Interviews

Hunderttausende sind unsichtbar

Niemand weiß, wie viele Menschen in Deutschland und Europa ohne Papiere leben. Wir nennen unsere Recherche daher auch „Die Unsichtbaren“. Dita Vogel, Wissenschaftlerin an der Universität Bremen, hat vor einigen Jahren in einer Studie versucht, die Zahl der Unsichtbaren zu bestimmen. Ihr Ergebnis: Hunderttausende Menschen dürften sich nicht in Deutschland aufhalten – und Millionen in Europa.

von Florian Bickmeyer

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Das Ergebnis ist nur eine grobe Schätzung. Florian Bickmeyer sprach mit Vogel darüber, wie sie die Zahl berechnet hat, über abschreckende Zahlen und über ihre aktuelle Untersuchung: über Kinder in der Illegalität.

Frau Vogel, es liegt in der Natur der Sache, dass man nicht weiß, wie viele Menschen ohne Papiere in Deutschland und in Europa leben. Sie aber haben Zahlen ermittelt. Sagen Sie, wie viele Menschen sind es denn nun, die ohne Papiere und in der Illegalität leben?

Dita Vogel: Das ist ganz schwierig abzuschätzen. Es hat seit der Clandestino-Studie ja keine weiteren Untersuchungen mehr gegeben, die sich die einzelnen Mitgliedsstaaten mit ihren sehr unterschiedlichen Verhältnissen angesehen haben. Unsere Schätzung damals: zwischen 1,9 und 3,8 Millionen Menschen lebten im Jahr 2008 ohne Aufenthaltspapiere in der EU. Das waren 0,4 bis 0,8 Prozent der Gesamtbevölkerung und 7 bis 13 Prozent der Ausländer. Für Deutschland gingen wir von 200 000 bis 460 000 Menschen aus. Danach zeigen die Daten zunächst einen Rückgang und dann seit 2010 einen Wiederanstieg an, so dass die aktualisierte Schätzung für 2013 eine ähnliche Größenordnung ergibt: Diese Zahl habe ich später aktualisiert: für das Jahr 2013 schätze ich 150 000 bis 450 000 Menschen. 

Ein Porträt von Dita Vogel

Dita Vogel

Das sind große Spannweiten. Wie haben Sie diese Zahlen geschätzt?

Wir haben uns die Polizeiliche Kriminalstatistik angesehen. Dabei ist das Wichtigste, dass man weiß, dass die Statistik verzerrt ist – und dass man versucht, diese Verzerrung zu nutzen, um eine Ober- und eine Untergrenze zu schätzen. Die Idee ist, dass Menschen ohne Papiere in der Straftatenstatistik im Verhältnis zur deutschen Bevölkerung häufiger erscheinen und im Verhältnis zur ausländischen Bevölkerung weniger häufig.

Wieso sollte das so sein?

Menschen, die ohne Papiere leben, sind sehr vorsichtig. Sie versuchen sich von Polizei und Straftaten fernzuhalten. Zugleich haben sie aber Merkmale, die es wahrscheinlicher machen, dass sie in den Fokus der Polizei geraten. Für eine weiße, 70-jährige Frau, die im Altenheim lebt, ist es unwahrscheinlicher, dass die Polizei sie nach ihrem Ausweis fragt als für einen schwarzen, 20-jährigen Mann. Bei dieser Methode ist also immer eine breite Unschärfe gegeben, mit der wir in der Statistik leben müssen. Ich denke aber, dass es gute Argumente gibt, dass die richtige Zahl im genannten Bereich liegt – irgendwo.

Manchmal wird von mehr als einer Million Menschen gesprochen, die ohne Papiere in Deutschland leben. Das wären mehr als zweimal so viele.

Solche großen Zahlen sind nicht hilfreich in der Diskussion. Wer etwas auf die Tagesordnung setzen will, sucht eine Zahl, die so groß wie möglich ist. Aber das schlägt zurück, dann haben Entscheidungsträger eine unheimliche Angst, das sorgt eher für politischen Stillstand. Wenn man für die Menschen etwas erreichen möchte, sollte man mit den großen Zahlen vorsichtig sein, denke ich. Eine halbe Million Menschen sind ja auch schon sehr viele.

Bleiben wir also bei Ihrer Zahlen: zwischen 150 000 und bis zu einer halben Million. Was wissen Sie über diese Menschen?

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass die Zahlen zurzeit leicht ansteigen. Dann wird die Anzahl der jungen Männer, die illegal einreisen, häufig überschätzt. Die Anzahl älterer Frauen dagegen unterschätzt. Seit Clandestino gehen wir davon aus, dass Männer nur ein leichtes Übergewicht innerhalb der Gruppe haben. Das liegt auch daran, dass man in der Illegalität nur dann längere Zeit überleben kann, wenn man Arbeit findet. Eine Möglichkeit zu arbeiten ist in Privathaushalten – und das ist ein überwiegend weiblicher Arbeitsbereich. Viele kommen aus den Nachbarländern der EU, aus Albanien, der Ukraine, der Türkei oder Marokko. Was uns aufgefallen ist: die Menschen aus den größten, bevölkerungsreichsten Ländern der Welt finden sich auch hier relativ zahlreich in der Illegalität – aus Asien Chinesen oder Inder, aus Afrika Nigerianer, aus Südamerika Brasilianer. Schließlich gibt es noch eine größere Gruppe von Menschen aus Kriegs- und Krisenländern, die aber trotzdem nicht grundsätzlich Asyl in Deutschland bekommen. Wer zurzeit aus Syrien kommt, kann sich fast sicher sein, irgendeinen humanitären Status zu bekommen – das gilt für Afghanistan, Pakistan oder viele afrikanische Länder nicht unbedingt.

Wie hat man auf ihre Zahlen reagiert? Bis zu einer halben Million Menschen leben ohne Papiere. Man könnte sagen: Das sind sehr viele, das ist wichtig für unser Land. Man könnte auch sagen: das ist kaum mehr als ein halbes Prozent der Deutschen, das ist nicht so wichtig.

Ich denke, seit es diese Zahl gibt, ist es schwieriger geworden, wegen einer ausufernden Menge von als illegal geltenden Menschen lauthals nach mehr Kontrollen zu schreien. Das wird natürlich trotzdem noch gemacht – weil der Wille, Migration zu kontrollieren ja vor allem durch die Zahl derer motiviert ist, die noch außerhalb des Landes sind, die erst noch kommen können. Die, die schon drinnen sind, die sind für andere Fragen wichtig. Zum Beispiel: Kann man einzelne Gruppen regularisieren? Platzt unser Schulwesen aus allen Nähten, wenn auch Kinder ohne Aufenthaltsstatus zur Schule gehen dürfen? Wird unser Gesundheitssystem gesprengt, wenn diese Menschen alle einen Anspruch auf medizinische Versorgung haben? Die Schätzung war vor allem wichtig für die humanitären Fragen. Die Zahl hat dazu beigetragen, dass sinnvolle Regelungen in der deutschen Politik durchgesetzt werden konnten. Etwa, dass die Übermittlungspflichten im Gesundheits- und im Bildungsbereich verändert wurden. Nun müssen die Mitarbeiter zum Beispiel von Schulen den Behörden hier nicht mehr melden, wenn sie von einem Menschen ohne Papiere erfahren. Und sie haben auch kein Recht mehr dazu, weil die Daten geschützt sind – aber es ist noch eine andere Frage, ob das wirklich jeder Mitarbeiter weiß.

Sprechen wir einmal über die Kinder ohne Papiere. Wie ergeht es Kindern in der Illegalität?

Ihre Anzahl ist vermutlich eher klein. Aber für jedes einzelne Kind kann die Situation dramatische Folgen für das weitere Leben haben. Zum Beispiel, wenn ein Kind nicht zur Schule gehen kann – weil es institutionelle Regelungen gibt, die dagegen sprechen; oder wenn die Schulen nicht ausreichend informiert sind, dass sie auch dieses Kind aufnehmen müssen; oder wenn die Angst der Eltern dem im Wege steht. Es sind ja nicht die Kinder, die eine Entscheidung zur Migration und zur Illegalität treffen. Die Entscheidung wird für sie getroffen. Und die Eltern haben oft Angst, aufzufliegen.

Auf der Jahrestagung Illegalität stellten Sie eine Studie vor, die Sie gerade beginnen, genau über dieses Thema: Kinder ohne Papiere und ihre Möglichkeiten, zur Schule zu gehen. Haben Sie schon einen Eindruck, wie es um diese Möglichkeiten steht?

Die Schulen haben keine Routinen mit solchen Kindern. Unter Umständen scheitert die Nachfrage, ob ein Kind an eine bestimmte Schule gehen kann, schon an der Schulsekretärin, weil sie am Telefon sagt: „Nö, das geht nicht. Ohne Meldebestätigung können Sie Ihr Kind hier nicht anmelden.“ Man müsste den Grundsatz vermitteln: „Kein Kind soll verloren gehen, jedes Kind hat ein Recht auf Schule“ – auch, wenn es keine Meldebescheinigung gibt. Die Kultusminister sind überzeugt, dass dies überall in ihren Ländern der Fall ist. Ich glaube auch, dass der Grundsatz ernst genommen wird. In jedem Bundesland wurden Briefe an die Schulen geschrieben, dass eine Meldebescheinigung nicht notwendig ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das so ausreicht. Mein Eindruck ist, dass dieser Grundsatz noch nicht in allen Schulleitungen und Sekretariaten angekommen ist. Oft glauben die betroffenen Eltern auch nicht, dass es möglich ist, ihr Kind an einer Schule anzumelden.

Abschließend: Was würden Sie sich von der Politik wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass Härtefallregelungen offener ausgelegt werden, dass es mehr Möglichkeiten gibt für Menschen, die schon seit vielen Jahren in der Illegalität leben, noch einen Ausweg zu finden. Ich sehe die Fortschritte beim Wegfall der Übermittlungspflichten und würde mir wünschen, dass die Umsetzung auch flächendeckend vorangetrieben wird und funktioniert – der Zugang zu arbeitsrechtlichem Schutz, zur Schule, zur medizinischen Versorgung. Mein letzter Wunsch betrifft den arbeitsrechtlichen Schutz, die Lohneinforderung aus dem Ausland: Zwar gibt es eine EU-Richtlinie, die besagt, dass jeder Anspruch hat auf den Lohn für geleistete Arbeit, auch wenn er hier illegal gelebt und gearbeitet hat. Aber es ist sehr, sehr schwierig, diesen Anspruch aus dem Ausland geltend zu machen. Es sollte mehr Unterstützungsmöglichkeiten geben, damit Menschen im Inland und auch nach einer Rückkehr ins Ausland ihre Lohnforderungen durchsetzen können. Ich glaube nicht, dass jeder hier bleibt, der einmal illegal hier ist. Und ich finde, wir sollten nicht zulassen, dass es sehr  leicht ist, diese Menschen zu betrügen und auszubeuten. Auch die regulär in Deutschland arbeitenden Menschen sollten ein Interesse daran haben, dass Arbeitgeber nicht davon kommen, wenn sie Menschen ohne Aufenthaltsrecht um den versprochenen Lohn betrügen können.

Redaktion: Florian Bickmeyer
Gestaltung: Thorsten Franke, Simon Jockers, Ivo Mayr