Ersticken statt Ertrinken
Eine Woche lang begleitet unser Reporter auf Malta die Arbeit der Rettungsorganisation Sea-Watch. Lagebesprechung an Bord der Iuventa: Warum schicken die libyschen Schlepper die Flüchtlinge immer häufiger in alten Holzkähnen aufs Meer? Sind ihnen die Schlauchboote ausgegangen – oder sind die verbrannt?
Die Luft in der Schiffsmesse der Iuventa ist stickig, dem umgebauten Kutter der Berliner Hilfsorganisation Jugend Rettet. Er liegt einige Meter entfernt von der Sea-Watch 2 im Hafen von Malta. Draußen nieselt es. Seit einer Woche – seitdem Bewaffnete ein Einsatzschiff von Ärzte ohne Grenzen enterten und durchsuchten – liegen die Helfer hier fest. Und nutzen die Zeit, um die Lage zu analysieren. An diesem Tag steht vor allem eine Frage im Raum: Warum verwenden die libyschen Schlepper zuletzt immer mehr Holzboote? Und immer weniger Schlauchboote?
„Ich bin nicht in der Position euch zu sagen, was richtig oder falsch ist“, sagt Ingo Werth, Einsatzleiter der Sea-Watch 2. Werth ist 57 Jahre alt, sein Blick wandert über die fünf jungen Menschen an der anderen Seite des Tisches. „Aber wir sollten die Chance nutzen, zusammenzuarbeiten, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Rettungseinsätze zu planen.“
„Veränderung ist möglich“
Sea-Watch ist die „älteste“ der kleinen Rettungsorganisationen im zentralen Mittelmeer. Seit April 2015 sind die Helfer unterwegs, um Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten. Jugend Rettet wurde von acht jungen Berlinern ins Leben gerufen, als im April vergangenen Jahres 800 Flüchtlinge vor Lampedusa ertranken. Im Mai kauften sie ihr Schiff, die Iuventa, seit Juli ist es auf Einsatzfahrt im Mittelmeer.
„Das Gefühl kennt, glaub ich, jeder junge Mensch. Dass man das, was in der Welt so offensichtlich falsch läuft, einfach nicht mehr hinnehmen kann“, sagt Matthias Schnippe. Der 25-jährige Politikstudent gehört zum Kernteam von Jugend Rettet. „Ich hab mir gesagt: Ich bin jung. Ich hab die Zeit. Und Veränderung ist möglich. Also ziehen wir es durch.“
Auf dem Tisch der Schiffsmesse steht ein Laptop, der das wackelige Video einer Brustkamera zeigt. Blechern klingen Schreie aus den kleinen Boxen. Am 18. August treffen Jugend Rettet und Sea-Watch bei einem Schlauchboot 24 Meilen nördlich von Sabrata ein. Etwa 140 Menschen sitzen an Bord zusammengepfercht, hocken auf den Rändern, rufen, flehen. Als alle Schwimmwesten verteilt sind, sinkt plötzlich das Boot. Panik kommt auf, doch das Team von Jugend Rettet bewahrt die Ruhe. Zusammen mit der Sea-Watch-Crew kann jeder Flüchtling aufgenommen werden.
Unter Deck: 15 Erstickte
Einen Monat zuvor hatten sie weniger Glück. Am 21. Juli stieß die Sea-Watch-Crew auf ein großes Holzboot, das maßlos überladen war mit Menschen. Auch unter Deck waren Dutzende Flüchtlinge eingepfercht. 15 von ihnen konnten nur tot geborgen werden: Sie waren vergiftet worden von den Abgasen der Maschine.
„Bei einem Holzboot kann man nie sicher sein, wie viele Menschen unter Deck stecken und gerade ersticken“, sagt Ruben Neugebauer von Sea-Watch. „Einerseits zählt also jede Sekunde. Andererseits müssen wir Ruhe bewahren, um eine Panik zu vermeiden. Kentert ein Holzboot, ist das der sichere Tod für die Menschen in den Zwischendecks.“
Schwarzer Rauch
Warum aber bleiben die Schlauchboote aus? Nicht nur, dass sie sicherer sind – sie sind auch viel günstiger. Eine Theorie kommt von der Bundeswehr. Die weiß von einem Brand in einer Lagerhalle in der libyschen Küstenstadt Zuwara am 20. Juli. „Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um eine Halle gehandelt haben könnte, in der Schlauchboote für das Geschäft der Schleuser aufbereitet werden“, sagt ein Bundeswehr-Sprecher. Lange habe der schwarze, für Kunststoff typische Rauch am Himmel über der Halle gestanden.
Gut möglich aber auch, dass den Schleppern schlicht der Nachschub an Schlauchboote ausgegangen ist. Wikileaks hat ein Dokument der EU-Mission Sophia veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die Schlauchboote von China aus über Malta nach Libyen transportiert werden. Schlauchboote sind zivile Güter und dürfen beliebig importiert und exportiert werden. Zollbeamte können die Container weder stoppen noch die Ware beschlagnahmen.
Welch bittere Ironie: Ausgerechnet jene Insel, auf der die Seenotretter ihren Stützpunkt haben, dient auch als Umschlagplatz für die Schlauchboote der Schlepper.
Nach zweieinhalb Stunden endet die Besprechung auf der Iuventa. Die beiden Teams gehen auseinander. In einem sind sie sich einig: Die Schlauchboote sind für sie das kleinere Übel. Fallen sie weg, wird alles noch gefährlicher.
Unser Reporter Bastian Schlange ist diese Woche auf Malta und begleitet die Seenotretter bei Ihrer Arbeit. Weitere Texte, Videos und Fotos findet Ihr in diesen Tagen auf correctiv.org, auf unserer Facebook-Seite und bei Twitter.