Debatte

Verlogene Wählerfischer der AfD

Die AfD versucht in NRW Wähler zu ködern. Dabei kann sie sicher in Teilen der Arbeiterschaft des Ruhrgebietes Stimmungen bedienen. Dies sieht man nicht zuletzt am Übertritt des Essener IGBCE-Mitgliedes Guido Reil von der SPD zur AfD, findet der Sozialpfarrer und WASG-Mitgründer Jürgen Klute.

von Jürgen Klute

© Vielfalt statt Einfalt von Rasande Tyskar unter Lizenz CC BY-NC 2.0

Es gibt sie, die Stimmungen in Teilen der Arbeiterschaft des Ruhrgebietes, die von der AfD bedient und ausgenutzt werden können. Und einiges an diesen Stimmungen,  wie sie auch bei CORRECTIV.Ruhr beschrieben wurden, ist nachvollziehbar. Aber nicht alles.

Nachvollziehbar ist für mich, wenn Bürger und Bürgerinnen kritisieren, dass sie im Rahmen der Flüchtlingskrise zu wenig informiert und einbezogen wurden von Politik und Verwaltung. Nicht nachvollziehen kann ich, wenn der Bottroper Stadtkämmerer Willi Loeven behauptet – so nachzulesen im Artikel von David Schraven – die Stadt sei unvorbereitet auf die Flüchtlingskrise gewesen. Das fällt schwer zu glauben. Aber würde man es glauben, so könnte man nur den Schluss ziehen, die städtische Verwaltung von Bottrop und mit ihr die politischen Entscheidungsgremien hätten kläglichst versagt.

Es gab Alternativen in der Flüchtlingspolitik

Dass es anders hätte laufen können, dafür gibt es Belege. Einer davon ist in der Stadt Cottbus zu finden – übrigens auch eine Stadt, die mit einem erheblichen Schuldenberg zu kämpfen hat. Der dortige Bürgermeister Holger Kelch (CDU) hat nach eigener Auskunft bereits im Herbst 2014 der überregionalen Presse entnommen, dass die Zahl der Flüchtlinge in absehbarer Zeit merklich steigen dürfte.

Anfang 2015 hat er daraus Konsequenzen gezogen und eine Taskforce in der Cottbuser Verwaltung eingerichtet. Ihr Auftrag: Vorkehrungen zu treffen für die sich abzeichnende vermehrte Ankunft von Flüchtlingen. Er hat dafür gesorgt, dass bei Bedarf auch zusätzliches Personal eingestellt werden kann. Zielvorgabe war, dass die Verwaltung ihre Kapazitäten soweit ausweitet, dass durch die Bearbeitung der nötigen Papiere ankommender Flüchtlinge die reguläre Verwaltungsarbeit nicht beeinträchtig wird und Bürgerinnen und Bürger nicht länger als gewohnt auf die Bearbeitung ihrer Anliegen warten müssen.

Mit der Uniklinik wurde ähnliches vereinbart im Blick auf die nötigen gesundheitlichen Untersuchungen der zu erwartenden Flüchtlinge. Für sie sollte ein Sonderbereich eingerichtet werden, damit die normale ärztliche Versorgung keine Beeinträchtigungen erfährt.

Schließlich hat die Stadt Cottbus bereits im Vorfeld der Ankunft der Flüchtlinge etwa 300 Wohnungen zur schnellen dezentralen Unterbringung der Flüchtlinge reserviert.

AfD wächst in Cottbus nicht

Zwei Ziele sollten damit erreicht werden: Zum einen sollten Schulen und Vereine nicht für längere Zeit auf die gewohnte Nutzung von Sporthallen verzichten müssen, da das schnell Ärger mit sich bringt. Zum andern ziehen Massenunterkünfte schnell Protest und Angriffe von rechts auf sich. Das sollte verhindert werden.

Außerdem gab es im Vorfeld auch Gespräche mit Vertreten der örtlichen Wirtschaft, um die Flüchtlinge möglichst gut zu integrieren.

Die Strategie ist bis heute erfolgreich. Es kamen zwar weniger Flüchtlinge als erwartet. Die aber, die gekommen sind, konnten ohne große Probleme integriert werden. Der Cottbuser Oberbürgermeister Kelch weißt darauf hin, dass trotz der vorausschauenden Politik keine Überkapazitäten aufgebaut wurden. Trotz mehrerer Versuche ist es der AfD bisher nicht gelungen, Cottbus aufzumischen. Der Cottbuser Oberbürgermeister Kelch hat das gemacht, was ein Oberbürgermeister machen sollte: Er hat ein Problem frühzeitig erkannt und auf dieses Problem politische und pragmatische Antworten geben. Das ist ihm erfolgreich gelungen. In der Mediathek des RBB ist das ganz gut dokumentiert.

Aber auch innerhalb der SPD gibt es positive Beispiele. Der langjährige SPD-Bürgermeister der Verbandsgemeinde Rhein-Selz in Rheinland-Pfalz hat – in einem weitaus kleineren Maßstab als in Cottbus – ebenfalls seine Verbandsgemeinde frühzeitig auf die Flüchtlinge vorbereitet und etwa Wohnungen reserviert.

Im Ruhrgebiet ist es natürlich schwieriger, aufgrund vieler Privatisierungen Wohnraum zu finden. Aber gerade deshalb wäre eine vorausschauende Politik nötig gewesen.

SPD hätte gewarnt sein müssen

Nun haben die Sozialdemokraten noch einen großen Vorteil gegenüber anderen Parteien: Seit Anfang 2012 stellen sie mit Martin Schulz den Präsidenten des Europäischen Parlaments. Dort wurde schon früh die zunehmende Zahl der Flüchtlinge registriert und beraten. Am 23. Oktober 2013 hat das Europäische Parlament eine Resolution verabschiedet, in der das Parlament den drei Tage später tagenden EU-Rat aufforderte, die EU-Flüchtlingspolitik angesichts der wachsenden Zahlen neu und humaner zu regeln. Martin Schulz war in diesem Thema engagiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er im Vorstand der SPD nicht über dieses Thema gesprochen hat. Schulz gehört auch diesem Gremium an. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass die NRW-SPD von ihrem prominentesten Mitglied nicht über die Entwicklung der Flüchtlingszahlen informiert wurde.

Bei frühzeitigem vorausschauendem Handeln hätte die SPD in NRW und in den Ruhrgebietsstädten Verwaltungen und Bürger und Bürgerinnen gut vorbereiten, örtliche Hilfsorganisationen einbinden und den Aufstieg der AfD damit bremsen können.

Im übrigen hätte man vom Bottroper Kämmerer Loeven auch eine andere Antwort auf die Frage der Kosten der Flüchtlinge erwarten können. Er hat vor Bergleuten gesprochen. Es ist schon irritierend, dass Bergleute und Mitglieder der IGBCE die Finanzierung der Flüchtlinge kritisieren. Schließlich wurde der Steinkohlenbergbau über Jahrzehnte zunächst aus dem Kohlepfennig, der auf der Stromrechnung erschien, und dann aus Steuergeldern subventioniert. Im Interesse einer sozialverträglichen Abwicklung des Bergbaus waren diese Subventionen, die noch bis 2018 weiterlaufen, gerechtfertigt. Denn auf diese Weise wurde verhindert, dass es zu einem abrupten Ende des Bergbau mit heftigen sozialen Verwerfungen kommt.

Eingeschränkte Solidarität

Die Subventionen für den Bergbau betrugen auf einen Bergmann umgerechnet früher im Jahr durchschnittlich etwa ein ganzes Jahresgehalt eines Bergarbeiters. Wer über Jahrzehnte durch diese umfassende Art der Solidarität seinen Arbeitsplatz finanziert bekam und somit vor Arbeitslosigkeit und Altersarmut bis heute verschont blieb, der sollte jetzt nicht die Solidarität mit den Flüchtlingen, die ebenfalls Geld kostet, angreifen und in Frage stellen. Der Bottroper Kämmerer hätte gut daran getan, auf diesen Punkt hinzuweisen und von seinen Zuhörern die Solidarität einzufordern, die sie selbst erfahren haben.

Eine letzte Anmerkung noch zu Guido Reil, der von der SPD zur AfD gewechselt ist. Er wird in einem Artikel von Marcus Bensmann als Steiger vorgestellt. Steiger gehören nicht zu den unteren Einkommensgruppen in Deutschland. Sie verdienen gut. Lebt ein Steiger dazu noch im Essener Norden, dann gesellt sich zu dem guten Einkommen eines Steigers unter Tage auch noch eine relativ günstige Wohnung. Sicherlich gibt es viele verarmte Menschen im Essener Norden. Das steht außer Zweifel. Für einen Steiger finde ich es aber schon etwas gewagt, sich unter die Armen des Essener Norden zu rechnen, auch wenn er dort wohnt.

Die Aufnahme ist gerechtfertigt

Ich verstehe vieles und finde vieles an der Flüchtlingspolitik, so wie sie konkret gelaufen ist und noch läuft, kritikwürdig – nicht allerdings die Aufnahme der Flüchtlinge als solche. Diese war aus humanitären Gründen nötig. Gewerkschafter und Sozialdemokraten sollten sich erinnern können, dass es in der Geschichte dieses Landes mehrfach Zeiten gab, da sie selbst vor Verfolgung flüchten mussten und auf Asyl angewiesen waren. Eine Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen trägt grundsätzlich und auch praktisch eine offene und humane Flüchtlingspolitik mit, wie es sich an dem großen ehrenamtlichen Engagement zeigt. Wenn der Bürgerkrieg in Syrien eines hoffentlich nicht allzu fernen Tage beendet ist, dann werden die heutigen Flüchtlinge Brücken für kulturelle, politische und wirtschaftliche Beziehung nach Syrien bauen. Denn das Land dort muss ja irgendwann neu aufgebaut werden.

Was ich aber nicht verstehe ist, dass sich Teile der Bergleute und Steiger wie  Guido Reil sich unter die Armen und Benachteiligten rechnen. Das ist schon starker Tobak. Das sollten die gewählten Verantwortlichen in Politik und Gewerkschaft so nicht stehen lassen.


Der Theologe Jürgen Klute aus Herne war bis 2009 Referent an der evangelischen Stadtakademie Bochum. Er gehörte zu den Gründern der WASG und zog später für DIe Linke in das Europaparlament ein. Dort war er von 2009 bis 2014 im Wirtschafts- und Währungsausschuss. Er verzichtete aus Protest gegen den europapolitischen Kurs der Linken auf eine erneute Kandidatur.