Rückkehrzentren für Asylsuchende

Überbelegt und unzumutbar

Rückkehrzentren in der Schweiz sind unsichere Orte und bieten keine angemessenen Lebensbedingungen für Schutzbedürftige. Neuerdings bringen Behörden dort jedoch auch diejenigen unter, die das Asylverfahren noch vor sich haben. Die Folgen für Betroffene sind schwerwiegend.

von Hanna Fröhlich

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Einige Bewohnende sind bereits vor der Ausreisepflicht traumatisiert und vulnerabel. (Symbolbild) Quelle: Keystone

Aminata hat eine traumatische Jugend hinter sich. Dabei ist sie nach eigenen Angaben erst 16 Jahre alt. Sie erzählt, wie sie in Gambia bei einem Onkel aufwuchs, gemeinsam mit der Schwester. Als diese vor der Zwangshochzeit bei einer Genitalverstümmelung verblutete, sollte Aminata sie als Ehefrau ersetzen. Auch sie musste sich der lebensgefährlichen Prozedur unterziehen, landete im Krankenhaus. Von dort floh sie nach Europa, um frei zu sein, wie sie sagt. Um den Verlust ihrer Schwester, ihrer einzigen Bezugsperson, trauert sie bis heute.

Diese Geschichte würde Aminata gerne denjenigen erzählen, die entscheiden können, ob sie als Geflüchtete Asyl bekommt. Doch stattdessen sitzt sie in einem Rückkehrzentrum, einer vollen Massenunterkunft, die eigentlich für Personen bestimmt ist, deren Asylbescheid bereits abgelehnt wurde. Der Grund: Aminata gilt als „Dublin-Fall“. Als das Mädchen im vergangenen Jahr aus Gambia in die Schweiz flüchtete, führte ihre Route durch Italien, wo auch ihre Fingerabdrücke hinterlegt sind. Jetzt wartet sie und bangt, dass die Polizei sie abholt und zurück nach Italien bringt – denn gemäss der sogenannten Dublin-Verordnung ist dieses Land für ihr Asylverfahren zuständig. 

Die 2013 verabschiedete Verordnung, die in EU- und EFTA-Staaten gilt, legt fest: Personen erhalten in der Schweiz kein Asylverfahren, wenn sie vorher in einem sicheren Drittland registriert wurden. In Aminatas Fall ist das Italien. Es gibt jedoch auch eine Ausnahme: Sollte Italien sich weigern, Aminata innerhalb von sechs Monaten zurückzunehmen, muss die Schweiz ein eigenes Asylverfahren eröffnen. In diesen sechs Monaten aber leben die Leute je nach Kanton von der Nothilfe und werden in Rückkehrzentren untergebracht – gemäss Amnesty International unsichere Orte für Kinder, vor allem nachts. Sie böten keine angemessenen Lebensbedingungen für Schutzbedürftige, so die Menschenrechtsorganisation. 

Reguläre Illegalität und Nothilfe für Schutzsuchende

Rückkehrzentren wurden für Menschen mit einem Wegweisungsentscheid eingerichtet, geflüchtete Personen also, deren Asylgesuch abgewiesen wurde. Die Schweizer Flüchtlingshilfe spricht von einer „regulären Illegalität”: Sie müssen das Land verlassen, können dies jedoch nicht. Sie erhalten darum Nothilfe, also acht bis 12 Franken am Tag. Das Leben in den Zentren ist geprägt durch Anwesenheitskontrollen und durch Sorgen, ob das Geld etwa für Hygieneartikel reicht – Windeln für die Kinder zum Beispiel. Dazu kommt die Tatsache, dass viele Menschen auf engem Raum leben und das den ganzen Tag lang. Die Bewohnerinnen und Bewohner dürfen nicht arbeiten und keiner freiwilligen Arbeit nachgehen

Geflüchtete Personen, die hier leben und nicht als Dublin-Fälle gelten, haben im Gegensatz zu Aminata bereits ein Asylverfahren und eine Anhörung durchlaufen, in der sie ihre Geschichte schildern konnten. Viele von ihnen leben teils seit Jahren in den Rückkehrzentren. 

Seit einiger Zeit sind die Zentren jedoch voller, wie das Amt für Bevölkerungsdienste auf unsere Anfrage einräumt. Dublin-Fälle wie Aminata, die nur ein paar Monate im Zentrum bleiben, werden gebracht und wieder abgeholt. Das sorgt auch für Stress bei den anderen Bewohnerinnen. 

Unzumutbar bei maximaler Auslastung

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter ist eine behördenunabhängige Institution, die kontrolliert, ob bei freiheitsbeschränkenden Massnahmen Grund- und Menschenrechte eingehalten werden. Zu ihren Schwerpunkten gehört die Überprüfung der Unterbringung von asylsuchenden Personen. Die Kommission hat schon vor drei Jahren in verschiedenen Kantonen eine Untersuchung in Rückkehrzentren durchgeführt. Damals kam sie zu dem Schluss: Die Zentren bieten keine zumutbare Umgebung für Geflüchtete, wenn sie maximal ausgelastet sind. 

Im Bericht der Kommission heisst es damals über die Rückkehrzentren im Kanton Bern: „Die Belegung von 60 Prozent zu erhöhen bzw. die vorgesehene maximale Kapazität auszuschöpfen, würde die bereits bei aktueller Belegung kritische Situation zusätzlich verschlechtern und wäre für die Bewohnenden der Rückkehrzentren nach Ansicht der Kommission in jedem Fall unzumutbar.”

Diese Einschätzung deckt sich mit den Recherchen von CORRECTIV in der Schweiz. Ein Vater von fünf Kindern, der schon lange im Zentrum lebt, erzählt von einer „sehr belastenden Zeit“ für seine Familie. Immer wieder würden Leute nachts abgeholt. Dabei werde geschrien, manche drehten durch, schlugen um sich. Kinder weinten, alle hätten Angst.

Ziel der Nothilferegelung und der Unterbringung in den Rückkehrzentren ist die Durchsetzung der Ausreisepflicht.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter beurteilt die Situation in ihrem Bericht von 2021 so: „Ziel der Nothilferegelung und der Unterbringung in den Rückkehrzentren ist die Durchsetzung der Ausreisepflicht. Ihre Umsetzung führt zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung.” Gemäss Expertinnen verstärkten solche Umstände vorhandene Verletzlichkeiten von abgewiesenen Personen und schafften eine sozial marginalisierte Gruppe von Menschen. „Einige Bewohnende sind bereits vor der Ausreisepflicht traumatisiert und vulnerabel.”

Wenn Aminata an ihre Heimat in Gambia denkt, erinnert sie sich besonders an die Schulzeit.  Acht Jahre sei sie dort zur Schule gegangen, habe sehr gute Leistungen erbracht, war in der Schülerinnenvertretung, hielt Reden. Bildung ist ihr sehr wichtig, sagt sie, und zeigt Fotos von sich in Schuluniform.

Vier Herdplatten für fast 70 Personen

Das Rückkehrzentrum, wo die 16-Jährige jetzt lebt und wo Frauen und Familien mit Kindern untergebracht werden, war im vergangenen Herbst nur schon mit halber Belegung von 40 Personen in einem Haus sehr voll. Eine Familie lebte dort schon zu fünft in einem Zimmer. Zurzeit ist das Zentrum fast voll belegt mit rund 70 Personen. Auch grosse Familien teilen sich ein Zimmer, das heisst sechs Personen vom Kleinkind bis zum Teenager leben mit den Eltern in einem Raum. Für Einzelpersonen stehen bis zu vier Betten in einem Zimmer. Der Schlafraum ist zugleich Aufenthalts-, Ess-, Spiel- oder Hausaufgabenzimmer. 

Im Haus gibt es drei Herde à vier Herdplatten, wo die Bewohnerinnen und Bewohner Essen kochen können. Zurzeit sind zwei von drei Herden kaputt, erzählt eine Freiwillige, die das Rückkehrzentrum regelmässig besucht. Es bleiben also vier Herdplatten für rund 70 Personen. 

In einem anderen Zentrum in Gampelen teilten sich die Bewohnerinnen und Bewohner bis dahin das Zimmer mit je drei anderen Personen. Jetzt sind sie zu sechst, so erzählt es ein Freiwilliger. Das Zentrum dort hat eine Kapazität von 120 Personen, oft leben dort etwa 70 Menschen. Als Anfang Jahr immer mehr Dublin-Fälle einzogen, lebten im Zentrum über 100 Menschen. 

Alberto Achermann, ehemaliger Präsident der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter, sieht die Unterbringung der Personen im Dublin-Verfahren in den Rückkehrzentren kritisch. „Wenn es sich um ein Minimalzentrum handelt, dessen Bedingungen die Personen möglichst zu einer Ausreise bewegen sollen, und damit wesentlich schlechter als in einem normalen Zentrum sind, wäre dies meines Erachtens nicht zulässig.”

Schweiz „profitiert” vom Dublin-System

Das Migrationsamt antwortet auf Anfrage, Dublin-Fälle seien genauso wie abgewiesene Asylsuchende dem Lande verwiesen. Deswegen sei es eine schweizweite Praxis, Betroffene in Rückkehrzentren unterzubringen.

„Aufgrund ihrer geografischen Lage inmitten Europas profitiert die Schweiz vom Dublin-System”, schreibt der Bundesrat in seinem Bericht. Sie überstelle deutlich mehr Personen an andere Dublin-Staaten, als sie selbst übernehmen muss. Gemäss Staatssekretariat für Migration ist es eine von 5.5 Personen, um deren Verfahren sich die Schweiz kümmern muss. 

Rechtsanwältin Cora Schmid von der Rechtsberatung AsyLex bearbeitet täglich Fälle von Personen im Dublin-Verfahren. „Das Dublin-System geht fälschlicherweise davon aus, dass jedes Land die gleichen Bedingungen für Geflüchtete bietet.” Im Dublin-Staat Kroatien zum Beispiel stünden die Chancen auf Asyl praktisch bei null. „Diverse internationale Organisationen kritisieren Kroatien scharf für die dortigen Menschenrechtsverstösse, zum Beispiel illegale Pushbacks und mangelnde medizinische Versorgung, um nur zwei Beispiele zu nennen.“

Polizeikontrollen trotz Fluchttrauma

Das Leben im Rückkehrzentrum und der Nothilfe ist geprägt von Begegnungen mit der Polizei. Gemäss der Rechtsanwältin Cora Schmid kommt es vor, dass die Polizei in den Zentren auftaucht und Strafbefehle an die Bewohnenden verteilt. Denn diese haben keinen rechtmässigen Aufenthaltsstatus. „Auch auf der Strasse werden die Leute oft von der Polizei angehalten.” Sie erhielten dann Strafbefehle wegen widerrechtlichem Aufenthalt.

Diese Praxis kritisierte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter bereits 2021: „Personen mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid, denen eine Ausreisefrist gesetzt worden ist und bei denen die Frist abgelaufen ist, können bei Personenkontrollen aufgegriffen und gebüsst werden.” Bewohnende berichteten der Kommission, dass sie, wann immer sie sich in der Öffentlichkeit bewegten, Gefahr laufen, aufgrund des illegalen Aufenthalts von der Polizei angehalten und gebüsst zu werden. “Der Nothilfebetrag reicht nicht aus, um diese Bussen zu decken und ist auch nicht dafür vorgesehen”, so die Kommission.

Jede Nacht habe ich Angst, dass sie mich abholen

Eine sichere Umgebung wäre für geflüchtete Personen wie Aminata aus vielen Gründen wichtig. Ein Therapeut hat ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Ihre Flucht aus Gambia entpuppte sich als sechsmonatiger Horrortrip, den sie nie mehr machen würde, wenn sie nochmal entscheiden könnte. Für den schlimmsten Teil der Route über die Berge von Algerien bis nach Tunesien hatte sie Hilfe von einem Bekannten. In Tunesien aber wurden sie getrennt. Von da an musste sie alleine weiter. Irgendwie gelangte sie nach Italien. Sie wurde in einem gefängnisartigen Zentrum in Bologna untergebracht, wo sich ihr niemand annahm, wo sie nicht lernen durfte, Insassen auf Drogen gewesen seien. So flüchtete sie weiter, wurde in Chiasso angehalten und ins Bundesasylzentrum nach Bern gebracht.

Aminatas Schweizer Therapeut hatte ihr daraufhin eine Krisenintervention mit Fokus auf die Stressregulation und Schlafhygiene verschrieben. Doch dann siedelte man sie um, vom Bundesasylzentrum ins Rückkehrzentrum. An einen Ort, wo Schlafhygiene und Stressregulation Fremdworte sind. 

„Jede Nacht habe ich Angst, dass sie mich abholen”, sagt Aminata. Manchmal schlafe sie deswegen bei einer Freundin in Bern. Eine Anwältin hat sie nicht – sie zeigt einen WhatsApp-Verlauf mit einer Person vom Staatssekretariat für Migration „Wir sind nicht weiter für Sie zuständig”, heisst es dort – Und dann: „Wenn ihr Dublin-Verfahren abläuft, hören Sie wieder von uns.” 

Recherche: Hanna Fröhlich
Redaktion: Marc Engelhardt, Sven Niederhäuser
Faktencheck: Sofie Czilwik
Bildredaktion: Ivo Mayr
Kommunikation: Valentin Zick