Der Mann, der Trump verklagt
Ein Gespräch mit Ben Wizner, US-Amerikanischer Anwalt für Bürgerrechte

Es ist ein heißer Freitagmorgen in New York, in Sichtweite der Freiheitsstatue, wo die American Civil Liberties Union (ACLU) seit über einem Jahrhundert gegen staatliche Willkür kämpft. Ben Wizner, Direktor des ACLU-Projekts für Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsschutz und Technologie, sitzt in einem schmucklosen Büro, ein graues T-Shirt mit einer Karte von Washington, D.C. als Bundesstaat – ein Protest für die Rechte der 700.000 Einwohner ohne Kongressvertretung. Zwei Tage zuvor hatte Trump Truppen in die Stadt geschickt.
Die Stimme ruhig, aber mit jenem Unterton, der verrät: Hier spricht jemand, der keine Angst vor dem mächtigsten Staatsapparat der Welt hat. Das bewies er bereits als Anwalt von Edward Snowden: das New York Times Magazine nannte ihn im Zuge dieser Arbeit „eine Person, die nicht ganz unwichtig für geopolitische Entwicklungen“ sei. Seit Monaten – nein, seit Jahren – ist Wizner einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Gegenspieler von Donald Trump. Nicht mit Plakaten, nicht mit Parolen, sondern mit Klagen. 79 an der Zahl, seit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus 2025, hat seine Organisation eingebracht. „Litigation is still an effective tactic“, sagt er trocken, zu klagen sei immer noch eine wirksame Taktik. Doch was bedeutet das in einem Land, das sich selbst stets als unerschütterliche Demokratie feiert, während gleichzeitig Menschen wegen einzelner Aussagen aus den Universitäten abgeholt und deportiert werden?
Wir haben mit Wizner gesprochen, um über Widerstand zu sprechen. Über die Frage, wie man eine Regierung bremst, die Immigranten deportiert, Medien einschüchtert und die Verfassung wie ein Stück Pergament behandelt, das man nach Belieben zerschneiden kann. Das Gespräch begann mit einer einfachen Frage: Wie schlimm steht es wirklich um die USA?
„Dies ist keine Einbahnstraße in den Faschismus“
Jean Peters: Herr Wizner, viele Beobachter sprechen von einer „konstitutionellen Krise“ in den USA. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ben Wizner: Ich glaube nicht, dass wir bereits in einer Krise stecken, aus der es kein Zurück gibt. Aber wir erleben einen Angriff auf Gesetze und Normen in einem Tempo und Ausmaß, wie wir es in der modernen amerikanischen Geschichte nicht kannten. Trump glaubt, unsere Institutionen seien schwach. Doch ich glaube, sie sind stärker, als er denkt. Es gibt mehr Widerstand, als er erwartet hätte. Und es wird einen Backlash geben.
Das klingt fast optimistisch.
Optimistisch? Nein. Realistisch. Schauen Sie: Ich habe 2001 bei der ACLU angefangen, einen Monat vor 9/11. Damals erlebte ich, wie die Bush-Administration auf die Anschläge reagierte – mit Folter, Geheimgefängnissen, gewaltsamen Verschwindenlassen, gezielten Tötungen, auch von US-Bürgern. Die USA waren schon immer fähig zu massiven Menschenrechtsverletzungen, besonders im Ausland. Aber was wir jetzt erleben, fällt nicht vom Himmel, wir dürfen nicht so tun, als sei das komplett neu. Es ist allerdings das erste Mal, dass diese Gewalt so direkt im Inneren spürbar wird. Vor allem für Immigranten.
Warum gerade sie?
Weil früher keine der beiden Parteien massenhafte Deportationen wollte. Die Liberalen blockierten es aus humanitären Gründen, die Konservativen, weil sie billige Arbeitskräfte brauchten. Doch jetzt haben wir eine xenophobe Populismus-Welle, die das ändert. Plötzlich wird der gesamte Staatsapparat gegen eine Gruppe in Stellung gebracht. Und gleichzeitig werden alle Teile der Gesellschaft angegriffen, die Widerstand leisten könnten: unabhängige Anwaltskanzleien, Universitäten, Medien.
Sie sprechen von einer systematischen Schwächung der Gegenkräfte.
Genau. Nehmen Sie die Medien: Trump verklagt CBS, ABC, Meta – nicht, weil er gewinnen will, sondern weil er sie einschüchtern will. Paramount, dem CBS gehört, hat bei einer Klage gegen CBS einen Vergleich mit einer großen Zahlung an Trumps Präsidentenbibliothek angenommen, weil das Unternehmen eine Fusion genehmigt haben wollte. Dazu ist es vom Justizministerium abhängig. Das ist das Muster: Wer könnte Widerstand leisten? Und wie bringen wir ihn zum Schweigen?
Wie ist die Situation der unabhängigen Anwaltskanzleien? Einige hatten zugestimmt, kostenlos für den Präsidenten zu arbeiten, nachdem eine Executive Order ihnen den Zugang zu Regierungsgebäuden und -verträgen entziehen sollte.
Richtig, Trump erließ Dekrete (genauer: „executive orders“) gegen Anwaltskanzleien, weil diese entweder Anwälte beschäftigten, die er als seine persönlichen Feinde betrachtete, oder an Fällen arbeiteten, die er ablehnte. Die Dekrete waren offensichtlich rechtswidrig. Vier der Kanzleien fochten die Verordnungen vor Gericht an und gewannen alle. Aber Trump könnte auch durch eine Niederlage gewinnen. Der Sinn der Verfahren bestand darin, die gesamte Anwaltsbranche zu schwächen – das heißt, große Kanzleien davon abzuhalten, Verfahren gegen die Trump-Regierung anzunehmen. Neun Kanzleien unterzeichneten tatsächlich Verträge mit dem Weißen Haus, in denen sie versprachen, Hunderte Millionen Dollar für Trumps Lieblingsanliegen bereitzustellen. Und wir haben bereits erlebt, dass sich ein Großteil der privaten Anwaltskammern von der Übernahme wichtiger Fälle zurückgezogen hat – was für Organisationen wie meine zusätzliche Arbeit bedeutet.
„Die Gerichte allein sind nicht unsere Rettung“
Sehr viel mehr Arbeit, wie es scheint. Die ACLU hat seit Trumps Amtsantritt 79 Klagen eingereicht. Eine beispiellose Zahl.
Ja. Und in 75 Prozent der Fälle, in denen wir eine einstweilige Verfügung gegen die Regierung beantragt haben, haben wir sie auch bekommen. Das zeigt: Die Justiz funktioniert noch.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Am ersten Tag seiner Amtszeit unterzeichnete Trump ein Dekret, das den 14. Zusatzartikel – also das Geburtsrechtsprinzip – außer Kraft setzen sollte. Innerhalb einer Stunde haben wir geklagt. Bis heute ist dieses Dekret nie in Kraft getreten, weil jedes Gericht es blockiert hat. Oder nehmen Sie den „Alien Enemies Act“ von 1798, den Trump nutzte, um eine venezolanische Gang als „Kriegsgegner“ zu deklarieren und ihre Mitglieder ohne Prozess deportieren zu lassen. Auch das wurde gestoppt. Die Gerichte sagen: Selbst in diesem Fall haben die Betroffenen ein Recht auf ein faires Verfahren, wir sind mit ihnen nicht im „Krieg“.
Aber hunderte Menschen wurden trotzdem nach El Salvador gebracht, in menschenunwürdige Gefängnisse, darunter 137 unter dem Alien Enemies Act. Was, wenn die Exekutive sich über das Recht hinweg setzt?
Zu den ungeheuerlichsten Aktionen der Trump-Regierung gehörte es, Menschen in ein brutales Gefängnis in El Salvador abzuschieben – einige davon irrtümlich – und dann vor Gericht zu behaupten, man sei machtlos, die Situation zu bereinigen. Doch angesichts heftiger rechtlicher Herausforderungen hat sie bereits einen Rückzieher gemacht: Herr Agrego-Garcia, der irrtümlich dorthin geschickt worden war, wurde in die USA zurückgeschickt, und die dorthin geschickten Venezolaner wurden nach Venezuela repatriiert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist absolut empörend, dass die Anwälte der Trump-Regierung die Gerichte in diesen Fällen getäuscht und missachtet haben. Doch wenn es hart auf hart kommt, glaube ich nicht, dass sich die Trump-Regierung einer klaren Anordnung des Obersten Gerichtshofs widersetzen wird. Und Umfragen zeigen, dass selbst die meisten Republikaner nicht wollen, dass Trump Gerichtsbeschlüsse ignoriert.
Und was ist mit den Fällen, in denen Immigranten direkt aus Gerichtssälen verschleppt werden?
Das ist ein Angriff auf das Rechtssystem selbst. Wenn Menschen Angst haben, vor Gericht zu erscheinen, weil sie deportiert werden könnten, bricht das System zusammen. Wir haben sogar Fälle, in denen Zeugen in Strafprozessen verhaftet wurden. Die Polizei will das nicht – sie braucht diese Zeugen, um Verbrechen aufzuklären. Aber ICE wartet vor den Gerichtssälen. Auch gegen diese Praxis klagen wir.
Bricht die Regierung dabei das Gesetz?
Es ist nicht illegal, dass die Trump-Regierung Migrationsgesetze auf Bundesebene durchsetzt. Aber es ist illegal, wenn sie dabei die Verfassung bricht. In Kalifornien haben wir eine Verfügung erwirkt, die willkürliche Festnahmen aufgrund von Racial Profiling verbietet. Die Regierung behauptet jetzt, sie dürfe im Rahmen des „Alien Enemies Act“ ohne Durchsuchungsbefehl Häuser durchsuchen. Auch das ist verfassungswidrig. Selbst, wenn die Bundesstaaten, die Sanctuary Cities nicht mit der Trump Administration zusammenarbeiten, so etwas geht nicht.
„Sanctuary Cities sind ein Akt des zivilen Ungehorsams“
Für Europäer ist das Konzept der „Sanctuary Cities“ schwer verständlich. Wie funktioniert das?
Stellen Sie sich vor, ein Bundesstaat legalisiert Marihuana, wie es etwa in New York der Fall ist – aber nach Bundesrecht bleibt es verboten. Theoretisch könnte der Bund jetzt FBI-Agenten schicken, um jeden Konsumenten zu verhaften. Aber er tut es nicht. Bei Immigration ist es ähnlich: Sanctuary Cities kooperieren nicht mit der Bundesregierung. Sie teilen keine Daten mit ICE. Die Menschen, die von ICE gesucht werden, können dort sogar ihren Arbeitgeber verklagen, sie zahlen Steuern. Das heißt nicht, dass ICE dort nicht aktiv werden kann – aber es macht es viel schwerer.
Kritiker sagen: Diese Städte brechen selbst das Gesetz.
Nein. Sie weigern sich lediglich, den Bund bei der Durchsetzung seiner Gesetze zu unterstützen. Gerichte, Krankenhäuser und die Polizei verweigern die Weitergabe von Daten an den Bundesstaat. Und das aus guten Gründen: Wenn Immigranten Angst haben, ins Krankenhaus zu gehen oder die Polizei zu rufen, leidet die gesamte Gesellschaft. Soll ein Verbrecher ungestraft davonkommen, nur weil der Zeuge eines brutalen Überfalls keinen Pass hat? Soll eine unbehandelte Krankheit sich in der Bevölkerung verbreiten, weil die Patienten keine Papiere haben? Die Trump-Regierung handelt hier entgegen dem Interesse der Polizei und Krankenhäuser.
Aber die Bundesregierung könnte doch einfach selbst aktiv werden.
Könnte sie. Aber sie hat nicht die Ressourcen, um in jeder Stadt präsent zu sein. Und genau das ist der Punkt: Unser Föderalismus ist ineffizient – und das ist in diesem Fall ein Vorteil. Die Macht ist so verteilt, dass Trump nicht einfach machen kann, was er will, wann er will.
Und was ist mit Unternehmen wie Palantir oder Flock, die Daten an ICE liefern?
Da müssen wir differenzieren. Viele Deportationen wären auch ohne High-Tech möglich. Aber ja, Überwachungstechnologien wie automatische Nummernschilderkennung von Flock machen es einfacher, Menschen zu tracken. Diese Firmen versuchen einfach, so Vielen wie möglich ihre Produkte zu verkaufen, das ist nunmal deren Logik. Wir warnen Sanctuary Cities: Wenn ihr euch an solche Netzwerke anschließt, untergrabt ihr eure eigenen Schutzmaßnahmen. Denn einmal in so einem System, verliert ihr die Kontrolle über eure Daten.
„Trump wird nur durch Wahlen gestoppt“
Was raten Sie Menschen, die in den USA leben, aber keine Staatsbürger sind?
Sie sollten ihre Papiere immer bei sich tragen. Und sie müssen wissen: Die Trump-Regierung sieht Aufenthaltstitel als Privileg, nicht als Recht. Wir vertreten mehrere Fälle von Menschen, die allein wegen ihrer politischen Äußerungen verhaftet wurden – etwa weil sie sich kritisch zu Israels Politik geäußert haben. Einer unserer Klienten, ein Green-Card-Inhaber, saß 100 Tage in Haft und verpasste die Geburt seines ersten Kindes.
Das First Amendment gilt nur für Menschen mit US-amerikanischem Pass?
Nein – die Verfassung schützt „Personen“, nicht „Bürger“. Aber unsere Klienten wurden aus den Universitätskontexten von ICE-Agenten abgeholt, sie sollten deportiert werden. Wir konnten das stoppen, aber wenn man heutzutage auf eine Demonstration gehen will, als Journalist Artikel schreiben will, würde ich immer vorher fragen: wie ist dein Aufenthaltsstatus? Wenn du keinen Pass hast, besteht für dich eben ein Risiko. Das ist tatsächlich so. Vielleicht gewinnen wir den Fall am Ende, aber in der Zwischenzeit könntest du enorm leiden.
Und wenn man keine Papiere hat?
Ich möchte alle dazu ermutigen, unsere Materialien „Kennen Sie Ihre Rechte?“ zu lesen, damit sie wissen, was in verschiedenen Situationen zu tun ist.
Am 8. März 2025 wurde Mahmoud Khalil, propalästinensischer Aktivist und Absolvent der Columbia University, von der US-Einwanderungsbehörde ICE festgenommen. Die Regierung teilte ihm mit, dass ihm seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis entzogen werde, obwohl ein solcher Entzug nur von einem Gericht nach einem ordnungsgemäßen Verfahren erfolgen kann. Khalil wurde keines Verbrechens beschuldigt – die Trump-Regierung bestand vielmehr darauf, ihn abschieben zu können, da seine Äußerungen und sein Aktivismus die US-Außenpolitik beeinträchtigten.
Ein Bundesgericht erklärte seine Inhaftierung am 11. Juni 2025 für verfassungswidrig und ließ ihn gegen Kaution frei, da von Khalil weder Fluchtgefahr noch eine Bedrohung ausging. Die Regierung verfolgt jedoch weiterhin rechtliche Schritte, um ihn abzuschieben. Die ACLU und andere Organisationen arbeiten daran, dies zu verhindern.
Das klingt nach einem frontalen Angriff auf die Verfassung.
Es ist ein Angriff auf die Verfassung. Aber die Gerichte werden das nicht auf Dauer dulden. Die Frage ist: Was passiert in der Zwischenzeit?
Viele sagen: Irgendwann wird das System kollabieren, etwa weil die Arbeitskräfte fehlen, weil die Zollpolitik Unheil anrichtet.
Ich weiß nicht, was „Kollaps“ hier bedeuten soll. Die USA sind keine parlamentarische Demokratie – man kann hier keine Parteidisziplin im ganzen Land durchdrücken. Diese Ineffizienz der Demokratie ist kein Bug – es ist in diesen Zeiten ein Feature. Jeder Kongressabgeordnete muss sich in seinem Wahlkreis verantworten. Und Trumps Beliebtheit sinkt. Bei der letzten Wahl hat er zwar die Mehrheit geholt, aber seine Zustimmungswerte liegen jetzt unter 40 Prozent. Selbst bei Immigration, seinem stärksten Thema, lehnt eine Mehrheit seine Politik ab.
Reicht das?
Das werden wir sehen. Demokratie ist eben ein Kunstwerk vieler einzelner Gewerke. Während juristische Klagen die schlimmsten Exzesse bremsen können, ziviler Ungehorsam und Protest die Netzwerke der Solidarität stärken, werden nur Wahlen Trump letztendlich stoppen können.
Und wenn er die Wahlen nicht anerkennt?
Damit würde er scheitern. Der Widerstand der ganzen Gesellschaft wird größer werden. Wir sehen jetzt schon mehr als fünf Millionen Menschen bei den No-Kings-Protesten. In den Stadthallen steigen die Proteste gegen die Politiker, es werden immer mehr. Die Frage ist nicht, ob es Widerstand gibt, sondern in welcher Form.
Könnte es auch gewaltsam werden? Immerhin gibt es den zweiten Zusatzartikel – das Recht auf private Bewaffnung.
Das ist ein Missverständnis Amerikas. Die Idee, dass bewaffnete Bürger einen so massiv aufgerüsteten Überwachungsstaat in Schach halten könnten, ist lächerlich. Wer so redet, spielt mit Knarren im Wald. Die USA sind kein Bürgerkriegsland. Die meisten Waffenbesitzer sind Trump-Anhänger, nicht seine Gegner. Und selbst wenn: Gegen Dronen und Panzer nützen Gewehre wenig.
Viele Europäer fragen sich – wie konnte es so weit kommen?
Weil wir dachten, unsere Institutionen seien unantastbar. Aber Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie muss jeden Tag verteidigt werden. Das kommende Jahr 2026, wird mit den Mid-Terms entscheidend sein, und dann 2028. Bis dahin zählt jede Form der Verteidigung.
Das Gespräch führte Jean Peters per Videocall. Ben Wizner ist Direktor des ACLU-Projekts für Rede- und Pressefreiheit. Die ACLU hat seit Trumps Amtsantritt 79 Klagen gegen seine Regierung eingereicht – und in drei Vierteln der Fälle vorläufig Recht bekommen.