NRW bremst junge Flüchtlinge aus
Wer als Flüchtling über 18 Jahre alt ist, hat in NRW ein Problem. Weil die Schulpflicht beendet ist, ist auch der Weg zu einem Berufskolleg verbaut. Kammern und DGB fordern seit langem eine Ausweitung der Schulpflicht für junge Flüchtlinge. Doch das Schulministerium bremst. Mit allen Mitteln. Doch wie lange noch?
Hatte der Wirtschaftsminister zu viel versprochen? Am Mittwochabend hielt Garrelt Duin (SPD) in Essen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Rede zu Wirtschaft und Flüchtlingen. Deren Ausgangslage sei denkbar schlecht, sagte Duin. Viele könnten kaum Deutsch, hangelten sich von Duldung zu Duldung mit schlechten Chancen auf Ausbildung und Jobs. 47.000 Flüchtlinge seien arbeitslos gemeldet; rund sieben Prozent aller Arbeitslosen in NRW.
„Die Flüchtlinge kommen in der Statistik an, aber nicht auf dem Arbeitsmarkt!“, sagte Duin. Damit sie wirklich ankommen können – einen Zugang zu Berufskollegs bekommen, einen Abschluss schaffen – sei die Ausweitung der Schulpflicht für Flüchtlinge über 18 Jahren wichtig. Und das bringe die Landesregierung jetzt auf den Weg, sagte Duin, bevor er zu einem Folgetermin aufbrach.
Die Fachleute im Saal staunten. Ausweitung der Schulpflicht, sollte sie – entgegen aller Blockaden – jetzt doch kommen?
Integrationsplan ohne Komma
Das NRW-Schulministerium will das nicht bestätigen. Im Gegenteil: „Bezogen auf Bildungsangebote für ältere Geflüchtete“ schickt das Haus den vom Landtag beschlossenen Integrationsplan. Von einer Ausweitung der Schulpflicht für die Neuankömmlinge steht in dem Integrationsplan nichts. Stattdessen liest sich nur unverbindlich: „Die Aus- und Weiterbildung der jungen Erwachsenen über 18 Jahre liegt uns am Herzen.“ Verwiesen wird auf die Volkshochschulen. Dort werde die Möglichkeit geboten, „ungeachtet des Alters und der daran gebundenen formalen Schulpflicht, bis zum 18. Lebensjahr Schulabschlüsse zu erwerben“. Diesen Satz, der so vom Landtag verabschiedet wurde, muss man zwei Mal lesen, um ihn wirklich verstehen zu können.
Es kommt nämlich auf ein Komma an. In der jetzigen Version heißt es: „ungeachtet des Alters“ können Flüchtlinge bis 18 Jahre Schulabschlüsse erwerben. Das ist natürlich Unsinn. Ergänzt man den widersprüchlichen Schwurbelsatz hinter dem „18. Lebensjahr“ um das Satzzeichen, wird aus der Altersangabe eine Zusatzinformation zur Schulpflicht und würde im Gesamten wieder Sinn machen. Wie soll das ein Flüchtling verstehen, wenn daran bereits der Landtag scheitert? Offenbar ist nicht nur die Interpunktion unvollständig sondern auch der Wille, Regelschulen für volljährige Flüchtlinge zu öffnen.
Angst vor einem Präzedenzfall
Die Verlängerung der Schulpflicht für Flüchtlinge ist seit Monaten ein Streitthema zwischen Kammern, Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und dem NRW-Schulministerium. Michael Hermund vom DGB in Düsseldorf hält die Ausweitung für vordringlich: „Wir sprechen von 10.000 jungen Menschen in der Altersgruppe 18, 19, 20 Jahre“. Das Schulministerium habe das bislang verhindert, seit einem Jahr werde dort „geprüft“. Es sollte aber das Recht, „nicht die Pflicht geben“ auf den Schulbesuch, so Hermund. Die Berufskollegs würden sich anbieten, bisher gebe es diese Möglichkeit aber nur für einzelne Geflüchtete nach Zustimmung des Schulleiters.
Das Schulministerium will an dieser Einzelfallregelung nicht rütteln. Befürchtet werden die Belastungen für die Kollegschulen durch tausende neue Berufsschüler und ein Präzedenzfall: Wenn jungen Flüchtlingen über 18 Jahre die Schulen offen stünden, was ist mit anderen Gruppen?
Internes Protokoll belegt Blockade
Dabei ist die Frage des Kollegzugangs für Flüchtlinge eigentlich gelöst, wie ein internes Protokoll der Landesregierung zeigt. Am 4. November 2016 diskutierte der AK Flüchtlinge und Integration der NRW-Staatskanzlei, ressortübergreifend.
In dem CORRECTIV.Ruhr in Auszügen bekannten Protokoll findet sich die Position des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) „zu den Möglichkeiten zum Erwerb von Schulabschlüssen von über 18jährigen Flüchtlingen (…) Demnach genüge für die Aufnahme in ein Weiterbildungskolleg zum Nachweis einer Berufstätigkeit künftig die Glaubhaftmachung. Damit sei die Aufnahme in die Kollegs künftig deutlich einfacher.“ Doch die Sache hat einen Haken. Das NRW-Schulministerium. Dort wird weiter gebremst. Oder wie es in dem internen Protokoll heißt: „Die Entscheidung der Hausspitze des Ministeriums für Bildung stehe noch aus.“
Nun – zwei Wochen später – hat sich das Schulministerium offenbar entschieden. Für ein: weiter so! Der Vorschlag aus dem Bundesministerium wird zwar aufgegriffen: Volljährige Flüchtlinge können also auch in NRW die so genannte „Glaubhaftmachung“ anwenden; letztlich nichts anderes als ein Gespräch, in dem sie sich als berufstätig erklären, um auf ein Kolleg gehen zu dürfen. Doch von einer Verlängerung der Schulpflicht für Geflohene, also einem Rechtsanspruch auf Schule, wie es Kammern, Gewerkschaften und der NRW-Wirtschaftsminister propagieren, ist im Schulministerium keine Rede. Das Ministerium von Sylvia Löhrmann (Grüne) setzt weiter auf Aufnahmegespräche an den Schulen: „Ziel ist in jedem Fall, dass die Entscheidung zur Aufnahme bzw. Ablehnung durch eine kurze nachvollziehbare Begründung schriftlich dokumentiert wird.“
Konsenspartner ohne Konsens
Wirtschaftsminister Garrelt Duin hat am Mittwoch also doch zu viel versprochen. Das Schulministerium will die Schulpflicht nicht antasten.
Oder doch nicht?
Am 7.12.2016 wird es in NRW zum groß angelegten Spitzengespräch des „Ausbildungskonsens“ kommen. Gerade liegt den vielen Konsenspartnern aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Ministerien, aus Kreisen und Kommunen eine Beschlussvorlage des Schulministeriums vor: „Junge Geflüchtete in Ausbildung und Beschäftigung integrieren“. Auch wenn der Begriff „Schulpflicht“ vermieden wird, ist hier etwas mehr Verbindlichkeit vorhanden. Zugewanderte über 18 Jahren sollen ihre fluchtbedingt unterbrochenen Bildungsbiographien fortsetzen dürfen: „Hierzu erforderliche (…) Schulabschlüsse können daher zukünftig über Vorkurse und Bildungsgänge an Weiterbildungskollegs erworben werden, wenn von beruflichen Vorerfahrungen der jungen Menschen ausgegangen werden kann.“
Die Konsenspartner hatten bis zum heutigen Freitag Zeit, dem Papier zuzustimmen. Einige haben noch um Aufschub bis nächste Woche gebeten. Vielleicht bewegt sich in den Tagen ja noch mehr – für ein Recht auf Schule, für alle.