Hintergrund

Kanzlerduell zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz: Kandidaten argumentierten teils mit falschen Zahlen

Das TV-Duell zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz drehte sich unter anderem um Migration, den Arbeitsmarkt und die Ukraine. Wir haben einige der Behauptungen von Scholz und Merz im Faktencheck geprüft.

von Uschi Jonas , Steffen Kutzner , Kimberly Nicolaus , Paulina Thom

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Am 9. Februar trafen Olaf Scholz und Friedrich Merz im ZDF beim sogenannten Kanzlerduell aufeinander. Dabei stellten sie auch Falschbehauptungen auf. (Quelle: Michael Kappeler / DPA / DPA-Pool / Picture Alliance)

Migration, Arbeitsmarkt, Ukraine: Im Kanzlerduell zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) dominierten diese Themen. Beide brachten korrekte Zahlen und Fakten in die Debatte ein – doch beide stellten auch falsche Behauptungen auf. Wir haben einige der zentralen Behauptungen im Faktencheck geprüft.

1. Olaf Scholz über Grenzkontrollen und Migration

„[…] indem ich dafür gesorgt habe, dass es Grenzkontrollen in Deutschland gibt, 40.000 Zurückweisungen durchgeführt worden sind und indem im letzten Jahr die Zahl derjenigen, die irregulär gekommen sind, um 100.000, fast über ein Drittel gesunken ist und indem ich dafür gesorgt habe, dass wir jetzt im Januar den niedrigsten Wert, was Asylgesuche betrifft, seit 2016 haben. Und wir haben die Abschiebungen um 70 Prozent gesteigert, seitdem ich Kanzler bin.“ (ab Minute 10:50)

Bewertung: Teilweise falsch

In der Debatte um das Thema Asyl und Migration stellt Scholz mehrere Behauptungen und Zahlen in den Raum. Schauen wir uns die nach und nach an.

Grenzkontrollen: Es stimmt, dass während Scholz‘ Kanzlerschaft Grenzkontrollen in Deutschland eingeführt wurden. Die sind vorübergehend und wurden vom Bundesinnenministerium (BMI) ab Mitte September 2024 für die Dauer von sechs Monaten eingeführt. Kontrolliert wird an den Grenzen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien und Dänemark. Im Oktober 2023 hatte das BMI vorübergehende Kontrollen an den Ländergrenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz eingeführt, die seitdem regelmäßig verlängert wurden und vorläufig bis Mitte Juni 2025 gelten. Zu Österreich gibt es seit 2015 Grenzkontrollen.

Zurückweisungen: Scholz spricht zudem davon, dass es 40.000 Zurückweisungen an den Grenzen gegeben habe. Im vergangenen Jahr hat die Bundespolizei tatsächlich etwa 41.600 Personen, die irregulär nach Deutschland einreisen wollten, an den Grenzen zurückgewiesen, wie sie auf Anfrage des Mediendienstes Integration angab.

Irreguläre Migration: Laut Scholz kamen zudem 100.000 Menschen weniger „irregulär“ nach Deutschland. Das bedeutet, wie der Mediendienst Integration erklärt, dass ausländische Personen keine legale Einreisemöglichkeit genutzt haben. Legal kann man auf drei Arten nach Deutschland einreisen, wenn man: 

  1. Einen Reisepass von einem Land besitzt, der eine visafreie Einreise erlaubt.
  2. Ein gültiges Visum besitzt. 
  3. Der EU-Freizügigkeit unterliegt. 

Laut dem Mediendienst Integration reisen die meisten Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, zunächst irregulär ein. Wer dann allerdings in Deutschland einen Asylantrag stellt, gilt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als „irregulär“ – ab dann ist der Aufenthalt legal und die Personen bekommen eine Aufenthaltsgestattung. Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention verbietet zudem, Geflüchtete für die irreguläre Einreise strafrechtlich zu verfolgen. 

Laut der Bundespolizei gab es im Jahr 2023 127.549 unerlaubte Einreisen, im Jahr 2024 waren es 83.572 – das ergibt eine Differenz von rund 44.000, damit sind die unerlaubten Einreisen um ein Drittel gesunken, aber nicht um 100.000 wie vom Bundeskanzler behauptet. Um 100.000 geringer ist hingegen die Zahl der Asylanträge, wenn man die Jahre 2023 und 2024 vergleicht – auch das entspricht einem Drittel weniger. Auf Nachfrage, auf welche Zahlen Scholz sich bezieht, kam bis Redaktionsschluss keine Antwort.

Zahl der Asylgesuche: Weiter sagt Scholz, im Januar 2025 hätten so wenig Menschen Deutschland um Asyl ersucht wie seit 2016 nicht mehr. Das ist nicht korrekt. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gab es im Januar 2025 16.594 Asylanträge in Deutschland. Im Dezember 2024 waren es 13.716. In vergangenen Jahren lag die Zahl ebenfalls niedriger. Beispielsweise in den ersten acht Monaten im Jahr 2021 oder im gesamten Jahr 2018

Abschiebungen: Weiter sagt Scholz, seitdem er Kanzler sei, sei die Zahl der Abschiebungen um 70 Prozent gestiegen. Olaf Scholz wurde im Dezember 2021 Kanzler. Wir vergleichen daher die Zahl der Abschiebungen im Jahr 2022 mit denen im Jahr 2024. So ergibt sich ein Anstieg von rund 42 Prozent. Verglichen mit dem Jahr 2021, also dem Jahr vor Scholz’ Kanzlerschaft, beträgt der Anstieg 53 Prozent.

2. Friedrich Merz über Zuwanderung und Abschiebungen

„Wir haben immer noch in vier Tagen so viele Zuwanderer, wie in einem Monat abgeschoben werden. Das sind nach wie vor zu viele. Wir hatten im letzten Jahr 240.000. Wir haben in den drei Jahren Ihrer Amtszeit in Deutschland weit über zwei Millionen irreguläre Migranten nach Deutschland gesehen.“ (ab Minute 12:19)

Bewertung: Teilweise falsch

Zahl der Asylanträge und Abschiebungen: Wen Friedrich Merz mit „Zuwanderern“ meint, ist nicht ganz klar. Die Zahl 240.000 deutet jedoch darauf hin, dass er von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern spricht. Also Menschen, die Deutschland um Schutz ersuchen. 

Laut dem Statistischen Bundesamt sind im letzten Jahr etwa 250.000 Asylanträge gestellt worden. Dem stehen knapp 18.400 Abschiebungen gegenüber. Allerdings macht es wenig Sinn, die Zahl der Abschiebungen den gestellten Asylanträgen gegenüberzustellen: In Deutschland gibt es ein von der Verfassung geschütztes Recht auf Asyl. Asylanträge werden dementsprechend formal überprüft. Ist die Überprüfung abgeschlossen, wird ein Schutzstatus zugesprochen oder nicht. In Deutschland lag die Gesamtschutzquote der positiv beschiedenen Asylanträge 2024 bei 44,4 Prozent, sprich fast jede und jeder zweite Asylantragstellende hat ein Recht auf einen Schutzstatus in Deutschland und darf nicht abgeschoben werden. 

Irreguläre Migration: Merz Behauptung, über zwei Millionen „irreguläre Migranten“ seien während Olaf Scholz‘ Amtszeit nach Deutschland gekommen, ist falsch. Zunächst einmal ist der Begriff „irreguläre Migranten“, wie wir oben erklärten, unpräzise: Gemeint sind damit meist Menschen, die sich ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland befinden. Da „irreguläre“ Migrantinnen und Migranten nicht registriert sind, gibt es wenig gesicherte Informationen über sie. Nicht zu verwechseln sei der Begriff mit Menschen, die zunächst „unerlaubt einreisen“, aber anschließend ein Asylgesuch stellen und eine Aufenthaltsgestattung für die Zeit des Verfahrens erhalten, schreibt der Mediendienst Integration. „Unerlaubte Einreisen“ gab es in den letzten drei Jahren rund 300.000. Welche Menschen Merz meint, bleibt somit unklar.

Auch die Zahl der Menschen, die zum Stichtag 31. Dezember 2024 ausreisepflichtig waren, liegt mit 220.808 deutlich unter den zwei Millionen, die Merz nennt. Ebenso verhält es sich mit der Zahl der Asylanträge. 2022, 2023 und 2024 wurden 850.000 gestellt. 

Auf zwei Millionen Menschen kommt man lediglich dann, wenn man die Anzahl der Asylgesuche und die etwa 1,2 Millionen Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, addiert. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um „irreguläre Migrantinnen und Migranten“, wie Merz sagt, sondern um Kriegsflüchtlinge, von denen mehr als eine Million einen Aufenthaltstitel hat.

3. Friedrich Merz über Arbeitslosigkeit und Insolvenzen

 „Wir sind im dritten Jahr einer Rezession, das hat es in Deutschland noch nie gegeben. Wir haben drei Millionen Arbeitslose in Deutschland mit steigender Tendenz bei 700.000 offenen Stellen, die nicht besetzt werden können. Wir haben eine Insolvenzwelle wie nie in den letzten 15 Jahren. 50.000 Unternehmen sind in Ihrer Amtszeit in Deutschland in die Insolvenz gegangen. Fast die Hälfte davon im letzten Jahr. […] Was ist der Verlust von 300.000 Arbeitsplätzen in der Industrie […]? Das ist Deindustrialisierung.“ (ab Minute 27:40)

Bewertung: Fehlender Kontext

Drei Jahre Rezession in Deutschland: Im Jahr 2022 wuchs die Deutsche Wirtschaft um zwei Prozent. 2023 und 2024 gab es in Deutschland eine Rezession, die Wirtschaft schrumpfte, wie etwa die Tagesschau berichtete. Wäre Deutschlands Wirtschaft im dritten Jahr in Folge in einer Rezession, wäre das ein nie dagewesenes Ereignis. Klar ist bereits an dieser Stelle: Die Aussage von Friedrich Merz ist mindestens irreführend, denn für 2025 gibt es noch keine belastbaren Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung.

Die Bundesregierung erwartet ein Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent für das Jahr 2025. Der International Währungsfonds rechnet ebenfalls mit 0,3 Prozent Wachstum und die OECD sogar mit 0,7 Prozent. Der Bundesverband der Industrie dagegen prognostiziert ein drittes Rezessionsjahr. Sicher ist also, dass Merz nicht mit Gewissheit sagen kann, dass sich Deutschland im dritten Rezessionsjahr in Folge befindet.

Offene Arbeitsstellen und Arbeitslose: Die Zahlen stimmen: Die Zahl der Arbeitslosen liegt nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit momentan bei 2,99 Millionen Menschen. Seit 2011 liegt die Zahl der Arbeitslosen zwischen 2,3 und 3 Millionen, 2005 etwa lag sie deutlich höher, bei 4,9 Millionen. Offene Stellen gab es laut der Bundesagentur für Arbeit 2024 knapp 694.000. Die Zahl sinkt seit einigen Jahren, nachdem sie in der Pandemie gestiegen war. Für 2025 wird ein Rückgang auf 632.000 prognostiziert. Die Angaben von Merz sind also jeweils aufgerundet, stimmen aber.

Unternehmensinsolvenzen: Dass es in Scholz‘ Amtszeit 50.000 Unternehmensinsolvenzen gegeben habe, ist korrekt. Die veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamts bis zum Jahr 2023 plus die monatlichen Unternehmensinsolvenzen bis Oktober (Stand 10. Februar 2025) ergeben rund 50.000 Insolvenzen. Etwa 17.500 der Insolvenzen entfallen auf die Monate Januar bis Oktober 2024. Doch das sind nicht mehr Insolvenzen als in den letzten 15 Jahren, wie Merz behauptete. 

Der aktuellste Wert für ein komplettes Jahr ist der für das Jahr 2023; damals gab es 17.814 Unternehmensinsolvenzen. Niedriger war der Wert in den Jahren 2020 bis 2022. Insofern ist die Tendenz tatsächlich steigend. Aber: Von 1994 bis 2019 war die Zahl in jedem einzelnen Jahr höher als 2023. Zeitweise war die Zahl der Insolvenzen mehr als doppelt so hoch wie unter Scholz.

Industriearbeitsplätze: Dass in der Industrie 300.000 Arbeitsplätze weggefallen sind, wiederholte Merz mehrfach im Wahlkampf. Woher diese Zahl kommt, ist unklar. Die Zahl der Beschäftigten in der Industrie ist stabil: Von November 2022 bis November 2024 arbeiteten stets rund 5,5 Millionen Menschen in der Branche. In keinem einzigen Monat war die Zahl deutlich höher oder niedriger, die Schwankungen sind sehr gering. Wir haben bei der Pressestelle der CDU angefragt, auf welcher Statistik die Zahlen beruhen. Bis zur Veröffentlichung unseres Faktenchecks erhielten wir jedoch keine Antwort. 

Möglicherweise bezog sich Merz auf eine Prognose des Chefs des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf. Er sprach im Herbst 2024 davon, dass in den nächsten fünf Jahren bis zu 300.000 Jobs in der Industrie in Gefahr seien.

4. Olaf Scholz über die Unterstützung der Ukraine

„Deutschland ist der größte Unterstützer der Ukraine in Europa.“ (ab Stunde 1 Minute 08:02)

Bewertung: Fehlender Kontext

Als es im TV-Duell um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ging, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz unter anderem: „Deutschland ist der größte Unterstützer der Ukraine in Europa.“ Mit Blick auf die absoluten Zahlen ist das richtig. Bezogen auf die Wirtschaftskraft Deutschlands ist die Aussage jedoch falsch. 

Laut dem Ukraine Support Tracker des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW), einem Forschungsinstitut für Globalisierungsfragen, hat Deutschland bis Ende Oktober 2024 die Ukraine mit insgesamt rund 16 Milliarden Euro unterstützt und liegt damit auf Platz eins in Europa. Diese Gelder hat die Ukraine laut dem IfW bereits als militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe erhalten beziehungsweise sind sie als Zusagen vorgemerkt. 

Die insgesamt rund 16 Milliarden Euro Hilfsgelder entsprechen etwa 0,4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Damit liegt Deutschland in Europa auf Platz 15. Auf Platz eins liegt Estland mit Hilfsgeldern in Höhe von etwa 2,2 Prozent des BIP.

Alle Faktenchecks rund um die Bundestagswahl 2025 lesen Sie hier.

Redigatur: Gabriele Scherndl, Matthias Bau

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