierte von da an die Betreuung ihrer drei Kinder und ihren Job. Noch immer plagen sie Albträume, wenn sie an die Zeit damals zurückdenkt.

Weil die verkürzten Öffnungszeiten der Kita nicht mit ihren Arbeitszeiten zu vereinbaren waren, wechselte sie in die Selbständigkeit. Als die Kita ankündigte, aufgrund von Personalmangel ganz zu schließen, suchte Bauer mehrere Monate nach einem neuen Platz für ihre Tochter. „Ich war wirklich verzweifelt.“

Kinder mit Beeinträchtigung können kaum gefördert werden

In einem Kita-System, das zusammenbricht, haben es Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf oder einer Behinderung besonders schwer. Knapp neun Prozent der Kita-Mitarbeitenden berichten in der CORRECTIV.Lokal-Umfrage, dass sie diese Kinder nicht angemessen fördern können. Oder erst gar nicht in der Kita aufnehmen, weil das Personal fehlt. 

Eine Mitarbeiterin aus Hessen schreibt: „Kinder mit besonderen Bedarfen müssen sehr lange auf einen Platz warten. Die Förderzeit in der Kita ist dann so kurz, dass die Förderbeschulung nötig wird, obwohl sie sicherlich mit mindestens drei Jahren in der Kita nicht mehr nötig wäre.“

Und auch wenn Kinder mit Beeinträchtigungen einen Platz finden, können sie diesen nicht immer in vollem Umfang in Anspruch nehmen.

Johannes Maier hat das mit seinem Sohn erlebt. Der Journalist lebt mit seiner Familie in Norddeutschland. Sein Dreijähriger wechselte im Sommer aus einer Krippengruppe in eine Kita. Das Kind hat einen Integrationsstatus. Das heißt, der Staat hat nach der Prüfung anerkannt, dass das Kind eine Behinderung hat oder davon bedroht ist. Das bedeutet: Der betreuenden Kita werden einige zusätzliche Personalstunden finanziert.

Johannes Maier heißt eigentlich anders. Er möchte nicht mit seinem echten Namen genannt werden, weil er Angst hat, die Wut der Kita auf sich zu ziehen. Seine Partnerin und er sind auf den Kita-Platz angewiesen.

Nur noch vier statt acht Stunden in der Kita

Zwei Wochen, nachdem sein Sohn in die Kita kam, sei der für sein Kind zuständige  Heilpädagoge erst krank geworden und habe dann gekündigt. Seitdem darf sein Sohn statt acht Stunden am Tag nur noch vier bis fünf in die Kita kommen. Den vollen Kita-Beitrag müssen Maier und seine Partnerin trotzdem zahlen, sagt er.

Maier arbeitet im Homeoffice. Auch die Mutter des Kindes kann zuhause arbeiten. „Wenn wir das nicht beide könnten, wüsste ich nicht, wie wir das irgendwie schaffen sollten“, sagt er.

Um sich unter der Woche um das Kind kümmern zu können, arbeite er viel am Wochenende. Seine Partnerin hole den Sohn manchmal heimlich während ihrer Arbeitszeit ab. Gemeinsame Zeit als Familie oder als Paar hätten sie kaum noch. Er ist erschöpft. „Die Nerven liegen manchmal blank.“ Wann sein Sohn wieder länger in die Kita gehen könne, sei unklar. 

Für Maiers Sohn ist es sehr schwer, wenn sich etwas ändert. Also wenn andere Erzieher auftauchen statt denen, die er kennt. Maier macht auch Sorge, dass sein Sohn durch die ständige Personalnot womöglich nicht die Förderung bekommt, die er braucht. „Die Erzieherinnen können ja gar keine Zeit haben, ihn richtig kennenzulernen.“

Flucht aus dem Beruf

Viele Kita-Mitarbeitende sind wütend und frustriert. Sie fühlen sich von der Politik alleine gelassen. Sie haben das Gefühl, die Versäumnisse und Fehlentscheidungen der Politiker tagtäglich auffangen zu müssen – auf Kosten der Kinder und ihrer eigenen Gesundheit. Sie fordern, dass die Politik jetzt handelt, bevor es ganz zu spät ist.

Kitas sind wie Schulen und Hochschulen Ländersache. Allerdings unterstützt der Bund die Länder finanziell: Seit Beginn des Jahres gilt das sogenannte Kita-Qualitätsgesetz. Darin ist geregelt, dass die Bundesländer in diesem und dem kommenden Jahr insgesamt rund vier Milliarden Euro für Kita-Verbesserungen erhalten. Ein vorgeschlagenes Handlungsfeld: „Gewinnung und Sicherung von qualifizierten Fachkräften“.

Inwiefern das gelingen kann, ist fraglich. Fast jede zehnte Kita-Mitarbeitende gibt in der CORRECTIV.Lokal-Umfrage an, dass sie selbst oder Kollegen aus dem Beruf aussteigen möchten. 

Auch Anna Weber, die Erzieherin aus Berlin, will so schnell wie möglich raus aus dem Beruf. Seit einiger Zeit gehe es ihr mental wieder schlechter. Sie liebe den Beruf, aber die Bedingungen seien einfach nicht tragbar. „Ich kann nicht mehr“, sagt sie.

Möchten Sie, dass sich etwas ändert? Dann werden Sie jetzt aktiv! Besuchen Sie unsere Themenseite kitanotstand.de. Dort finden Sie vielfältige Möglichkeiten, wie Sie selbst einen Beitrag leisten können. Erfahren Sie, wie Sie die Politik zum Handeln bewegen können und entdecken Sie Mitmalbilder für Ihre Kinder sowie Plakate, die Sie in Ihrer Nachbarschaft aufhängen können, um auf den Kitanotstand aufmerksam zu machen.

Text: Miriam Lenz Recherche: Miriam Lenz, Max Donheiser, Pia Siber, Katharina Kausche, Maike Dorn, Moritz Valentino Donatello Matzner, Tabea Bremer, Jonas Halbe, Lia Staniewski Design: Charlotte Eckstein, Benjamin Schubert Illustrationen: Mohamed Anwar Kommunikation: Valentin Zick, Esther Ecke Redaktion: Jonathan Sachse, Gabriela Keller, Anette Dowideit