Liebe Leserinnen und Leser,
morgen steht im Bundesrat – also der Vertretung der 16 Länder auf Bundesebene – ein Thema zur Entscheidung, das uns alle betrifft. Es geht darum, ob noch vor den wahrscheinlichen Neuwahlen im Februar eine große Krankenhausreform eingeleitet wird. Oder ob sie auf Eis gelegt und damit auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird. Heute unser Thema des Tages.
Außerdem im Spotlight: eine neue Folge „Bürokratie-Brecher“. Auch hier geht es ums Gesundheitswesen. Eine Ärztin lässt ihrer Wut freien Lauf.
Haben Sie Hinweise auf konkrete Missstände, deren Zeuge Sie geworden sind? Dann schreiben Sie mir gern: anette.dowideit@correctiv.org.
Thema des Tages: Bleiben Krankenhäuser Profit-Zentren?
Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste
Bürokratie-Brecher: Als Ärztin Im Abrechnungsdschungel
CORRECTIV-Werkbank: Die Heizkostenfalle: Das sind die Reaktionen auf unsere Recherche
Grafik des Tages: Viele Schülerinnen und Schülern benötigen psychologische Hilfe
Es war eines der wichtigsten Projekte von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD): den Krankenhaussektor reformieren. Sein Ziel: Die Kliniken sollen, wie Lauterbach in einem TV-Interview sagte, weniger „Wirtschaftszweig“ sein – also Profitzentren. Stattdessen solle die Versorgung der Patienten künftig mehr im Vordergrund stehen.
Ob die Reform wirklich kommt, entscheidet sich morgen im Bundesrat. Der Bundestag hat dem Gesetz zwar schon zugestimmt, doch die Ländervertreter könnten sie kippen, indem sie jetzt einen Vermittlungsausschuss anrufen. Das würde nämlich faktisch bedeuten, dass vor den Neuwahlen keine Einigung mehr erzielt werden kann. Nicht umgesetzte Gesetzesprojekte verfallen dann.
Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:
Wie sieht der Kliniksektor derzeit aus?
Es gibt bundesweit knapp 1.900 Krankenhäuser (Stand 2023). Für die Behandlung von Patienten zahlen die gesetzlichen Krankenkassen ihnen Geld nach dem sogenannten Fallpauschalensystem. Das heißt vereinfacht gesagt: Die Kliniken werden nicht danach bezahlt, wie lange eine Patientin im Krankenhaus ist, sondern danach, wie sie behandelt wurde. Zum Beispiel gibt es Fallpauschalen für operative Eingriffe.
Was soll die Reform bringen?
Das System führt zu etwas, das Wirtschaftswissenschaftler einen Fehlanreiz nennen: Werden mehr Leute operiert, bekommen die Kliniken mehr Geld. Es lohnt sich also für sie, auch dann Menschen zu operieren, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Das wiederum ist teuer für uns alle, die in die gesetzlichen Krankenkassen einzahlen. Auch hier wieder: vereinfacht gesagt.
Schon seit vielen Jahren sagen Ökonomen: Gäbe es weniger Kliniken, die miteinander um die lukrativen Patienten konkurrieren, zum Beispiel bei Hüft- oder Knie-OPs, wäre dieser Fehlanreiz zum großen Teil weg. Genau das habe ich selbst schon vor acht Jahren in einem Buch beschrieben, in dem es um Profite im Gesundheitswesen ging.
Geändert hat sich seither nichts Wesentliches – und genau diesen Kraftakt wollte Lauterbach schaffen. Nicht mehr jede Klinik soll jede OP anbieten, sondern gerade kleinere Häuser sollen sich auf die Eingriffe konzentrieren, die sie wirklich gut können. Davon hätten auch die Patienten etwas. Und das problematische Fallpauschalensystem soll es in dieser Form nicht mehr geben.
Es geht bei der Reform auch noch um ein paar andere Dinge, zum Beispiel weniger Bürokratie für Krankenhäuser. Ich überspringe das mal, weil der Text sonst viel zu lang würde.
Warum sind die Bundesländer zum Teil dagegen?
Krankenhäuser sind wichtige Arbeitgeber. Es gibt einige Städte und Landkreise, in denen sie sogar der größte sind. Werden Kliniken dicht gemacht oder wesentlich verkleinert, bringt das unter Umständen handfeste wirtschaftliche Probleme mit sich. Die Ländervertreter sehen sich an dieser Stelle also als Vertreter des Arguments Wirtschaftsfaktor.
Das Argument Arbeitsplätze ist natürlich verständlich. Am Ende geht es also morgen im Bundestag um die Frage, was Krankenhäuser in erster Linie sein sollen: Wirtschaftsfaktor – oder Teil eines effizienten Systems, das günstiger für die gesetzlich Versicherten ist.
Beschädigtes Unterseekabel
Ein chinesisches Frachtschiff wird verdächtigt, das Unterseekabel zwischen Finnland und Deutschland beschädigt zu haben.
t-online.de
Haftbefehle
Der Internationale Strafgerichtshof erlässt Haftbefehle gegen Netanjahu und Hamas-Anführer.
tagesspiegel.de
Pelicot-Prozess
Im Prozess um die zigfache Vergewaltigung Gisèle Pelicots beginnen heute die Schlussplädoyers der Anwälte.
tagesschau.de
Investigativ
Recherchen des russischen Investigativ-Portals iStories zeigen, dass die Zahl der Deserteure in der russischen Armee höher zu sein scheint als bisher angenommen.
fr.de
In einem Video auf Instagram und TikTok lässt eine Ärztin Ihrer Wut freien Lauf. Der Post geht viral – etwa 1,8 Millionen Menschen sehen Laura Dahlhaus zu, wie sie ihrer Kassenärztlichen Vereinigung (KV) schwere Vorwürfe macht. Was war passiert?
Dahlhaus betreibt eine Gemeinschaftspraxis in Borken – einer 42.000 Einwohner-Stadt an der niederländischen Grenze. Seit 2022 hätten drei Arztpraxen im Ort geschlossen, deren Patienten in ihre Praxis wechselten. Dabei komme es vereinzelt zu erneuten Behandlungen – aufgrund der „katastrophalen Informationsweitergabe“, so Dahlhaus. Denn es sei schwierig, die richtigen Informationen zu bekommen – von der KV, den Krankenkassen, aus dem Gedächtnis der Patienten oder der mitunter mangelhaften Dokumentation der Vorgängerpraxis.
Das führt zu mehreren Problemen: Die Krankenkassen zahlen diese Behandlung nicht nochmal. Und: Wenn Ärzte zu viele Leistungen abrechnen, können sie mit Schadenersatzforderungen, sogenannten Regressen, konfrontiert werden. Das zu prüfen, ist Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen. Sie sind die Interessenvertretungen für selbständige Ärzte und verhandeln beispielsweise die Honorare für bestimmte Behandlungsleistungen mit den Krankenkassen. Sie kontrollieren aber auch die Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnungen.
Laut Dahlhaus ergebe das heutzutage keinen Sinn mehr: „Die Plausibilitätsprüfungen stammen aus einer Zeit, als es zu viele Ärzte für zu wenig Einwohner gab. Die Situation hat sich gänzlich geändert“. Wenn Dahlhaus gegen die Regressforderungen Einspruch erheben möchte, müsse sie jeden Einzelfall schriftlich begründen. Das würde dazu führen, dass Ärzte im bürokratischen Mehraufwand versinken – oder gar ihre Zulassung abgeben.
Auf Anfrage schreibt die zuständige Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL), dass im konkreten Fall die Krankenkassen das alleinige Prüfungsrecht hätten. Die KVs würden dabei nur die Regresse weiterleiten.
Generell stellt sie aber die Plausibilitätsprüfungen ebenfalls in Frage: „Auf politischer Ebene setzt sich die KVWL für die Abschaffung von Arzneimittelregressen und medizinisch unsinnigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen ein.“ Die aktuelle Bundesregierung habe sich aber gegen eine Gesetzesänderung ausgesprochen.
Wir sammeln weitere Vorschläge für diese Kategorie. Haben Sie konkrete Erfahrungen mit Bürokratie, die Sie ausbremst? Schreiben Sie mir:
finn.schoeneck@correctiv.org
Auf X verbreitet sich die Behauptung, ein Mann müsse wegen eines „migrationskritischen“ Beitrags ins Gefängnis. Doch das stimmt nicht. Der Mann wurde wegen eines Aufrufs zu Gewalt und Rassenhass verurteilt.
CORRECTIV.Faktencheck
Endlich verständlich
Das US-Justizministerium hat Google angewiesen, den Internetbrowser Chrome zu verkaufen. Warum hat das Ministerium diesen Schritt unternommen?
netzpolitik.org
So geht’s auch
Sie will Catcalling sichtbar machen: Pia Brauneis ist Gründerin des Instagram-Profils „Catcalls of Bielefeld”. Beim Catcalling werden meist Frauen in der Öffentlichkeit sexuell belästigt – durch Rufen, Reden, Pfeifen oder Gestikulieren. Wie Brauneis mit ihrem Instagram-Account das Thema Catcalling sichtbar machen will, erklärt sie im Podcast unserer Jugendredaktion Salon5.
wirundheute.de
Fundstück
In einer Studie mussten Teilnehmer Gedichte von Shakespeare und ChatGPT bewerten. Die künstliche Intelligenz schnitt besser ab.
br.de
Nach unserer Recherche zu überhöhten Heizkosten erreichen mich viele Zuschriften von betroffenen Mieterinnen und Mietern, aber auch von Brancheninsidern. Dafür möchte ich mich bedanken. Ich kann Ihnen zwar keinen fachlichen Rat bieten, dennoch bleibe ich natürlich an dem Thema dran und freue mich daher, wenn Sie mir schreiben.
Nun zu den Zuschriften: Alle Betroffenen eint, dass sie von sehr hohen Heizkosten oder Nachzahlungen betroffen sind, die in die Tausende gehen. Viele fühlen sich machtlos, da sie gegen große Konzerne angehen. Diesen Personen kann ich nur raten, sich mit Nachbarinnen zusammen an einen Mieterverein zu wenden. Falls das nicht schon geschehen ist. Interessant (und leider wenig überraschend) ist, dass sich die Berichte und die Firmen, die genannt werden, mit meiner Recherche decken.
Politisch gab es leider bisher wenige Reaktionen auf unsere Recherche, denn das Thema scheint seit dem Ampel-Aus keine Priorität mehr zu haben. Das BMWK teilte mir dazu am Montag lediglich mit, dass die Bundesregierung weiter im Amt sei, die Arbeit fortsetze und das „jeweilige weitere Vorgehen“ prüfen würde. Konkrete Angaben, ob die Novellierung der AVBFernwärmeV, unter die auch Contracting fällt, tatsächlich noch in diesem Jahr umgesetzt wird, machte das BMWK nicht.
Sollte sich doch noch etwas bewegen im Kabinett, erfahren Sie es hier. Ich bleibe an dem Thema auf jeden Fall dran.
Rund ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler geben im aktuellen Schulbarometer an, psychisch belastet zu sein. Der Umfrage, die sich an die Lehrkräfte richtet, lässt sich entnehmen: Für längst nicht alle von ihnen existieren hinreichende Unterstützungsangebote. Dabei gibt es Unterschiede: Gymnasien schneiden bei der psychosozialen Versorgung besser ab als Förderschulen oder Einrichtungen in sozial benachteiligten Lagen. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie fasst unsere Jugendredaktion Salon5 in diesem Beitrag zusammen.
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An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Till Eckert, Sebastian Haupt und Finn Schöneck.
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