In eigener Sache

Laudatio von Heribert Prantl zu Carlo-Schmid-Preis für CORRECTIV

CORRECTIV wurde mit dem Carlo-Schmid-Preis 2024 ausgezeichnet. Der ehemalige Politikchef der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, spricht sich in seiner Laudatio für ein Verbotsverfahren der AfD aus. Und er fordert, die Gemeinnützigkeit für Journalismus fest zu verankern.

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Heribert Prantl hält die Laudatio für CORRECTIV; Foto: Fernanda da Silvia Augel

Manchmal besteht das, was man heute „Brandmauer“ nennt, aus nur einem einzigen Buchstaben; in den Anfängen der Bundesrepublik war das ein „o“. Es war das „o“ von Carlo Schmid, es war das „o“ im Namen des Namensgebers des Preises, den wir heute überreichen. Der Literat und Staatsrechtsprofessor Carl Schmid hat sich in der frühen Nachkriegszeit ein „o“ an seinen Vornamen angehängt, um ja nicht mit dem gewissenlosen Nazi-Juristen und Antisemiten Carl Schmitt verwechselt zu werden. Carl Schmid schrieb sich zwar mit weichem d, Carl Schmitt dagegen mit hartem Doppel-t. Aber das war unserem Namensgeber noch nicht klar und unmissverständlich genug. Deshalb das angehängte „o„ am Vornamen. Als Carlo wurde der Sozialdemokrat dann bekannt und berühmt, als Carlo war er einer der Großdiskutanten beim Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 1948, wurde er ein paar Wochen später Vorsitzender des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates in Bonn, also der Dirigent der neunmonatigen Arbeiten am Grundgesetz. Den Preis mit dem „o“ im Namen verleihen wir heute dem Medienhaus CORRECTIV. 

Nicht der alte und gefuchste Christdemokrat Konrad Adenauer, sondern der damals noch eher junge und geistvolle Sozialdemokrat Carlo Schmid, sozusagen der „Marquis von O“, galt damals als der kommende Mann. Er war ungeheuer beliebt als Hausvater der Republik und dann als Hauptvater des Grundgesetzes; er war beredt, barock und schlagfertig wie sonst kaum einer. Eine der schönsten Geschichten über ihn ist ganz und gar unpolitisch, aber ganz und gar bezeichnend: Als er einmal seine Tochter von der Schule abholen wollte, stand er eine Weile am Schultor. Als eine Lehrerin ihn fragte: „Erwarten Sie ein Kind?“, antwortete Schmid: „Nein – ich bin immer so dick.“ Carlo Schmid hat (zusammen mit Georg August Zinn und Theodor Heuss) die Präambel des Grundgesetzes wunderbar formuliert, er hat die 146 Artikel geknetet, und er hat lustvoll gestöhnt darüber, dass er „furchtbar geschunden“ werde.

Vor 75 Jahren, im September 1948, zum Auftakt der Grundgesetzberatungen, hielt er eine Rede, die man nachlesen muss, wenn es heute um Brandmauern gegen die Rechtsextremisten von der AfD geht. Im Parlamentarischen Rat zu Bonn, vor dem er die Rede hielt, saßen viele Widerstandskämpfer gegen Hitler, so viele wie in keinem späteren deutschen Parlament mehr. Sie wussten, was Carlo Schmid meinte, als er folgende Forderung stellte: „Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“

Um diesen Mut geht es im Umgang mit der AfD. Aus dieser Mahnung Carlo Schmids wurde damals, 1948/49, der Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes. Er lautet so: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ Man darf damit nicht warten, bis es zu spät ist. 

Unser Preisträger, das Medienhaus CORRECTIV, hat die Diskussion darüber sehr befruchtet. Die Recherchen, die CORRECTIV am 10. Januar 2024 unter dem Titel „Geheimplan gegen Deutschland“ veröffentlichte, haben das Land in Aufruhr versetzt. CORRECTIV berichtete über ein Geheimtreffen von Rechtsextremisten in einer Villa unweit des Wannsees, bei dem die Teilnehmer die Möglichkeiten der Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund besprachen. Sie taten das unter dem Namen „Remigration“. Mit „maßgeschneiderten Gesetzen“ und mit „Anpassungsdruck“ sollten sie dazu gebracht werden, Deutschland zu verlassen. Im Programm der AfD, auf der Webseite der Partei, heißt es zwar, sie bekenne sich „vorbehaltlos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat …“. 

Die CORRECTIV-Recherche aber zeigte: In der AfD wird sehr wohl über die Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund nachgedacht. Die CORRECTIV-Recherche war und ist dies eine Recherche mit Wirkungsgeschichte: Es kam zu mächtigen Demonstrationen gegen die völkisch-nationalistisch rechtsextremen Pläne. Weit über eine Million Menschen in den Städten und auf dem Land protestierten. 

Bei der erwähnten Konferenz trat ein Mann namens Martin Sellner auf, ein führender österreichischer Rechtsextremist und Ideologe der identitären Bewegung, der seinen „Masterplan“ zur Bewahrung der „ethnokulturellen Identität“ vorstellte – welcher auf Vergrämung, Verleumdung und Vertreibung hinauslief. Dieser Marin Sellner ist der ideologische Enkel des Juristen Carl Schmitt, gegen den seinerzeit der  Sozialdemokrat Schmid die „O“-Mauer errichtete; dieser Carl Schmitt galt dem Carlo Schmid als Luzifer der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Dieser Luzifer hatte die antisemitischen Nürnberger Rassegesetze als eine „Verfassung der Freiheit„ gefeiert. Von Schmitt stammt der Satz, die staatliche Autorität beweise sich darin, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht recht zu haben brauche. In diesem Satz pries er den „Führer“ als den Hüter der Verfassung. Kurz nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, am fünften Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler, schrieb Luzifer Schmitt in sein Tagebuch: „Bei der Lektüre des Bonner Grundgesetzes überfällt mich die Heiterkeit eines allwissenden Greises.“

Dieser Mann, der da über die Mühen der Mütter und Väter des Grundgesetzes ein wenig überheblich grinste; dieser Mann, der mit dem grandiosen Artikel 1 des Grundgesetzes nicht viel anfangen konnte; dieser Mann, dem die Würde des Staates sehr viel wichtiger war als die Würde des Menschen – er galt und gilt als der Kronjurist des NS-Reiches. Trotzdem wurde er noch in den Nachkriegsjahrzenten von vielen Verfassungsrechtlern wie ein juristischer Prophet verehrt. Sein Geraune findet heute seinen Widerhall in den Zirkeln und den Ideologie-Fabriken der AfD. CORRECTIV hat diesen Widerhall aufgezeichnet und analysiert. CORRECTIV hat damit die Grundlage geliefert für eine grundlegende öffentlich- politische Auseinandersetzung. Das ist wunderbar, das verdient höchsten Respekt, das verdient den Carlo-Schmid-Preis. 

Guter Journalismus ist ein Journalismus, bei dem die Journalisten wissen, dass sie eine Aufgabe haben – und dass diese Aufgabe mit einem Grundrecht zu tun hat: Artikel 5 Grundgesetz, Pressefreiheit. Nicht für jeden Beruf gibt es ein eigenes, ein ganz spezielles Grundrecht, genau genommen nur für einen einzigen: Artikel 5 – das verpflichtet! Das  verpflichtet zur Sachkunde, die sich mit Souveränität, Ausdauer, Neugierde, Sorgfalt  und Aufklärungsinteresse paart. 

Als in den ersten Tagen der deutschen Demokratie, im Jahr 1832, im Jahr des Hambacher Festes, die Regierung des bayerischen Königs die Druckerpresse des Journalisten und Verlegers Philipp Jakob Siebenpfeiffer versiegelte, verklagte dieser Demokrat die Regierung mit dem Argument: Das Versiegeln von Druckerpressen sei genauso verfassungswidrig wie das Versiegeln von Backöfen. Das ist ein wunderbarer Satz, weil darin die Erkenntnis steckt, dass Pressefreiheit das tägliche Brot ist für die Demokratie. Das ist die demokratische Ur-Erkenntnis: Pressefreiheit ist das tägliche Brot für die Demokratie. CORRECTIV gehört zu denen, die dieses Brot backen. 

Die Wahrheit soll ans Licht. Aber wenn der Journalismus bei der Aufdeckung stehen bleibt, macht er nur die halbe Arbeit. Die Aufdeckung von Skandalen, die Aufdeckung von kriminellem und verfassungsgefährlichem Handeln hat oft Krisen zur Folge: Staatskrisen, Parteienkrisen, die Krisen einer Bank, die Krisen eines Unternehmens. Denken wir an die diversen Parteispendenskandale, denken wir an Korruptionsskandale und an gewaltige Steuerbetrügereien, wie sie der Gegenstand der Cum-Ex-Geschäfte waren und sind. Aber nicht solche Krisen sind gefährlich, gefährlich ist das Versagen von Gesellschaft und Politik bei ihrer Aufarbeitung und Bewältigung. Guter Journalismus geht daher über das Aufdecken hinaus. Er ist Moderator und Motor für Veränderungen. Das ist so wichtig wie das Aufdecken. Das ist Pressefreiheit. Das ist praktizierter Gemeinnutz.  

CORRECTIV hat, rechtzeitig zum Grundgesetzjubiläum, mit der Recherche zu den rechtsextremen Vertreibungsplänen, den Blick auf den Artikel 1 des Grundgesetzes gelenkt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Im Grundgesetz ist verfügt, dass nichts und niemand diesen Artikel 1 ändern kann: Kein Befehl der Welt, keine Mehrheit, und sei sie noch groß, reicht dafür aus, diesen Satz zu revidieren, nicht einmal eine Zweidrittelmehrheit. Die Menschenwürdegarantie ist nämlich der Kern der Verfassung; dieser Kern soll, das besagt die sogenannte Ewigkeitsklausel, unantastbar sein und unantastbar bleiben. Jeder Aushöhlung dieses Kerns muss entgegengewirkt, jede Attacke auf diesen Kern muss abgewehrt werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht da – des Menschen. Da steht nicht die Würde des deutschen Menschen. Da steht nicht die Würde des Nicht-Migranten. Da steht auch nicht die Würde des arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen. 

Warum betone ich das so? Weil es die Rechtsextremisten gibt, die sich aussuchen wollen,  welche Menschen man für würdig halten will.  Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist nicht einfach nur schönes Verfassungspathos, das hat Auswirkungen auf die aktuellen Debatten darüber, wie der Rechts- und Verfassungsstaat mit denen umgehen soll, die dieses höchste aller Grundrechte verachten. 

Gewiss: Diese Preisverleihung ist kein Seminar darüber, ob und wann man eine Partei verbieten und ob und wann man einem Neonazi die Wählbarkeit aberkennen kann. Aber gleichwohl drängt es mich, eines zu sagen: Der Schutz der Menschenwürde steht nicht unter dem Vorbehalt von dreißig oder fünfunddreißig Prozent Stimmen für eine Partei oder eine Person zum Beispiel in Thüringen. Im Gegenteil: Je stärker die Unterstützung für eine Politik und eine Partei ist, die die Menschenwürde angreift, umso wichtiger ist es, die Waffen der wehrhaften Demokratie zu entrosten. Wenn ein Politiker Hunderttausende Menschen, die in Deutschland leben, aus dem Land treiben will, muss man ihn mit den Mitteln des Grundgesetzes aus dem Parlament und aus der Politik vertreiben.

Der Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem das Parteiverbot geregelt ist, und der Artikel 18, in dem es um die Grundrechtsverwirkung geht, sind so etwas wie der Personenschutz der Menschenwürde. Es wäre eine Narrheit, auf den Personenschutz gerade dann zu verzichten, wenn er am nötigsten ist. Es ist das Verdienst von CORRECTIV, die Debatte über diesen Personenschutz, die Debatten über die Wehrhaftigkeit der wehrhaften Demokratie, befördert zu haben. Eine Politik, die die unantastbare Würde aller Menschen infrage stellt, eine Politik, die sich die Menschen aussuchen will, denen sie die Würde zuspricht – eine solche Politik ist bösartig und hochgefährlich.

Das Grundgesetz hat eine klare Botschaft: „Nie wieder“. Dies ist Inhalt und Gehalt der bundesdeutschen Demokratie. Deswegen steht die Menschenwürde an der Spitze dieser Verfassung. Deshalb liegen in dieser Verfassung die Waffen zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat bereit. Deswegen müssen diese genutzt werden, wenn es nottut; und es tut not. Demokratie ist ja viel mehr als ein Abstimmungssystem, sie ist ein Wertesystem. Wenn eine Partei und ihre Politiker diese Werte massiv bekämpfen, dann ist es Zeit für die demokratische Mobilmachung. Man darf nicht warten, bis Neonazis die Parlamente dirigieren, die Lehrpläne an den Schulen diktieren, bis sie ihr braunes Personal an die Schaltstellen der Gerichte und der Verwaltung schicken und den Verfassungsschutz nach ihrem Gusto umbauen. Natürlich verschwinden extremistische Einstellungen nicht mit einem Verbot der Wählbarkeit von Höcke & Co. Aber damit bricht man diesen Einstellungen die Spitze.

Der Artikel 18 Grundgesetz, mit dem die Aberkennung des Wahlrechts und der Wählbarkeit von extremistischen Politikern möglich ist, gehört zu dem, was man den kleinen Widerstand nennt. Dieser kleine Widerstand ist geboten, auf dass nie mehr der große Widerstand erforderlich wird. Das große Widerstandsrecht ist im Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes so formuliert: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieser Satz stand nicht von Anfang an im Grundgesetz, er kam erst 1968 mit der Notstandsverfassung hinein. In diesem Widerstandsartikel steckt die Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen, dass es den großen Widerstand braucht; dieser Artikel ist also auch die Aufforderung zum kleinen Widerstand. Mit diesem kleinen Widerstand feiert man das Grundgesetz.

Unser Preisträger, das Medienhaus CORRECTIV ist eine gemeinnützige GmbH. Aus der Gemeinnützigkeit folgen steuerliche Vorteile. Die Kritiker und Gegner von CORRECTIV versuchen daher, an der Gemeinnützigkeit zu sägen. Bei der Fact-Checking-Plattform „Volksverpetzer“ hatten sie damit kürzlich Erfolg. Der Volksverpetzer„ bezeichnet sich auf der eigenen Website als „Anti-Fake-News-Blog“. Er engagiert sich gegen Hass, Hetze, Fake News und Verschwörungsmythen. Ziel sei es, Behauptungen von Extremisten und Verschwörungsideologen etwa durch Faktenchecks zu entkräften. Gleichwohl: Das Finanzamt Augsburg hat dem Volksverpetzer den Status als gemeinnützig abgesprochen, so wie das auch 2019 dem globalisierungskritischen Verein Attac passiert ist. Das Schwert schwebt auch über CORRECTIV. 

Es darf nicht sein, dass die Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert noch so geschurigelt werden kann. Sebastian Unger, Professor für Wirtschafts- und Steuerrecht an der Ruhr-Uni in Bochum fordert daher, „die im Mittelpunkt der Gemeinnützigkeit stehende steuerbegünstigte Teilhabe an der Gemeinwohlverwirklichung insgesamt auf ein gleichheitsrechtlich solides Fundament zu stellen“.  Der Gesetzgeber hat das bisher nicht geschafft. Das Demokratiefördergesetz ist bisher nicht verabschiedet worden. Wenn es diesen Namen Demokratiefördergesetz verdienen will, muss es die respektvolle und vielstimmige demokratischen Debatte fördern. Unstrittig förderungswürdig ist nach geltendem Recht das „Brauchtum, einschließlich des Karnevals, der Fastnacht und des Faschings“. Der nicht ganz ernst gemeinte Rat an politisch engagierte Initiativen, Vereine und Stiftungen müsste also lauten: Narrenkappe aufsetzen, Flugblätter mit „Alaaf“ und „Helau“ unterzeichnen und bei Demonstrationen Konfetti werfen. 

Das ist aber kein Gaudium, das ist Unfug. Ein neues Recht, das die Demokratie fördern will, muss also ausdrücklich die streitige und streitbare Demokratie fördern. Die geltenden Regeln der Gemeinnützigkeit beschränken die gemeinnützige Demokratiearbeit auf Gemeinschaftskunde, also etwa darauf, die Funktionsweise des Bundestags oder des Weltsicherheitsrats zu erklären. Das riecht nach Auerbachs Keller. Politisch Lied ist kein garstig, sondern ein gutes Lied. Das überkommene Gemeinnützigkeitsrecht hängt, ich kritisiere das heftig. einem überkommenen, demokratiefernen Staatsverständnis nach. Politik ist doch in einer Demokratie eben nicht nur Sache des Staates und der Parteien. Gewiss: Letztere wirken, laut Grundgesetz, an der politischen Willensbildung mit; sie sind aber nicht allein dafür zuständig. Auch die Zivilgesellschaft ist zuständig – so steht es übrigens im Artikel 11 des EU-Vertrages.

Politische Bildung ist nicht abstrakt, sie ist konkret. Sie verlangt, Bürgerinnen und Bürger nicht zu Bittstellern der Demokratie zu degradieren. Kluge, kompetente politische Bildung muss motivieren, ermutigen und wachrütteln, sie darf nicht steuerrechtlich eingeschüchtert werden. Mehr Demokratie wagen – das gilt, mehr als 50 Jahre nach Willy Brandt, immer noch. Das heißt: Gemeinnützigkeit muss demokratiefreundlich definiert werden. Dazu gehört dann freilich auch Transparenz: Politisch tätige gemeinnützige Akteure müssen dann große Spenden offenlegen. 

Politische Bildung und politische Kultur fangen dort erst richtig an, wo die blanke Information aufhört. Dieser richtige Anfang, jenseits der bloßen Information, verdient steuerliche Förderung, denn: Demokratie muss gelernt werden, immer und immer wieder. Sie ist ein täglicher Akt der Beteiligung. „Wer glaubt, er könnte durch Aneignung bestimmter Regeln ausreichend über das Wesen der Demokratie Bescheid wissen, unterliegt einer Täuschung“, hat der Philosoph Oskar Negt trefflich formuliert. Demokratie ist kein bloßes Regelsystem, sie ist eine Lebensordnung. Sie ist ein lebenslanges Lernsystem. Alles, was diesem Lernen dient, ist gemeinnützig. Wenn das Steuerrecht die Gemeinnützigkeit von demokratisch-rechtsstaatlicher Arbeit nicht anerkennt, ist das gemein und nicht nützlich. 

Mich erinnern die geltenden demokratieunfreundlichen Regularien und Regeln und Paragrafen im Steuerrecht an eine Szene aus dem Film „Amadeus“.  Die Zeitschrift Rolling Stone hat diesen Film über das Leben von Wolfgang Amadeus Mozart aus der Sicht seines Konkurrenten, des Wiener Hofkomponisten Antonio Salieri, als den „vielleicht besten Film“ bezeichnet, „der je über Musik gemacht worden ist“. Der mit acht Oscars ausgezeichnete Film des Regisseurs Miloš Forman stammt aus dem Jahr 1984, ist also vierzig Jahre alt und nicht mehr so ganz frisch.

Aber es gibt darin eine Szene, die immer frisch bleibt, die man nie mehr vergisst: Kaiser Joseph II., der Sohn von Maria Theresia, sitzt in der Uraufführung von Mozarts komischer Oper „Entführung aus dem Serail“ – und der 26-jährige Komponist wartet nach der Aufführung gespannt und begierig auf die Reaktion seines Auftraggebers. Der ringt nach Worten und fasst dann sein majestätisches Urteil wie folgt zusammen: „Zu viele Noten, lieber Mozart.“ Und der Regent setzt hinzu: „Streich er einige weg, und es ist richtig.“ Dem Kaiser war das Mozart’sche Singspiel, verglichen mit der damaligen Operntradition, zu vielstimmig. 

Im Film ist diese Szene von beklemmender Komik, weil heute jeder weiß, welch grandioses Werk Mozart geschaffen hat. Mir fällt diese Szene ein, wenn ich die Urteile zur Förderung von Vereinen lese. Diese Urteile laufen darauf hinaus, dass Vereine in Deutschland nicht „zu viel Politik“ machen sollen, dass sie also nicht „zu politisch„ sein dürfen. Politische Debatten, politische Ziele: Sie sind angeblich schädlich. „Streich er einige weg, und es ist richtig“ – dann wirst du gefördert. Dabei besteht doch, um im Bild zu bleiben, Demokratie in Vielstimmigkeit, darin, dass es ganz viele Noten, dass es ganz viele Meinungen gibt. 

Ich meine: Förderungswürdig sind auch Akteure, deren Ziele man gar nicht teilt. So ist es eben in einer Demokratie: Die einen halten die Globalisierungskritiker, die gegen den Finanzkapitalismus streiten, für Chaoten. Die anderen halten die sogenannten Lebensschützer, die gegen Abtreibung kämpfen, für Spinner. Aber: Auch die Ansichten, die die Mehrheit für verquer hält, gehören zum demokratischen Diskurs und sind daher nützlich. Eines geht freilich nicht: Grundrechtsfeindlichkeit und Gemeinnutz – das geht nicht zusammen. Wer Konzepte verficht, die auf rassistische Diskriminierung zielen, wer gegen Minderheiten hetzt, wer aggressive völkische Positionen in die Politik pumpt – der soll das nicht auch noch mit steuerlicher Förderung und unter den Dächern und in den Räumen des demokratischen Gemeinwesens tun. Warum nicht? Weil die Würde des Menschen unantastbar ist. 

CORRECTIV hat mit seiner Recherche klar gemacht, dass der Verfassungssatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht einfach nur Verfassungspathos ist. Er ist der Haupt-, Eingangs- und Fundamentalsatz des Grundgesetzes, er ist zentral für unseren demokratischen Rechtsstaat, er ist zentral für den demokratischen Diskurs, er ist zentral für das Nachdenken über politische Bildung. Für diesen Akt der Bewusstmachung hat CORRECTIV diesen Preis verdient. CORRECTIV ist, zu Recht, schon oft ausgezeichnet worden. Dieser Preis, der den Namen von Carlo Schmid trägt, ist aber ist eine ganz besondere Auszeichnung. Es ist der Preis mit dem „o“. Es ist der Preis, hinter dem ein demokratisches Motto steht, das Carlo Schmid geprägt hat: Wir alle sind die Brandmauer! 

Prof. Dr. Heribert Prantl war 25 Jahre lang Leiter erst des Ressorts Innenpolitik, dann des Ressorts Meinung der Süddeutschen Zeitung – und Mitglied der Chefredaktion. Heute ist er Kolumnist und Autor der Zeitung und politischer Publizist.