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Wie es zum Wahlerfolg der AfD in Gelsenkirchen kommen konnte

In Gelsenkirchen hat es die AfD in die Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters geschafft. Bei der Bundestagswahl im Februar war die Partei schon stärkste Kraft geworden, bei der Kommunalwahl lag sie jetzt bei rund 30 Prozent nur ganz knapp hinter der SPD. Unsere Gelsenkirchener Lokalredaktion versucht, die Gründe zu erklären – und warum es wichtig ist, dass jetzt ganz Deutschland nach Gelsenkirchen schaut.

von Mario Büscher , Tobias Hauswurz

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Die Gelsenkirchener Primark-Filiale hat Ende 2023 geschlossen. Das Kaufhaus mit vier Stockwerken steht seitdem leer.

Der Saal erhebt sich, Applaus schallt durch das Atrium des Gelsenkirchener Rathauses. Es ist eine Mischung aus Respekt, Zweckoptimismus und Erleichterung, die der Gelsenkirchener Oberbürgermeisterkandidatin Andrea Henze (SPD) entgegenschlägt, als sie zwei Stunden nach der ersten Prognose für die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen im Ratssaal auftaucht. Sie kommt, als der Abstand zum Kandidaten der AfD, dem 72-Jährigen Norbert Emmerich, deutlich genug ist.

Sie wird ihn schlagen. Gut 37 Prozent zu knapp 30 Prozent. Henze blickt nach vorn in die Augen ihrer Genossinnen und Genossen. An dem Rednerpult, an dem sonst die Oberbürgermeisterin die Ratssitzungen eröffnet, sagt sie: „Gelsenkirchen hat mit deutlicher Mehrheit demokratische Kräfte gewählt.“ In die Stichwahl muss die 49-Jährige derzeitige Sozialdezernentin trotzdem.

Zwei Stockwerke darüber, in der vierten Etage, ist deutlich weniger los. Hier oben gibt es zwar nicht wie unten ausreichend Currywurst und vegetarische Bolognese, dafür aber Sekt. Die Mitglieder der AfD kann man an zwei Händen abzählen, die Medienvertreter nicht.

Ganz Deutschland schaut an diesem Abend nach Gelsenkirchen. Wenn das in  der Vergangenheit der Fall war, war vorher nur selten etwas Gutes passiert.

Das Gelsenkirchener Rathaus, in dem am vergangen Sonntag die Wahlpartys stattfanden. (Foto: Ivo Mayr/Correctiv)

Im Rat der Stadt hat die AfD-Fraktion künftig genauso viele Sitze wie die Sozialdemokraten, nämlich 20. Nur rund 400 Menschen mehr machten verglichen mit der AfD ihr Kreuz bei der SPD. Im neuen Rat wird neben Emmerich, dem Bankkaufmann mit gut gestutztem weißen Schnauzbart, auch die Kreisvorsitzende und Landtagsabgeordnete Enxhi Seli-Zacharias einen Platz haben, die mit ihm ihr Glas erhebt und die vielen Direktmandate in den Wahlbezirken begießt, die die AfD erstmals zu Holen imstande war. Die SPD stürzte ab und mit ihr CDU, Grüne und FDP. Eine Stichwahl um den Oberbürgermeister mit der AfD gibt es neben Gelsenkirchen sonst nur in Duisburg und Hagen.

Verglichen mit der Kommunalwahl 2020 hat die AfD im Schnitt Nordrhein-Westfalens zwar deutlich zugelegt, gegenüber der Bundestagswahl Anfang des Jahres aber büßte sie insgesamt ein. Nicht aber in Gelsenkirchen: Hier packte die AfD nochmal rund fünf Prozentpunkte drauf.

Gelsenkirchen, die ehemalige SPD-Hochburg

Die Analyse des Wahlergebnisses kann in Gelsenkirchen nur bei der SPD beginnen. Die Sozialdemokraten regieren Gelsenkirchen seit 1946 fast ununterbrochen, insgesamt 50 Jahre davon alleine, also mit absoluter Mehrheit im Stadtrat. Nur einmal erlaubten sich die Gelsenkirchener einen Ausrutscher und wählten 1999 mit Oliver Wittke einen CDU-Mann zum Oberbürgermeister. Das Ruhrgebiet galt viele Jahrzehnte als die Herzkammer der Sozialdemokratie. Noch 2014 holte Frank Baranowski für die Sozialdemokraten 67,4 Prozent.

Wer den Wahlerfolg der AfD und die Schwäche der SPD in Gelsenkirchen erklären will, blickt auf viele lose Enden, die, wenn man sie zurückverfolgt, aber alle einen gemeinsamen Ursprung haben: Menschen in Gelsenkirchen sind die großen Verlierer, wenn es darum geht, am allgemeinen Fortschritt teilzuhaben. Oder sie empfinden es zumindest so.

Die eigene Geschichte von Aufschwung und Niedergang gehört inzwischen zur lokalen Folklore. Kaum ein offizieller Anlass, bei dem sie nicht erzählt wird: Gelsenkirchen, die Stadt der Malocher, in der nach dem Krieg der Wohlstand der neuen Bundesrepublik erarbeitet wurde. Gelsenkirchen, die Stadt, die dadurch selbst reich wurde und auf fast 400.000 Einwohner anwuchs. Die Gelsenkirchener Bahnhofstraße, die Haupteinkaufsstraße, die in dieser Zeit zu den umsatzstärksten Einkaufsmeilen Deutschlands gehörte. Bis mit dem Strukturwandel der Niedergang kam.

Der bis heute anhält.

Die Verlierer aus Gelsenkirchen

Viele Gelsenkirchener sehen sich als Verlierer einer globalisierten Welt. Sie sehen die leerstehenden Kaufhäuser von Kaufhof, Primark und Sinn. Sie sehen, dass sie ihre Kinder in ein überfordertes Bildungssystem entlassen. Sie sehen Müllberge und marode Infrastruktur. Kurz gesagt: Sie sehen sich vor ihrer Haustür konfrontiert mit einem Staat, in dem etwas nicht mehr so funktioniert, wie es funktionieren sollte. Und sie haben den Glauben daran verloren, dass ihre Stimme politisches Gewicht hat und sich irgendjemand ihrer Probleme annimmt.

Und die gibt es in der Stadt zuhauf, in der die Welt manchmal Kopf zu stehen scheint.

Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zum Beispiel. Eine der wichtigsten wirtschaftlichen Errungenschaften der Europäischen Union führt in Gelsenkirchen seit 2014 zu einer hohen Zuwanderung von Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien. Armutszuwanderung nennt die Gelsenkirchener Stadtverwaltung das, inklusive aller damit einhergehenden Probleme.

Die Gelsenkirchener Bahnhofstraße, Haupteinkaufsstraße der Stadt. Links im Bild: Das leerstehende Kaufhof-Gebäude. (Foto: Ivo Mayr/CORRECTIV)

Diese Form der Migration ist vor allem ein Symptom einer strukturschwachen, schrumpfenden Stadt, in der inzwischen nur noch rund 270.00 Menschen leben. Einer Stadt mit einem kaputten Immobilienmarkt, in der viele Hausbesitzer jahrzehntelang Investitionen scheuten und Immobilien deshalb lieber verfallen ließen oder verscherbelten, anstatt sie instand zu halten. Während die Bundespolitik seit Jahren über zu hohe Mieten und zu wenig günstigen Wohnraum diskutiert, kauft die Gelsenkirchener Stadtverwaltung inzwischen Immobilien, um sie abzureißen und sie dem kaputten Markt zu entziehen.

Und auch, um den kriminellen Machenschaften einiger Einhalt zu gebieten, die Menschen aus Rumänien und Bulgarien unter fadenscheinigen Versprechen nach Gelsenkirchen locken, sie in völlig heruntergekommenen Immobilien pferchen und einen großen Teil der Sozialleistungen kassieren.

Eine Stadt als in Kauf genommener Kollateralschaden

So beschreibt es die Stadtverwaltung. So rufen Gelsenkirchens noch-Oberbürgermeisterin Karin Welge und auch schon ihr Amtsvorgänger Frank Baranowski seit Jahren um Hilfe.

Gehör fanden sie in der Vergangenheit kaum. Nicht in Berlin und nicht in Brüssel, wo diese lokalen Probleme gelöst werden müssten. Genau wie die Last der Altschulden, die den Gelsenkirchener Haushalt seit Jahren genauso strapazieren wie die hohen Sozialausgaben.

Eine Stadt als in Kauf genommener Kollateralschaden. Eine Steilvorlage für die AfD.

Dabei gibt es Lichtblicke. Von der NRW-Landesregierung bekommt Gelsenkirchen bis zu 100 Millionen Euro über zehn Jahre, um rund 3.000 Schrottimmobilien abzureißen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, die selbst aus Duisburg stammt und die Situation im Ruhrgebiet gut kennt, könnte sich als wichtige Verbündete im Kampf gegen Sozialleistungsmissbrauch erweisen. Außerdem gibt es endlich erste Zusagen von Land und Bund für eine Altschuldenlösung für überschuldete Kommunen.

Die Arminstraße in der Gelsenkirchener Innenstadt, in der sich auch die erste dauerhafte Lokalredaktion von CORRECTIV befindet. (Foto: Ivo Mayr/CORRECTIV)

Doch zumindest für diese Wahl kamen die Impulse zu spät, um das hohe Ergebnis der AfD zu verhindern.

Auch die Gelsenkirchener CDU konnte aus der Unzufriedenheit vieler Gelsenkirchener kein Kapital mehr schlagen. Schon bei der Bundestagswahl im Februar blieben die Christdemokraten hinter dem Bundestrend zurück. Bei der Kommunalwahl, bei der die CDU sich NRW-weit als Wahlsieger feiert, ebenfalls.

AfD in Gelsenkirchen auf völkischem Kurs

Aber ob die Volksparteien SPD und CDU das Vertrauen in Gelsenkirchen überhaupt jemals zurückgewinnen können? Zu groß scheint der Graben für viele inzwischen zu sein. Anders lässt es sich kaum erklären, dass die Gelsenkirchener AfD auch noch mit einem besonders radikalen Kurs Erfolg hat.

Zwar ist Norbert Emmerich der OB-Kandidat der AfD in Gelsenkirchen – die inzwischen unangefochtene Chefin des Kreisverbandes ist aber die NRW-Landtagsabgeordnete Enxhi Seli-Zacharias, die keine Berührungsängste mit den besonders extremen Kräften in der AfD hat. Mit Matthias Helferich, der sich in Chatgruppen selbst als das „freundliche Gesicht des NS” bezeichnete – ironisch wie er später sagte –  gab sie ein gemeinsames Interview in Siegen und wurde danach als „Ehrengast” zu seinem Kreisverband nach Dortmund eingeladen. Der Abend stand unter dem Motto „Alles für Dortmund”. Ein Ausdruck, der an die verbotene Losung der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) „Alles für Deutschland” erinnert. Helferich wurde vom NRW-Landesverband kürzlich erstinstanzlich aus der Partei geschmissen, er gehört aber  weiter der Bundestagsfraktion an.

Passend dazu: Helferichs Profilfoto bei Facebook wird aktuell umrahmt von dem Schriftzug „Team #Remigration” und dem Foto eines Flugzeuges. CORRECTIV berichtete im Juli über den Richtungsstreit, in dessen Zentrum der „Remigrations”-Begriff steht. Ein Lager, ausgerechnet um den schillernden Bundestagsabgeordneten Maximilian Krah, fürchtet offenbar, dass der rechtsextreme Tarnbegriff Futter für ein AfD-Verbot liefert, wenn er auch deutsche Staatsbürger meint. Das andere Lager, um Parteichefin Alice Weidel und den thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke, will dagegen am Begriff „Remigration” und den darin enthaltenen völkischen Ideen festhalten.

„Remigration“ im Wahlprogramm

Und die Gelsenkirchener AfD? Die schreibt „Remigration” in ihr Wahlprogramm, während ihn viele andere Ortsverbände im Ruhrgebiet strichen. Lediglich der Dortmunder Ortsverband von Helferich nutzt den Begriff weiterhin. Und die AfD-Gelsenkirchen macht im Wahlprogramm Vorschläge, die an das verfassungsfeindliche „Remigrations“-Konzept des rechtsextremen Chefs der Identitären Bewegung Martin Sellners anknüpfen, das dieser beim Geheimtreffen in Potsdam vorgestellt hatte, das CORRECTIV aufdeckte. So sollen nach Vorstellung der AfD etwa Halal-Metzgereien gezielter kontrolliert werden, als andere Fleischereien, Halal-Essen in Schulkantinen verboten oder arabische Ladenschilder aus der Innenstadt verbannt werden.

„Mobilisieren, wo andere enttäuscht haben“

Die vielen Wählerinnen und Wähler der AfD scheint das nicht zu stören. David Gehne, Forscher an der Ruhr-Universität Bochum, glaubt dennoch, dass weiterhin Menschen aus Protest ihr Kreuz bei der AfD machen. Auf der anderen Seite dürfe es „nicht wenige rechtsextreme Wählerinnen und Wähler in Gelsenkirchen geben”, wie er im Gespräch mit Spotlight Gelsenkirchen sagt. Es fehlen allerdings Befragungsdaten aus der Stadt, die das untermauern könnten.

Wirklich Wahlkampf muss die AfD in Gelsenkirchen gar nicht machen. Zumindest, wenn man Berichten überregionaler Medien glaubt. Und das stimmt auch – wenn Wahlkampf klassischer Wahlkampf mit Stand, Flyern, Kugelschreibern und Gesprächen bedeutet. Beim Wahlkampfauftakt war kaum etwas los, keine Massen, die der AfD auf der Straße zujubelten.

Abgestellter Roller in der Gelsenkirchener Innenstadt – mit Deutschland-Deko und „Dicke Berta”-Schriftzug. (Foto: Ivo Mayr/CORRECTIV)

Stattdessen sammelt die AfD Stimmen vor allem über das Internet ein. Mehr als 100.000 Menschen verfolgten den Livestream des rechten Youtubers „Weichreite TV” aus Gelsenkirchen. Und am Wahlabend gab Enxhi Seli-Zacharias eines ihrer ersten Interviews dem Portal „Utopia TV Deutschland”. Für die AfD reicht es laut Gehne aus, „da zu mobilisieren, wo andere enttäuscht haben. Und das in der Regel über eigene Kanäle, ohne überhaupt mit Medien zu sprechen.”

Die Strategie ist aufgegangen. Allerdings wird sie nach Ansicht Gehnes für die Stichwahl nicht mehr ausreichen. „Darum wird es jetzt interessant sein zu sehen, ob die AfD ihre Taktik nochmal ändert.” Dass am Ende Norbert Emmerich Oberbürgermeister wird, ist derzeit nicht wahrscheinlich. CDU, FDP und die Grünen rufen dazu auf, Andrea Henze von der SPD zu wählen.

Und auch im Stadtrat sind weiterhin Mehrheiten ohne die AfD möglich, wenn auch komplizierter als bisher. Die AfD feiert ihr Ergebnis und verkauft sich schon als neue Volkspartei. Dabei kommt ihr Aufstieg für sie selbst zu schnell: Für die Bezirksvertretungen fand die AfD nicht genügend Leute, im Gelsenkirchener Stadtbezirk West sitzen daher nur fünf Vertreter, obwohl es eigentlich sechs Sitze gibt.

Für Gelsenkirchen ist jetzt wichtig, dass die Aufmerksamkeit auf die Stadt nicht nur bis zum Ergebnis der Stichwahl anhält. Einiges kann die Verwaltung hier anschieben, für vieles braucht sie aber Unterstützung aus Düsseldorf, Berlin und Brüssel. Darin sind sich inzwischen alle Parteien im Stadtrat einig: Schaut auf diese Stadt!

Über Spotlight Gelsenkirchen:
Im Juni hat CORRECTIV seine erste dauerhafte Lokalredaktion in Gelsenkirchen eröffnet. Der neue Standort kombiniert eine Redaktion mit einem Café mitten in der Innenstadt. Die Lokalredaktion veröffentlicht einen wöchentlichen Newsletter mit lokalen Themen und lädt die Stadtgesellschaft zu Diskussionen und Kulturveranstaltung ins Café ein, aus dem heraus sie auch tagtäglich arbeitet. Für den Newsletter Spotlight Gelsenkirchen können Sie sich hier anmelden: Spotlight Gelsenkirchen

Redigatur: Anette Dowideit