Voller Laden, leere Wohnungen
In Nordrhein-Westfalen fehlen laut Deutschem Mieterbund eine Viertelmillion Wohnungen. Um den begehrten Wohnraum für Bürger zu schützen, haben einige Städte sogar spezielle Satzungen erlassen. Trotzdem stehen in vielen Innenstädten Wohnungen über Geschäften und großen Filialunternehmen leer. Unter Schwarz-Gelb wird sich das nicht bessern.
Ob in Bonn, Münster, Bochum oder Dortmund – in vielen Innenstädten NRWs dasselbe Bild: Im Erdgeschoss buhlen Händler in ihren Ladenlokale eifrig um Käufer. In den Geschossen darüber stehen die Wohnungen leer. Und das obwohl erschwinglicher Wohnraum in vielen Großstädten Nordrhein-Westfalens rar gesät und sehr begehrt ist. Sogenannte Zweckentfremdungssatzungen sollen, teils sogar mit Bußgeldern, Innenstadt-Wohnungen für Bürger frei halten.
Auf der Seite des Bauministeriums NRW (MBWSV) heißt es konkret: „Seit Januar 2012 können die Kommunen durch Satzung Gebiete mit erhöhtem Wohnungsbedarf festlegen, in denen Wohnraum nur mit Genehmigung anderen als Wohnzwecken zugeführt werden oder leer stehen darf.“ Bisher haben Bonn, Dortmund, Köln und Münster derartige Satzungen zum Schutz und Erhalt von Wohnraum erlassen. Zu nützen scheint es jedoch nicht. Viele Vermieter wollen ihre leerstehenden Wohnungen nicht anbieten; in den Städten fehlt häufig der Wille, ihre Satzungen umzusetzen. Doch weshalb? CORRECTIV.Ruhr war vor Ort.
Leerstände eindämmen
In Bonn tritt das Leerstands-Phänomen besonders in der Sternstraße auf. Die liegt in bester Lage in der Fußgängerzone, nicht weit vom Markt entfernt. Die Bonner wollten den ungenutzten Wohnraum, der sich hinter vielen Fenstern in den oberen Etagen zeigt, nicht hinnehmen und erließen 2013 eine Zweckentfremdungssatzung für ihre Stadt, kurz ZES. Diese soll gewährleisten, dass freie Wohnungen für Bürger bereitstehen und ihnen längerfristig vermietet werden. Zweckentfremdungen – mit einer Dauer von mehr als drei Monaten – müssen genehmigt werden. Bei Verstoß droht den Eigentümern eine Geldbuße von bis zu 50.000 Euro. Dazu kommt eine Art Zwangsabgabe in Höhe von 375 Euro je Quadratmeter. Eigentlich eine lukrative Einnahmequelle für die Stadtkasse.
„Wir wollen den spekulativen Leerstand von Wohnraum eindämmen“, sagt die Bonner Pressesprecherin Monika Hörig und ergänzt fast entschuldigend: „Wenn auch nicht alle dem Wohnungsmarkt zurückgeführten, vormals zweckentfremdeten Wohnungen beziffert werden können, so wurde auf jeden Fall das subjektive Empfinden vieler Bürger verbessert.“ Diesen Satz sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man sich die leeren Fenster in der Bonner Innenstadt anschaut. Seit nun mehr vier Jahren gilt die Order. Doch die Stadt scheint die Sache mit der Satzung gemächlich anzugehen.
Bußgelder? Keine.
„Bis dato wurden keine Bußgelder verhängt“, heißt es auf Nachfrage von der Stadt Bonn. Denn in „den relevanten Fällen konnte die Sicherung entsprechender Beweise noch nicht abgeschlossen werden.“ Eine interessante Begründung nach vier Jahren. Und was für Beweise? Genügt doch der Gang über die Sternstraße – und ein Blick in die dortigen Obergeschosse. Man sieht statt Gardinen und Blumentöpfe in erster Linie Schaufensterpuppen oder gestapelte Kartons hinter den Glasscheiben.
„Die Entwicklung, diese Wohnungen nur als Lager zu nutzen, stellen wir seit längerer Zeit fest“, sagte der parlamentarische Staatssekretär und Bonner Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber (SPD) bereits vor vier Jahren. Sein Parteikollege Bernhard von Grünberg, der damals auch in der Enquete-Kommission zum Wohnungswirtschaftlichen Wandel saß, in der die Idee zu den Zweckentfremdungssatzungen entstand, ergänzt nun: „Es ist ein Skandal, dass Wohnraum – wegen der Geschäftsinteressen der Vermieter – leer steht. Bisher gibt es bei der Stadtverwaltung wenig Bewusstsein, daran etwas zu ändern.“
Anfangs habe die Verwaltung überhaupt nicht reagiert, erklärt von Grünberg. Erst als im Bonner Stadtbezirk Bad Godesberg immer wieder Wohnungen für kurze Zeit zu horrenden Mietpreisen an Gastpatienten und Medizintouristen weitervermietet wurden, stieg der öffentliche Druck, und die Verwaltung richtete Anfang dieses Jahres eine Sondergruppe zur Umsetzung der Zweckentfremdungssatzung beim Wohnungsamt ein, die sich allerdings „mit der Erhebung, aber auch mit der Bestrafung schwer tut“, sagt der SPD-Politiker. Einmalig wurden in den vergangenen sechs Monaten bei Verdacht Wohnungsbegehungen gemacht — und Bauakten überprüft.
Die Passanten, die man auf der Sternstraße zu dem Thema anspricht, reagieren überrascht. „Das erstaunt mich“, sagt Marion Pohl mit Blick auf die unbewohnten Fenster. Die Berlinerin ist zu Besuch in Bonn. „Weshalb lässt man das nur so verkommen?“
Vermieter sparen durch Leerstände
Weshalb wird der freie Wohnraum nicht genutzt? Schließlich sollten vermietete Wohnungen auch mehr Einnahmen versprechen. Als erste Antwort wird gerne darauf hingewiesen, dass in vielen Fällen die Treppenaufgänge in die höheren Etagen nicht mehr existieren. Wegen der hohen Quadratmeter-Mieten für den Einzelhandel war es für die Eigentümer nicht notwendig, auch noch die übrigen Wohnungen zu vermieten. Sie entfernten die nötigen Flure und Treppen zu den höheren Etagen und argumentieren nun damit, dass Mieter nach Geschäftsschluss durch die Räume der Filiale im Untergeschoss laufen müssten, um zu ihrer Wohnung zu gelangen. Warum nicht die Treppenaufgänge wieder herstellen? Auf Anfrage von CORRECTIV.Ruhr wollte sich dazu kein Vermieter offiziell äußern.
Einer, der anonym bleiben will, erklärt, dass man für die im Verhältnis zu den hohen Einzelhandelsmieten geringen Renditen bei Wohnraum keine Wohnungsverwaltung betreiben wolle. „Die Anbieterseite verdient das Geld mit dem Erdgeschoss. Oft gehören die Häuser großen Immobilienanbietern. Dann heißt es bei einem Problem für den Mieter: Rufen Sie bitte auf den Cayman Islands an!“
Was kann eine Lösung sein?
Natürlich können Bürger den Leerstand anzeigen. Bisher hat sich die Bonner Koalition jedoch geweigert, das Problem Sternstraße wirklich anzugehen. Wenn Parteien nicht mitziehen, passiert wenig. Immerhin möchte man nun doch reagieren und will bei einer Ratssitzung am sechsten Juli sieben zusätzliche Stellen zur Umsetzung der Satzung beschließen.
In Köln ging man das Leerstands-Problem konsequenter an. Dort gilt die Wohnraumschutzsatzung seit Juli 2014, sie ist also ein Jahr jünger als in Bonn. Jedoch: Im Bereich der Kölner Innenstadt wurden bisher 174 Wohnungen erfasst und 63 Verfahren eingeleitet, teilt ein Sprecher der Stadt mit. Die Eigentümer bekamen entsprechende Bußgeldbescheide, die sich zusammengenommen auf 213.000 Euro belaufen. Mit dem richtigen politischen Willen ist also eine Bekämpfung der Leerstände möglich.
Auch radikalere Ansätze wären denkbar: In Hamburg entzog zum Beispiel im vergangenen Jahr die Stadt dem Besitzer eines Wohnhauses zeitweilig die Verfügungsgewalt über seine Immobilie, weil er sie über Jahre leer stehen ließ. CORRECTIV berichtete. Eine Lösung für NRW? SPD-Mann von Grünberg verneint. Die Rechtsgrundlage für eine Enteignung bestehe nach seiner Ansicht nicht. Denn Eigentum werde im deutschen Grundgesetz besonders geschützt.
Wohnen in NRW: Das besetzte Haus der alten Dame (CORRECTIV.Ruhr)
Schwarz-Gelb kippt Mieterschutz
Doch unkontrollierte Leerstände sind nicht das einzige Problem, mit dem Mieter zu kämpfen haben: Das Wohnen an sich wird immer teurer. Allein in den vergangenen fünf Jahren sind die Mieten deutschlandweit um etwa 15 Prozent gestiegen. Und auch in NRW haben die Preise für Wohnraum kräftig zugelegt. Die teuerste Miete im Land zahlen laut den Daten des Bonner Forschungsinstituts Empirica zurzeit die Kölner: über zehn Euro pro Quadratmeter. Nur geringfügig günstiger sind Düsseldorf und Bonn. Deswegen hat das Land vor zwei Jahren die Mietpreisbremse für 22 Kommunen in NRW eingeführt. Sie soll sichern, dass bei Neuvermietung maximal ein Aufschlag von zehn Prozent pro Quadratmeter auf die ortsübliche Miete gelegt werden darf. Bei beiden Ansätzen – teuren Mieten wie zu viel Leerständen – will nun die schwarz-gelbe Regierung in NRW ansetzen und den Mieterschutz lockern.
Bereits in den Jahren 1995 bis 2006 gab es in Nordrhein-Westfalen landesweite Verordnungen, die dafür sorgen sollten, dass Wohnungen nicht ungenutzt bleiben. Sie gingen sogar weiter als die aktuellen Satzungen. Doch diese „Verbote der Zweckentfremdung von Wohnraum“ schaffte die schwarz-gelbe Landesregierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) nach dem Regierungswechsel wieder ab.
Nun geht das Trauerspiel für die Mieter in NRW weiter: Der druckfrische Koalitionsvertrag der neuen Regierung sieht vor, auch die aktuellen Satzungen wieder zu kippen. „Zweckentfremdungsverbote lehnen wir als unzulässigen Eingriff in das Privateigentum ab“, sagt der Sprecher der NRW-FDP, Moritz Kracht. Und das obwohl FDP und CDU diese Idee im Enquete-Bericht noch mitgetragen hatten. „Wir wollen vielmehr den Neubau und die Instandsetzung von Wohnungen fördern.“ Dazu gehöre es, bürokratische Hürden abzubauen und Investitionen zu fördern. „Denn nur eine Vergrößerung des Angebots trägt zu einer Entspannung auf dem Wohnungsmarkt bei und sorgt für mehr bezahlbaren Wohnraum“, sagt Kracht wenig konkret zum Plan der neuen Regierung. Dafür wird auch die Mietpreisbremse, die die CDU maßgeblich mitgestaltet hat, unter Schwarz-Gelb fallen.
So sind die Mietpreise in NRW gestiegen
Hier geht es zur ausführlichen Recherchen: So sind die Mieten in NRW gestiegen