Energiekosten

„Es ist schwer zu erklären, dass man bei 5 Grad an Kälte stirbt“

Etwa 47 Millionen Menschen in Europa können sich im Winter kein warmes Zuhause leisten, ergibt eine Analyse von CORRECTIV.Europe. Berichte von Lokaljournalistinnen und Lokaljournalisten aus unserem Netzwerk zeigen die Dimension des Problems in mehreren Ländern.

von Frida Thurm , Lilith Grull

Foto: istock

Der Winter in Europa zeigt sich in seinen letzten Tagen nochmal von seiner klirrend kalten Seite: Die Temperaturen fielen auf -12 Grad in Prag und -10 Grad in Berlin. Auch in den südlichen Ländern sanken sie auf -1 in Paris und 3 in Madrid. Stellen Sie sich vor, Sie kommen aus der Kälte nach Hause und können sich nicht aufwärmen, weil Ihre Heizung kalt ist – genau wie der Rest Ihrer Wohnung.

Die jüngste Recherche von CORRECTIV.Europe zeigt, dass genau das Realität für rund 47 Millionen Menschen in Europa ist. Die Situation stellt ein ernsthaftes gesundheitliches Risiko dar: Menschen in kalten und feuchten Wohnungen haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, sondern auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronische Atemwegsinfektionen. Gemeinsam mit unseren Netzwerkpartnern, Lokaljournalistinnen und Lokalournalisten in ganz Europa, machen wir auf die enorme Zahl der Betroffenen aufmerksam. Unser Netzwerk hat bis her 15 Artikel zu diesem Thema veröffentlicht, Sie finden sie hier.

Die aktuellsten Daten von Eurostat stammen aus 2023: 2,2 Millionen Menschen leben demnach in Portugal im Winter in kalten Wohnungen. Dort liegt auch die neben der Exklave Ceuta am stärksten betroffene Region Europas; auf den Azoren können 34,3 Prozent der Bevölkerung nicht angemessen heizen. 

Die portugiesische Tageszeitung Público Azul hat mit der Wissenschaftlerin Ana Monteiro über das Problem gesprochen: „Es ist schwierig zu erklären, dass man in Portugal bei 5 Grad Celsius an Kälte stirbt, weil in der wissenschaftlichen Literatur die kältebedingte Sterblichkeit bei minus 20 bis 30 Grad Celsius liegt. Wir haben jedoch bereits einen Anstieg der Sterblichkeit und Morbidität im Großraum Porto bei Temperaturen über Null nachgewiesen.“ Monteiro ist Mitautorin einer wissenschaftlichen Studie, die kürzlich in der Zeitschrift Nature Medicine veröffentlicht wurde. Darin wird davon ausgegangen, dass die Winter in Europa aufgrund der Klimakrise zwar milder werden, die durch Kälte bedingten Todesfälle in Portugal aber in den bis zum Ende des Jahrhunderts prognostizierten Klimaszenarien weiterhin präsent sein werden. 

Rund 47 Millionen Menschen in der EU, der Schweiz und Norwegen konnten im vergangenen Winter ihre Wohnungen nicht ausreichend heizen. Das entspricht 10,2 Prozent der Bevölkerung – ein Anstieg von mehr als 50 Prozent gegenüber 2021. Besonders betroffen sind die Menschen nicht in Nordeuropa, sondern in südlichen Regionen: Spanien, Griechenland, Portugal, Bulgarien und Italien. Auch Litauen sticht hervor.

In der spanischen Region Katalonien hat eine wachsende Zahl von Menschen mit Energiearmut zu kämpfen, einer Situation, die ihnen den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Strom, Heizung und fließendem Wasser verwehrt, wie die katalanische Zeitung diari ara berichtet. Ungefähr 1,57 Millionen Menschen können es sich dort nicht leisten, ausreichend zu heizen; das sind mehr als 20 Prozent der lokalen Bevölkerung. Es beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sondern führt auch zu zusätzlichen Kosten und schränkt die Grundrechte ein. Dieser Kontrast zwischen den beiden Realitäten in ein und derselben Stadt – und sogar in ein und demselben Gebäude – ist laut diari ara frappierend. Eine betroffene Frau berichtet: „Während ein großer Teil der Bevölkerung zu Hause gemütlich Weihnachten feiert, mit Heizung und heißen Duschen, leidet ein anderer, bedeutender Teil der Bevölkerung im Stillen unter den Folgen der Energiearmut“. Die Frau hat weder Strom noch fließendes Wasser in ihrer Wohnung.

Der Mangel an solch grundlegender Versorgung habe unmittelbare Folgen für die Körperpflege. Die Betroffenen müssten Strategien entwickeln, manche gingen zu Freunden oder Verwandten, um warm zu duschen. 

Einige Organisationen versuchen, die Auswirkungen der Energiearmut zu lindern. Mehrere Menschen, die mit diari ara sprachen, berichteten, dass sie vom Roten Kreuz Sets erhalten haben, die praktische Dinge wie LED-Glühbirnen und Isolierband für die Fenster enthielten. Das sei zwar keine dauerhafte Lösung, doch die Sets lieferten eine überlebenswichtige Soforthilfe.

Auch Nordfrankreich gehört zu den stark betroffenen Regionen Europas, berichtet die Investigativredaktion mediacités. In den Departements Nord und Pas-de-Calais waren 15,1 Prozent der Bevölkerung betroffen, was dazu führte, dass 615.000 Menschen ihre Wohnungen nicht angemessen heizen konnten.

Matteo, ein Student in Lille, lebt seit September in einer Wohngemeinschaft, die Wohnung hat die Energieeffizienzklasse E. Er und sein Mitbewohner haben bis November gewartet, um die Heizung einzuschalten, berichteten sie mediacités. „In der Wohnung waren 12 Grad. Wir haben die Heizung angedreht, aber dann festgestellt, dass die Rechnungen ins Unermessliche stiegen.” Die für Januar betrug laut Matteo 340 Euro nur für den Strom.

Matteo heize seine Wohnung nur vier Stunden am Tag auf 16 oder 17 Grad. In der übrigen Zeit drehe er die drei Heizkörper auf 13 Grad herunter, „damit die Wohnung nicht auf 10 Grad abkühlt, wie schon mal, als wir gar nicht geheizt haben.“ Um die Kälte zu bekämpfen, haben Matteo und sein Freund einiges versucht, erzählt er: “dicke Kleidung tragen, die Fenster zuhängen und den Ofen nach jedem Kochen anlassen.“ Es sei schwierig, morgens aus dem Bett zu kommen und zu duschen, sagte er mediacités. „Richtig schwierig ist es, nach Hause zu kommen in der Hoffnung, sich aufwärmen zu können, aber dann sind es unter 15 Grad in der Wohnung. Man findet nie Ruhe.“ 

Pascaline hat 2022 ein Haus in der Nähe von Lille gekauft. Sie lebt allein mit ihren beiden Teenagern und berichtet der Tageszeitung La Voix Du Nord, dass sie mit ihrem Gehalt im öffentlichen Dienst von weniger als 2.000 Euro im Monat nicht ausreichend heizen kann: “Die Hälfte der Zimmer, in denen wir wohnen, heize ich auf 16,5 Grad. Anderswo sinkt die Temperatur morgens auf 12,5 Grad, zum Beispiel im Badezimmer. Das ist nicht angenehm.“ Zu ihrer Strategie würden dicke Pullover, Kerzen, Luftpolsterfolie an den Fenstern und dicke Vorhänge gehören. Sie kämpften um jedes Grad. „Eigentlich müssten wir das Haus besser isolieren, aber dazu fehlt mir das Geld.“.

All diese Berichte machen deutlich, dass hohe Energiekosten, geringe Einkommen und schlecht isolierte Wohngebäude die Hauptgründe für die so genannte Energiearmut in Europa sind – was Fachleute bestätigen. Alle drei Faktoren müssen dringend wirksamer bekämpft werden, damit im nächsten Winter weniger Menschen frieren.