Die Mafia, kurz erklärt: #2 — Die ‚Ndrangheta
Ursprung
Duisburg, Mühlheimer Straße, gleich neben dem Hauptbahnhof. In der Nacht vom 14. bis 15. August 2007, kurz nach zwei Uhr morgens, verlassen sechs Menschen das Restaurant Da Bruno. Sie steigen in einen VW Golf und einen Opel-Kastenwagen. Als sie losfahren, eröffnen zwei Männer das Feuer: 70 Schüsse fallen, sechs Männer sterben: Restaurantbesitzer Sebastiano Strangio, 38, sein Lehrling Tommaso Venturi, 18, die Brüder Francesco und Marco Pergola, 20 und 22 und Marco Marmo, 25. Sie hatten Venturis Geburtstag gefeiert. Alle hatten Wurzeln in der kalabrischen Ortschaft San Luca — dort, wo die ‚Ndrangheta ihr Hochburg hat. 2007 ist das Jahr, in dem die ‚Ndrangheta auch in Deutschland mediale Aufmerksamkeit bekommt. Endlich. Denn die kalabrische Mafia-Organisation hatte sich schon längst in Deutschland ausgebreitet.
Hinter dem Wort „Ndrangheta“ wird oft ein griechischer Ursprung vermutet: andragathia: Heldentum, Mut, Tugend. Auf Dialekt heißt ‘ndranghitiari sich wie ein mutiger Mann zu benehmen. Die Accademia della Crusca, die höchste Instanz der italienischen Sprache, geht eher von einem dialektalen Ursprung: ’ntranchiti, „Lamminnereien“ — die ‚Ndrangheta als innerlicher, enger Bund zwischen Mitgliedern einer kriminellen Gesellschaft.
Immer wieder wird vermutet, dass Mitglieder der ‚Ndrangheta die Nachkommen jener Briganten seien, die reich Landbesitzer bekämpften. Der Vergleich mit den Briganten ist aber ein reiner Versuch, die ‚Ndrangheta zu verherrlichen, ihr ein romantisches Robin-Hood-Image zu geben. Tatsächlich ist die ‚Ndrangheta im Gebiet um Reggio Calabria entstanden, in dem es kaum Briganten gab. Diese kämpften außerdem gegen Großgrundbesitzer in ärmeren Regionen, während die ‚Ndrangheta in einem reichen Gebiet zwischen Olivenhaine und Weingütern entstanden ist.
Zeitlich reichen die Wurzeln der ‚Ndrangheta bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Damals hieß sie Picciotteria und gedieh in ländlichen Gebieten. Schon damals verwickelte sich die ‚Ndrangheta mit der Politik. 1869 mussten die Wahlen in Reggio Calabria annulliert werden: Mafiosi sollen die Ergebnisse gefälscht haben. 1888 erreichte der Präfekten von Reggio Calabria, Francesco Paternostro folgende anonyme Anzeige aus Iatrinoli (heute Taurianova, in der Provinz Reggio Calabria): „Seit fünf Jahren ist das sonst friedliche Dorf Iatrinoli durch eine Vereinigung von Misstätern, die Picciotti gennant werden, beunruhigt.“ Ein Untersuchungsbericht zur Picciotteria aus dem Jahr 1903 schildert regelmäßige Treffen der ‚Ndrangheta-Mitglieder am Wallfahrtsort Madonna di Polsi. Hier fanden Gipfeltreffen statt. Erstmals findet die Onorata Società, die Ehrenwerte Gesellschaft, Erwähnung.
Struktur
Schließen sich mehrere ‚Ndrine zu einem Locale (Lokal) zusammen, übernimmt ein Dreigespann die Macht: Der Capobastone, der Boss der dominierenden ‚Ndrina, der Contabile, ein Buchhalter, und der Capo Crimine. Der Capobastone entscheidet über Leben und Tod der Mitglieder, der Contabile verwaltet die Finanzen und der Capo Crimine plant und koordiniert die Verbrechen. Die ‚Ndrangheta hat eine horizontale Struktur: Alle Lokale sind gleichwertig.
Im Gebiet von Reggio Calabria sind die Lokale in drei Bezirke unterteilt: Der Mandamento Reggio Centro (Hauptstadtbezirk), der Mandamento Jonico und der Mandamento Tirreno (die ionische und die tyrrhenische Küste). Auch in anderen norditalienischen Regionen und im Ausland hat die ‚Ndrangheta Mandamenti.
An der oberster Spitze steht die Provincia (Provinz). Der Capo Provincia, der oberste Boss koordiniert die Locali, bewacht die Traditionen uns löst interne Konflikte. In der ‚Ndrangheta gibt es keine strikte, hierarchische Strukturen wie bei der Cosa Nostra: Der Capo Provincia hat viel mehr die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Organisation zu gewährleisten.
Entwicklung
In den Sechziger- und Siebziegerjahren verdiente die ‚Ndrangheta Geld durch Entführungen. Die Geiseln versteckte sie im Bergmassiv Aspromonte. In Platì, einem Talkessel des Gebirges, baute die ‚Ndrangheta Verliese — Mitten im Dorf. Trotzdem kooperierte keiner der Einwohner mit den Behörden.
Einer der auffallendsten Entführungen war die von John Paul Getty III, einer Nachkommen des mächtigen Getty-Clans, im 1973: Der 16-jähriger Rothaarige war auf dem Weg von einem Club nach Hause, als er am 10. Juli auf der zentralen Piazza Farnese in ein Auto gestoßen wurde. Gettys Großvater hatte mit Erdöl ein Vermögen verdient, allerdings war er sehr geizig: „Ich habe 14 Enkelkinder“, erklärte er damals, „Wenn ich jetzt auch nur einen Penny zahle, werde ich bald 14 entführte Enkel haben.“ Der Milliardär weigerte sich, zehn Milliarden Lire für die Befreiung des Enkels zu zahlen. Er beschuldigte ihn sogar,die Entführung gemeinsam mit seiner deutscher Freundin Gisela Zacher geplant zu haben, um an die Erbe zu kommen. Am 10. November erreichten die Tageszeitung Il Messaggero eine rote Haarlocke und ein abgetrenntes Ohr: Die ‚Ndrangheta drohte, den Jungen in „kleinen Stücken“ an seine Familie zu liefern. John Paul Getty III. kam am 15. Dezember frei, nachdem sein Großvater 2,8 Millionen Dollar für seine Befreiung bezahlt hatte.
In den Sechzigerjahren breitete sich die ‚Ndrangheta auch in Norditalien und im Ausland aus. Dabei änderte sie langsam ihr Geschäftsmodell: Weniger Entführungen, dafür Drogenhandel und Prostitution, Geldwäsche und Verwicklungen mit der Politik.
In den Achtzigerjahren verdiente die ‚Ndrangheta Geld mit Giftmüll, das Geschäft entwickelte sich zu einer ihrer wichtigsten Geldquellen. Rund 40 Schiffe sollen in dieser Zeit verschwunden sein, eine Beteiligung der ‚Ndrangheta konnte aber lange nur vermutet werden — bis 2009 ein Schiffswrack vor der kalabrischen Küste entdeckt wurde. Eine Untersuchung mit einem Spezialroboter zeigte: Im Wrack lagen Fässer voller Gift- und Atommüll.
Laut Bericht der Anti-Mafia-Kommission 2014, liegt die aktuelle Stärke der ‚Ndrangheta sowohl in ihrer ökonomischen Macht als auch in ihrem starken Einfluss auf die Politik. Beim Drogenhandel kennt die ‚Ndrangheta keine Gegner: Sie kooperiert mit den südamerikanischen Kartellen und arbeitet oft in enger Verbindung mit amerikanischen Mafia-Clans: Die Operation „New Bridge“ enthüllte beispielsweise die Verbindung zwischen dem Ursino-Clan aus Gioiosa Jonica und der New Yorker Gambino-Familie.
Territoriale Ausbreitung
Von allen Mafia-Organisationen hat sich die ‚Ndrangheta am meisten im Norditalien und im Ausland verbreitet. Sie ist in vielen italienischen Regionen aktiv — darunter in der Lombardei, im Piemont, Ligurien und Umbrien. Im Ausland ist sie unter anderem in Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland in Kanada und in den den USA vertreten.
Aus dem Bericht der Anti-Mafia-Kommission
„Jeder weiß mittlerweile, wie grausam, effizient und verbreitet die ‚Ndrangheta ist. Man muss nicht mehr in Palmi oder Locri wohnen, um es zu wissen. Wer in der Lombardei, in Venetien, in Umbrien oder Piemont einen ‚Ndranghetista trifft, weiß wie gefährlich er ist und wie schwierig es ist, von seiner Erpressungen zu fliehen. (…) Ermittlungen in Kalabrien, in der Lombardei und im Ausland beweisen, dass ‚Ndrangheta-Mitglieder aus Kalabrien mit Mitglieder aus der Lombardei, aus Deutschland und aus der Schweiz eng kooperiert haben und neue Lokalen eröffnet habe. Parallel reisten Bosse von Lokalen aus der Lombardei, der Schweiz oder aus Deutschland nach Reggio Calabria oder Vibo Valentia, um dort die kalabrischen Kollegen zu treffen.“