Rache der Natur
Palavas-les-Flots sollte einmal das „französische Florida" werden. In den 1960er Jahren rücksichtslos in eine ökologisch sensible Dünenlandschaft gepfropft, leidet es heute zunehmend unter Überschwemmungen. Nur der Bürgermeister, seit 1989 im Amt, merkt nichts von alldem. „Das Meer steigt bei uns nicht an", sagt er fröhlich.
Palavas, vor den Toren von Marseille gelegen, hat für Besucher klare Regeln aufgestellt. „Bitte korrekt kleiden“ steht auf den Schildern im Ort, „bitte nicht mit dem Motorrad auf den Bürgersteigen fahren“, und bitte „keine Wasserpfeife am Strand rauchen“.
Auf die drohende Erosion seiner Strände durch den Meeresanstieg aber weist Palavas-les-Flots nicht hin. Dabei rollten die Wellen schon 1982 bei einem schweren Sturm bis zu diesem Verbotsschild, 50 Meter vom Strand entfernt. Im vergangenen Winter stieg das Wasser kurzzeitig bis zum Kreisverkehr im Ort. Eine Passantin zeigt auf die Bretter, die die Hauseingänge versiegeln. „Schauen Sie genau hin, die Häuser haben Meereswasser getrunken.“
2012 haben Wissenschaftler des geologischen Forschungsinstituts BRGM Prognosen für die Zukunft des Badeortes aufgestellt. In ihren Modellen stützten sie sich auf den Sturm von 1982. Ihr Ergebnis: Sollte sich die Erde weiter aufheizen und sogar die anvisierten zwei Grad übersteigen, wären die Schäden bis 2100 gewaltig. Die küstennahen Grundwasser würden versalzen, die Strände mitsamt ihrer Bars, Restaurants und Boots-Verleihen verschwinden, der Boden weggeschwemmt.
„Palavas-les-Flots befindet sich in einer niedrigen und sandigen Zone, die schon jetzt an der Küste erodiert“, sagt Gonérie Le Cozanett vom Forschungsinstitut BRGM. „Diese Strände sind schon jetzt bei Stürmen verwundbar. Der Klimawandel wird dies verschlimmern.“
Schon heute steigt das Meer in Palavas-les-Flots um jährlich drei Millimeter an – während es in den vergangenen 6000 Jahren nur einen Millimeter angestiegen ist. Mit bloßem Auge ist diese Veränderung nicht zu sehen. Aber bei hoher See erkennt jeder, wie weit sich das Meer voranfrisst. Selbst ohne die steigenden Meere des Klimawandels ist die Erosion ein großes Problem. Durch viele neue Wassersperren am französischen Rhône-Fluss gelangen weniger Sedimente an die Küste – und diese ist noch dazu dicht bebaut. So kann die Natur nicht mehr auffüllen, was das Wasser wegreißt.
„Bislang verändert die hausgemachte Erosion die Küsten stärker als die steigenden Meere des Klimawandels“, sagt Èric Chaumillon von der Universität La Rochelle. Langfristig aber werde dieser viel entscheidender für die französischen Küsten werden. Je höher die Temperatur steigt, umso schneller schmelzen die Gletscher, die die Ozeane auffüllen. Die vom Meer angegriffenen Küsten werden flacher, es steigt also noch stärker an – ein Teufelskreislauf. Wenn das Wasser in Palavas-les-Flots bis zum Jahr 2100 um rund 60 Zentimeter ansteigt, wie es die internationale Klimaforschungsgruppe GIEC prognostiziert, werden die Stürme das Wasser weit ins Land tragen.
An den Stränden von Palavas sollen die Folgen des Meeresanstiegs mit künstlichen Mitteln bekämpft werden. Überwachungskameras, Gezeitenmessungen, Studien über die Effekte von Stürmen und die Suche nach neuem Sand in dem Projekt Beach Med sollen die Effekte des Klimawandels beherrschen helfen. Palavas-les-Flots ist zwar nicht der bedrohteste Ort an der Küste, aber er befindet sich im Golf der Aigues Morte, einem geschützten, fragilem Ökosystem.
Für Wissenschaftler ist es sinnlos, isoliert in einer Kommune zu handeln. Nur die Arbeit mit Sediment-Gruppen, die sich über mehrere Strände erstrecken können, sei erfolgreich. Deswegen arbeiten heute alle Küstenstädte zusammen. „Die natürliche Skala ist größer als die administrative“, sagt Alexandre Richard, Studienleiter für das umgebende Departement Herault.
2008 wurden die Strände rund um Palavas-les-Flots mit Sand aufgefüllt. Eine Million Kubikmeter Sand wurden von dem Ort Espiguette, wo sich Sedimente anlagerten, zu den schwächsten Punkten an der Küste transportiert. Die Arbeiten haben drei Monate gedauert und 8 Millionen Euro gekostet. Aber knapp neun Jahre später sind die künstlichen Sandberge wieder weggeschwemmt.
In Petit-Travers, einem kleinen Nachbarort von Palavas-les-Flots, ist der Strand heute wieder so arm an Sand wie vor neun Jahren. In Palavas-les-Flots selbst ist rund die Hälfte des Sandes wieder verschwunden. „Das Auffüllen mit Sand ist die einzige Möglichkeit, etwas Zeit zu gewinnen“, sagt Alexandre Richard. „Aber es ist auch keine echte Lösung, weil die Reserven endlich sind und der Transport sehr teuer.“
Richard setzt sich für eine sanftere Lösung ein: Er möchte die Dünen mit Holzpflöcken an Ort und Stelle halten, die Strände mit Kanälen entwässern und mit Stoffkissen begrenzen. Mit dieser Methode wurde der Strand vom nicht weit entfernten Sète restauriert und die Hauptstraße umgeleitet – zu einem Preis von 54 Millionen Euro.
Im Unterschied zu den Niederlanden, die noch Sand-Reserven an der Nordsee und am Atlantik haben, hat die Mittelmeerküste aber keinen Sand mehr zu verteilen. Der Ozean ist an einigen Stellen sehr tief. Während der Eiszeit vor 21 000 Jahren lag es 120 Meter tiefer als heute. Es ist also vorauszusehen, dass sich dieses historisch steigende Meer bei einer um einige Grad wärmeren Temperatur stark anheben wird. Sich dieser Veränderung anzupassen wird unausweichlich.
Die pessimistischen Prognosen für Palavas-les-Flots wirken wie eine Rache der Natur: Denn die rücksichtslose Bebauung der Dünen ab den 1960er Jahren macht diese Küste verwundbar. „Der Küstengürtel in dieser Region wird besonders unter dem Klimawandel leiden“, sagt Yann Balouin vom BRGM. „Und ein Grund dafür ist, dass die Häuser und Straßen den schützenden Sandwall der Dünen zerstört haben.“
Bis zu den 1960er Jahren waren hier am Mittelmeer nur kleine Fischerdörfchen. Und viele Mücken. Die regionale Regierung entschied dann, in dem staatlichen Programm Racine sechs touristische Zentren direkt am Wasser hochzuziehen. Die Medien sprachen von einem „französischen Florida“. Noch heute sind diese Badeorte in Frankreich und Europa beliebt: Sie tragen Namen wie Grande-Motte, Cap d’Agde oder Port-Leucate. Auch Palavas-les-Flots war damals ein kleines Dorf. Innerhalb weniger Jahren bedeckten die Häuser des Racine-Programms seine Küste. Sein Name wurde zum Synonym für Badeurlaub, weniger chic als die Côte-d’Azur, aber erschwinglich für Familien und Ferienfreizeiten. Noch heute ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle, häufig kommen auch Wirtschaftskongresse. Schließlich ist der Vorzeigebau der Stadt ein Hochhaus mit Büros, Konferenzräumen und Sälen. Das Restaurant wird von einem Gewinner der beliebten Kochsendung „Master-Chef“ geleitet, einer der Aktionäre ist der Fußballer Vincent Candela. So hat der Ort einen modernen Touch.
Aber kaum dass die Badestationen wie Pilze aus dem Boden schossen, wurde die Zerstörung sichtbar: Immer häufiger wurden die Städte im Winter überschwemmt. Da halfen auch die Wellenbrecher und Deiche nicht, die eilig gebaut wurden: Sie haben zwar an einigen Stellen die Erosion verhindert, aber langfristig den Transport der Sedimente verhindert, der die Küste hätte stabilisieren können. Anerkennen will die Politik diese Fehlentscheidungen nicht. „Wir hatten schon immer ein bisschen Wasser bei Stürmen in der Stadt“, sagt der Bürgermeister von Palavas-les-Flots, Christian Jeanjean in seinem großzügigen Büro. Jeanjean regiert seit 1989 und kann keinen Meeresanstieg beobachten – dafür aber einen Anstieg der Dünen. Er zeigt auf Fotos, die kleine Sandhügel in der Stadt zeigen. „Wir wissen schon gar nicht mehr, wohin mit dem Sand!“, sagt er. Von der Erosion, die so viele Wissenschaftler beschreiben, will er nichts hören. „Das Meer steigt bei uns nicht an“, sagt er. Von den Studien will er noch nie etwas gehört haben. „Bevor der Klimawandel bei uns eintrifft, hat er schon überall anders Katastrophen angerichtet“, sagt der Bürgermeister.
Ihm sei der Meeresanstieg bewusst, aber dieser finde nicht vor seiner Haustür statt. Jeanjean öffnet eine Parfumflasche namens „Palavas-les-Flots“ und überreicht Sticker und Schlüsselanhänger des Touristenbüros. Schon heute zu handeln für die kommenden Jahrhunderte ist nicht seine Stärke. Forscher in dem tonangebenden Wissenschaftsjournal „Nature Climate Change“ hatten noch in diesem Februar geschrieben, dass „unsere Entscheidungen von heute sich nicht nur für Jahrhunderte, sondern für Jahrtausende auf die Menschheit auswirken werden.“ Dies bedeutet auch, Probleme zu lösen, die beispielsweise in Palavas-les-Flots noch nicht für jeden sichtbar sind.
Übersetzung : Annika Joeres
Jade Lindgaard ist Reporterin bei der unabhängigen französischen Nachrichtenseite mediapart.fr Sie finanziert sich allein durch ihre
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