Explosion am Kinderkrankenhaus in Kiew: Analysen belegen Angriff mit russischer Kh-101-Rakete
Nach einer verheerenden Explosion am größten ukrainischen Kinderkrankenhaus in Kiew behaupten pro-russische Kanäle in Sozialen Netzwerken und russische Regierungsstellen, dass eine ukrainische Rakete dafür verantwortlich sei. Doch mehrere Analysen, Vergleiche mit anderen Raketen und Trümmerteilen von der Explosion belegen den Einsatz einer russischen Waffe.
Am 8. Juli traf eine Rakete die größte ukrainische Kinderklinik in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Zwei Menschen sind laut der ukrainischen Regierung tot und 32 weitere verletzt, darunter mehrere Kinder. Die Ukraine, die USA und die Vereinten Nationen machen Russland für den Angriff verantwortlich. Die russische Regierung bestreitet das. In einem Beitrag auf X schrieb die Botschaft Russlands in Deutschland mit Verweis auf das Außenministerium, die ukrainische Luftabwehr habe das Krankenhaus getroffen.
In Sozialen Netzwerken kursieren vermeintliche Beweise für diese Behauptung. Etwa ein Video, das die Rakete Sekunden vor dem Einschlag auf das Krankenhaus zeigt. Darin sei zu sehen, dass eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehr-Rakete den Schaden verursacht habe, heißt es auf Tiktok. Auch auf X, Telegram und Facebook verbreitet sich die Behauptung in dieser oder ähnlicher Form – auch international – und erreicht Millionen Menschen.
Mehrere Experten kommen jedoch übereinstimmend zu dem Schluss, dass die russische Rakete Kh-101 am besten zu dem Video vom Einschlag auf das Krankenhaus und zu der anschließenden Explosion passt. Was dafür spricht, erfahren Sie in diesem Faktencheck.
Video zeigt eindeutig den Ort des Einschlags in Kiew
Zunächst haben wir geprüft, ob das Video wirklich den Angriff auf das Krankenhaus in Kiew zeigt. Durch eine Bilder-Rückwärtssuche fanden wir das Video in höherer Auflösung auf einer ukrainischen Webseite. In der 23-sekündigen Aufnahme ist deutlich zu sehen, wie eine Rakete auf den Boden zufliegt und explodiert, eine graue Wolke breitet sich aus.
Im Vordergrund ist ein großes markantes Gebäude zu sehen, auf dem die Aufschrift „Ministerium“ auf Ukrainisch zu erkennen ist. Mit einer Bilder-Rückwärtssuche fanden wir das Gebäude – es handelt sich um den Sitz des Ministeriums für Infrastruktur in Kiew. Das belegen Vergleiche mit öffentlich verfügbaren Aufnahmen. Direkt hinter dem Ministerium steht das vom Angriff betroffene Ochmadyt-Krankenhaus.
Auch ein Teil des Krankenhauses ist in dem Video zu erkennen – die Fassade wird erschüttert und einige Fenster zerbrechen offenbar wegen der Explosion. Das Video zeigt also den Ort des Einschlags.
Wie sich die Raketen Kh-101, AIM-120 und PAC-3 unterscheiden
Schon am Tag des Angriffs teilte der Inlandsgeheimdienst der Ukraine (SBU) mit, dass die Kinderklinik von einer russischen Rakete vom Typ Kh-101 getroffen worden sei. Das belegten Fragmente der Rakete selbst, die der SBU vor Ort gefunden habe. Zu diesen Fragmenten kommen wir später. Pro-russische Kanäle und offizielle Regierungsstellen Russlands behaupteten hingegen, es handle sich um eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehr-Rakete. Auf manchen Kanälen hieß es, es sei eine amerikanische Rakete des Typs AIM-120 oder alternativ des Typs PAC-3.
Die drei Raketen sind unterschiedlich in ihren Funktionen und Dimensionen. Wie die Bundeswehr auf ihrer Webseite erklärt, ist die AIM-120 AMRAAM (Advanced Medium-Range Air-to-Air Missile) eine Luft-Luft-Rakete zur Bekämpfung von Flugzeugen mit einer Länge von rund 3,7 Metern. Die PAC-3 ist eine Rakete, die vom Boden aus von einem speziellen Fahrzeug abgeschossen wird, einem sogenannten Flugabwehrraketensystem. Bekannt ist etwa das Patriot-System. Die Rakete ist 5,2 Meter lang. Die Ukraine nutzt das Patriot-System, um sich gegen russische Angriffe zu verteidigen.
Die Kh-101 ist nach übereinstimmenden Informationen mehrerer Seiten für Militärausrüstung und dem staatlichen russischen Nachrichtenportal Sputnik rund 7,5 Meter lang. Die Kh-101 wird von einem Flugzeug auf Bodenziele abgeschossen.
Experten halten die Rakete, die das Krankenhaus in Kiew traf, übereinstimmend für Kh-101
In einem Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck kommt ein Militärtechnik-Experte der Bundeswehr, der anonym bleiben möchte, zu dem Schluss: „Von den drei Flugkörpern ist die Kh-101 die wahrscheinlichste.“ Ein Indiz sei, dass der Flugkörper auf dem Video, das neben einem Gebäude fliegt, ungefähr die Länge von zwei Stockwerken habe. „Das würde tendenziell zur Kh-101 passen, die ungefähr sieben Meter lang ist“, sagt er. Auch das geschätzte Verhältnis zwischen Länge und Durchmesser des Flugkörpers, sowie die Form selbst, passen laut dem Bundeswehr-Experten zu der russischen Kh-101. „Die AIM-120 wäre viel kleiner, die PAC-3 hat keine Tragfläche in der Mitte wie das Objekt in dem Video.“
Zum selben Schluss kommen auch Autoren vom Recherchenetzwerk Bellingcat. Sie haben 3D-Modelle der Kh-101 und der AIM-120 angefertigt und diese mit Screenshots aus dem Video von dem Einschlag verglichen. In einer E-Mail schrieb uns einer der Artikel-Autoren, Giancarlo Fiorella: „Unsere Analyse kommt zum Schluss, dass die Rakete eine Kh-101 war.“ Die russische Rakete sei durch den Bestandteil eines Triebwerks am Heck zu erkennen, welches weder die AIM-120 noch die PAC-3 habe.
Weiterer Hinweis auf Kh-101: Abgas-Spuren deutet auf Triebwerk
Bei diesem Bestandteil handelt es sich laut Fabian Hoffmann, Militärexperte und Doktorand an der Universität Oslo, der unter anderem zu Waffensystemen forscht, um eine Turbine. Das ist für ihn eins von mehreren Indizien, die für eine Kh-101 sprechen. „Am Heckteil des Marschflugkörpers konnte man eine kleine Turbine erkennen – das ist typisch für bestimmte russische Marschflugkörper, etwa die Kh-101 und die Kh-55. Außerdem sieht man, dass die Flügel, vor allem die Heckflügel, zu groß sind, um von ukrainisch genutzten Luftabwehrraketen wie der AIM-120 oder einer Patriot-Rakete zu stammen“, sagte Hoffmann in einem Interview mit der Welt.
Man sehe auf dem Video auch Abgas-Spuren, sagte Hoffmann. Dieser wäre bei Flugabwehr-Raketen nicht zu erwarten, sehr wohl aber bei der Kh-101, die bis zum Schluss von einem Triebwerk angetrieben werde. Auch die Zerstörungskraft der Rakete passe zu dem russischen Raketentyp, ein kleiner Gefechtskopf einer Flugabwehrrakete reiche nicht, um die Betonwände des Krankenhauses zu zerstören. „Es gibt keine andere plausible Erklärung als einen russischen Marschflugkörper. Es gibt wirklich überhaupt keinen Zweifel“, sagte der Militärexperte.
Flugbahn sagt nichts über Herkunftsort aus – Russische Rakete hat eigenes Navigationssystem
Was ist mit der Behauptung, die Rakete käme aus nordwestlicher Richtung, russische Raketen aber in der Regel aus dem Südosten? Für Bellingcat-Analyst Michael Sheldon ist das kein plausibles Argument. „Die Kh-101 hat ihr eigenes Antriebs- und Navigationssystem. Somit kann sie also im Flug manövrieren. Das bedeutet, dass ihre Flugbahn nicht unbedingt die Richtung, aus der sie kommt, zeigt“, schrieb er uns per E-Mail. In einem Bericht von Sputnik wird das Navigationssystem der Kh-101 gelobt.
Dem stimmt auch der Bundeswehr-Experte zu, den wir für unseren Artikel kontaktiert haben. Russland würde schon aus strategischen Gründen nicht alle Raketen aus derselben Richtung abfeuern, erklärt er: „Wenn man einen größeren Angriff plant, würde man ihn aus verschiedenen Richtungen machen, damit sich die Abwehr schwer tut – wenn das die Technik hergibt, und das gibt sie in diesem Fall mutmaßlich her, dann ist es schwerer, alle Flugkörper abzuschießen.“ Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist am 8. Juli genau ein solcher Angriff passiert: Russland habe mehr als 40 Raketen auf mehrere Städte gefeuert.
Das ukrainische Medium Texty hat Daten zu russischen Raketenangriffen zwischen September und November 2023 gesammelt und auf einer Karte dargestellt. Auch darauf ist zu erkennen, dass Russland die Ukraine aus unterschiedlichen Richtungen angreift und die Raketen teils im Flug ihre Richtung ändern.
Trümmerteile vor Ort ähneln früheren Resten von Kh-101-Raketen
Es gibt auch über das Video hinaus Hinweise auf eine Kh-101. Bellingcat hat Fotos vom Geheimdienst SBU analysiert, die die Trümmer nach dem Einschlag und Einzelteile der Rakete zeigen sollen. Darauf sind etwa Teile des Triebwerks und eine Seriennummer zu sehen. Diese Trümmerteile fand Bellingcat auch in Fotos des ukrainischen Nachrichtenportals Gazeta.UA – und konnte so verifizieren, dass die Fotos tatsächlich von dem Angriff auf das Krankenhaus stammen. Die gefundenen Reste der Rakete stimmen mit früheren Fotos von Kh-101-Teilen überein.
Auch die Vereinten Nationen (UN) kommen nach eigenen Angaben zu dem Schluss, dass eine russische Rakete das ukrainische Krankenhaus getroffen habe. Danielle Bell, Leiterin der UN-Beobachter-Mission für Menschenrechte in der Ukraine, sagte in einer Pressekonferenz: „Die Analyse des Videomaterials und eine vor Ort vorgenommene Begutachtung deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass das Kinderkrankenhaus einen direkten Treffer erlitten hat und nicht durch ein abgefangenes Waffensystem beschädigt wurde.“
Alle Faktenchecks zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Max Bernhard, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Luft-Luft-Rakete AIM-120 AMRAAM, Bundeswehr: Link
- PAC-3-Rakete, Lockheed Martin: Link
- Kh-101-Rakete, RIA Novosti, 18. November 2015: Link (archiviert)
- „Russian Missile Identified in Kyiv Children’s Hospital Attack“, Bellingcat, 9. Juli 2024: Link
- „‚Ganz eindeutiger Beweis‘, dass Russland auf das Kinderkrankenhaus geschossen hat“, Welt, 11. Juli 2024: Link