Verdrängt, vergessen, verschwiegen: Der deutsche Fußball hat ein Missbrauchsproblem
Im deutschen Fußball sind Hunderte Kinder und Jugendliche Opfer von Gewalt durch Machtmissbrauch geworden. Das belegen Recherchen von CORRECTIV und 11FREUNDE. Die DFB-Vizepräsidentin will nun Vereine leichter vor auffälligen Trainern warnen können. Die Aufarbeitungskommission spricht sich für eine Dunkelfeldstudie aus.

Das Wichtigste in Kürze
- Seit 2020 wurden in Deutschland mindestens 37 strafrechtliche Ermittlungsverfahren mit 130 Geschädigten eingeleitet, die Gewaltdelikte im Fußball gegen Minderjährige zum Gegenstand haben – meist begangen von Trainern.
- In den meisten Fällen geht es um sexualisierte Gewalt, aber auch andere Gewaltformen werden genannt.
- Zudem äußerten sich in einer Online-Befragung von CORRECTIV und 11FREUNDE knapp 500 Menschen zu Gewalterfahrungen als Minderjährige im Fußball.
- In Reaktion auf die Recherche fordert die DFB-Vizepräsidentin weniger Datenschutz-Hürden, um Vereine besser vor übergriffigen Trainern zu warnen. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs will eine Dunkelfeldstudie.
Er spielte mit seinem Trainer Onlinespiele. Bis der ihn plötzlich aufforderte, Nacktbilder zu schicken.
Sie kannte ihren Coach schon, seit sie 13 Jahre alt war. Vier Jahre später küsste ihr Trainer sie plötzlich auf den Mund.
Er brauchte Abstand, um zu begreifen, dass er keine physiotherapeutische Betreuung bekommen hatte, sondern sexuell missbraucht wurde.
Drei Fälle – stellvertretend für ein enormes Dunkelfeld, in dem Erwachsene aus dem Fußball bis heute Grenzen überschreiten, Kinder und Jugendliche verletzen, körperlich und seelisch Gewalt anwenden.
Eine neue Recherche von CORRECTIV und 11FREUNDE zeigt ein massives Missbrauchsproblem im deutschen Fußball: Hunderte Kinder und Jugendliche waren allein in den vergangenen Jahren betroffen. Die Redaktionen werteten aktuelle Strafverfahren aus: Mehr als hundert Geschädigte wurden Opfer von über 1.360 Übergriffen. Zusätzlich meldeten sich knapp 500 Menschen bei uns, die als Minderjährige Gewalterfahrungen im Fußball gemacht haben.
Sie reichen von Gewalterfahrungen in den 1970er Jahren bis ins Jahr 2025 im Amateurfußball und in die Nachwuchsabteilungen von Profiteams. Fast alle geschilderten Vorfälle spielten bisher keine Rolle bei Ermittlungsbehörden. Darunter viele, bei denen es wahrscheinlich nicht um strafrechtliche, sondern um ethische Grenzverletzungen geht. In anderen Fällen kam es trotz Gewalt nicht zu einer Anzeige.
Trainer werden in den meisten Fällen als Täter genannt
Die Erlebnisse der Betroffenen zeichnen ein Bild, das in dieser Klarheit bisher nicht sichtbar gewesen ist: In den meisten Fällen geht es um sexualisierte Gewalt in einem Machtgefälle, die männlich gelesene Trainer gegenüber ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen ausübten, aber auch Betreuer, Schiedsrichter und Spielerberater werden als Täter genannt.
Das Spektrum der Taten umfasst geheime Filmaufnahmen, Betäubungen mit Medikamenten und Drogen, Berührungen im Intimbereich, sexuelle Handlungen und Vergewaltigung. Die Übergriffe fanden sowohl auf dem Vereinsgelände der Fußballmannschaften statt, als auch in Privaträumen und Fußballcamps.
Es geht aber auch um andere Gewaltformen: rassistische, antisemitische und homofeindliche Äußerungen, Ohrfeigen, Schläge, Bodyshaming, Essensentzug, schweres Mobbing, andere Erniedrigungen, die psychisches Leid oder in zahlreichen Fällen auch körperliche Schmerzen zur Folge hatten.
Diese Ergebnisse beruhen auf hunderten Erfahrungsberichten, die CORRECTIV und 11FREUNDE ausgewertet haben. Von Menschen, die als Kinder oder Jugendliche Gewalt im Fußball erlebt haben.
Mit mehr als 40 Betroffenen haben die Redaktionen ausführlich gesprochen – zumeist Spielerinnen und Spieler, aber auch Familienangehörige, ehemalige Mitspieler, Freundinnen und Freunde, Vereinsfunktionäre sowie Vertreter von Fußballverbänden kamen zu Wort. Darüber hinaus werteten die Reporterinnen und Reporter mehr als ein Dutzend Urteile aus, analysierten Chatverläufe und hörten sich Sprachnachrichten an.
Und doch: Wie groß das Ausmaß im Fußball, der in Deutschland mit Abstand beliebtesten Sportart bei Kindern und Jugendlichen, tatsächlich ist, lässt sich bisher nur erahnen. Denn eine unabhängige Untersuchung, die das volle Ausmaß sexualisierter Gewalt im organisierten Fußball beleuchtet, hat es in Deutschland bislang nicht gegeben. Die Ergebnisse dieser Recherche liefern erstmals einen systematischen Überblick – und werfen zugleich neue, drängende Fragen auf. Wie kann der Fußballnachwuchs künftig besser vor Gewalt geschützt werden? Was brauchen die Landesverbände des Deutschen Fußball-Bund (DFB) und Vereine? Ist der Nachwuchs im Fußball besonders gefährdet oder einfach ein Spiegelbild für Machtmissbrauch in der Gesellschaft?
Erstmals beschäftigen sich als Reaktion auf unsere Recherche nun der DFB und die unabhängige Aufarbeitungskommission mit Missbrauch im Fußball.
Das Hellfeld: Die undurchsichtigen Strafverfahren
Niemand in Deutschland weiß, wie oft Trainer oder andere Menschen aus dem Jugendfußball vor Gericht stehen, weil sie gewalttätige Übergriffe gegenüber ihnen anvertrauten Kindern begangen haben sollen. Es gibt bisher keine gesonderte Erfassung solcher Taten.
CORRECTIV und 11FREUNDE haben zu solchen Strafverfahren bei 50 Landgerichten, mehreren Amtsgerichten und 30 Staatsanwaltschaften Anfragen gestellt. Dabei wurde deutlich: Konkrete Verfahren konnten nur genannt werden, wenn sich die zuständigen Personen aus der Justiz an konkrete Fälle erinnerten oder durch eine Presseberichterstattung Fälle rekonstruieren konnten.
Dadurch konnten die folgenden 37 strafrechtlichen Verfahren dokumentiert werden, die seit 2020 Gewaltdelikte im Fußball gegen Minderjährige zum Gegenstand haben. Die tatsächliche Anzahl der Strafverfahren dürfte noch höher sein. Darunter fallen laufende staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren, die aktuell verhandelt werden oder bereits endeten – in den meisten Fällen mit einem rechtskräftigen Urteil.
Beschuldigte Trainer waren sowohl im Amateurbereich aktiv, als auch in Profisportstrukturen, etwa in den Nachwuchsmannschaften von Union Berlin, Eintracht Frankfurt, SSV Jahn Regensburg und 1. FC Magdeburg.
In mindestens 23 Fällen wurden bereits rechtskräftige Urteile gesprochen. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen bis hin zu mehrjährigen Haftstrafen.
In den Urteilen, die CORRECTIV und 11FREUNDE gesichtet haben, werden wiederkehrende Täterstrategien deutlich. Machtgefälle und Abhängigkeitsverhältnisse spielen in zahlreichen Ermittlungen eine zentrale Rolle, etwa die Sorge der jungen Fußballerinnen und Fußballer, nicht mehr aufgestellt zu werden, wenn sie sich wehren. Viele Täter arbeiteten mit Drohungen.
Ihre Strategien ähnelten sich oft: Nach und nach ließen Trainer die Grenzen zwischen Sport und Privatem verschwimmen. Über Spaziergänge, Videospiele, einen Saunabesuch, erste körperliche Bemerkungen und Berührungen. Was sich womöglich zu Beginn noch nach einer Grenzüberschreitung anfühlt, wird stufenweise normalisiert. Ein Verhalten, das als Grooming bezeichnet wird und in den dokumentierten Fällen zur Vorbereitung sexuellen Missbrauchs diente.
Vorwurf im NRW-Gerichtsverfahren: Trainer gibt sich als Polizist aus
Aktuell wird am Essener Landgericht ein Fall verhandelt, in dem ein ehemaliger Jugendtrainer wegen mutmaßlicher körperlicher Misshandlungen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern auf der Anklagebank sitzt.
Dieser habe vor allem mit Kindern mit Migrationshintergrund zu tun gehabt und – so ein Vorwurf – sich vor diesen neben seiner Trainertätigkeit auch als Polizist ausgegeben. Er habe den Kindern gedroht, dass Familienmitgliedern etwas passieren könnte, wenn die Kinder ihnen von den Übergriffen berichten würden.
Seine Taten soll der Trainer in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets begangen haben, wie die Sportschau berichtet. Kein Einzelfall. In den Strafverfahren tauchen mehrere Trainer auf, die bei unterschiedlichen Fußballvereinen über Jahre Übergriffe begangen haben sollen, bis die Ermittlungsbehörden sie strafrechtlich verfolgten.
Hilfsangebote
Du hast Gewalt oder Missbrauch im Sport erlebt oder machst du dir Sorgen um jemand anderes? Oder du hast Angst, selbst zum Täter oder zur Täterin zu werden? An diese Beratungsstellen kannst du dich wenden:
Ansprechstelle Safe Sport: 0800 11 222 00 (montags, mittwochs und freitags von 10 Uhr bis 12 Uhr und donnerstags von 15 bis 17 Uhr)
Anlauf gegen Gewalt: 0800 90 90 444 (montags, mittwochs und freitags von 9 Uhr bis 13 Uhr, dienstags und donnerstags von 16 Uhr bis 20 Uhr)
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (montags, mittwochs und freitags von 9 Uhr bis 14 Uhr, dienstags und donnerstags von 15 Uhr bis 20 Uhr)
Kein Täter werden: Hilfestelle für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen
DFB: Bietet ein anonymes Hinweisgebersystem an oder Ansprechpersonen für Kinder- und Jugendschutz in den Landesverbänden oder in der Zentrale in Frankfurt am Main.
Im vergangenen Jahr sorgte ein Urteil am Landgericht München I für Schlagzeilen. Ein Trainer des TSV Neuried hatte unter dem Deckmantel einer angeblich physiotherapeutischen Behandlung über Jahre minderjährige Jugendliche vergewaltigt. Als der Vereinsvorstand davon erfuhr, trennte er sich vom Trainer. Allerdings erstattete der Verein erst etwa ein Jahr später Anzeige, wie der WDR berichtete. Auch die Spieler und Eltern wurden nicht über den Verdacht informiert. Der beschuldigte Trainer war anschließend noch für zwei weitere Vereine tätig – wo er womöglich weitere Taten verübte.
Mittlerweile ist der Trainer rechtskräftig verurteilt, zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft. Die Staatsanwaltschaft gibt auf Anfrage von CORRECTIV an, dass gegen den Trainer neben den Fällen von sexualisierter Gewalt beim TSV Neuried zu Taten „an einem Gymnasium und bei zwei Sportvereinen“ ermittelt wurde. Da diese mutmaßlichen weiteren Übergriffe das Strafmaß nicht erhöht hätten, wurden die Ermittlungen nach dem Urteil eingestellt.
Die Dunkelziffer: Hunderte Erfahrungsberichte zeigen nur die Spitze des Eisberges
Um das tatsächliche Ausmaß und wiederkehrende Muster besser zu verstehen, haben CORRECTIV und 11FREUNDE eine Befragung zu Gewalterfahrungen im Jugendfußball durchgeführt. Über den CrowdNewsroom, einer von CORRECTIV entwickelten Online-Plattform, meldeten sich zwischen dem 25. März und dem 1. August 2025 knapp 500 Personen. Die Umfrage ist nicht repräsentativ, liefert jedoch Einblicke in das Ausmaß und die Formen der Gewalt im Fußball.
In den geschilderten Gewalterfahrungen lassen sich wiederkehrende Muster erkennen.
Die Betroffenen:
- Mehr als 100 Personen geben an, dass sie ihre ersten Gewalterfahrungen bereits im Kinderfußball (6-10 Jahre) erlebt haben.
- Es sind sowohl Mädchen als auch Jungen betroffen.
- Das Leistungslevel ist sehr unterschiedlich: Sie spielten für Amateurklubs, aber auch im professionellen Umfeld der Nachwuchsleistungszentren (NLZ).
- Die Taten reichen von den 1970er Jahren bis heute. Einige Befragte sind inzwischen im Rentenalter, andere erst 16 Jahre alt und schildern Vorfälle aus dem Jahr 2025.
- Zahlreiche Personen geben an, dass sie bis heute mit niemandem über ihre Erlebnisse gesprochen haben. Gründe dafür seien Drohungen, Schamgefühl, Angst oder die Sorge gewesen, als „schwach“ zu gelten.
Die Beschuldigten:
- In knapp 300 Fällen wurden Trainer als Beschuldigte genannt. Deutlich seltener ging es um Gewalt durch Mitspieler, Betreuer wie Physiotherapeuten oder Spielerberater.
- In 130 Fällen sollen sie sexualisierte Gewalt angewendet haben, rund 200 Fälle behandeln psychische Gewalt. Zudem werden Dutzende Fälle von körperlicher Gewalt geschildert.
- Als mutmaßliche Tatort wird am häufigsten das Vereinsgelände genannt, aber auch Trainingslager und Sauna spielen wiederkehrend eine Rolle.
Die Kinder- und Jugendspielerinnen berichteten von Gewalterfahrungen in Vereinen aus ganz Deutschland. In zahlreichen Fällen werden konkrete Klubs genannt, die von unseren Redaktionen den zugehörigen Regionen zugeordnet wurden. Auf der Deutschlandkarte ist sichtbar, woher diese Gewalterfahrungen stammen.
„Ein Mitspieler und ich waren bei unserem Trainer zu Besuch“, schreibt ein ehemaliger Jugendspieler aus Bayern, der damals unter 14 Jahre alt war. „Er suchte auch privat sehr oft den Kontakt zu den Spielern. An diesem Abend zeigte er uns einen Porno auf seinem Computer und schien sich sehr dafür zu interessieren, ob das Ansehen des Films bei mir zu einer Erektion führen würde.“
Eine damals minderjährige Amateurfußballerin berichtet über Erfahrungen, die sie vor wenigen Jahren in Sachsen sammelte: „Es waren Minusgrade. Alle Einwechselspielerinnen durften drinnen warten und mussten nur zum Spielen raus“, erinnert sie sich. Nur sie hätte die gesamte Spielzeit draußen auf die sehnlichst erhoffte Einwechslung warten müssen – sie kam nicht. „Habe mich so sehr unterkühlt, dass mich meine Mutter nach dem Spiel direkt ins Krankenhaus brachte. Meine Zehen wurden gerade noch vorm Absterben gerettet.“
Ein anderer Spieler berichtet über Erlebnisse bei einem Berliner Fußballverein in der F-Jugend um die Jahrtausendwende. Nach einer Verletzung habe ein Trainer darauf bestanden, den Jungen zu Hause zu behandeln. Dort sollte er sich nackt aufs Bett legen. „Als ich mit dem Bauch auf dem Bett lag, fing er an meine Beine zu massieren in Richtung des Gesäßes. Er wurde in dem Moment unterbrochen, als meine Oma ihn anrief und fragte, wo ich bleibe.“
Nur selten hatten die geschilderten Vorfälle strafrechtliche oder andere Konsequenzen. Mehrfach berichten Betroffene, dass Beschuldigte im Verein bleiben konnten oder einfach zu einem anderen Klub wechselten. In verschiedenen Antworten wird sichtbar, dass offenbar bei einigen Vereinen und Eltern eine Kultur des aktiven Wegschauens bestand und Autoritäten in Vereinen trotz massiver Vorwürfe keine Konsequenzen befürchten mussten.
Kooperation mit 11FREUNDE
Diese Recherche ist eine Kooperation zwischen CORRECTIV und 11FREUNDE, dem Magazin für Fußballkultur. Über Monate haben die Redaktionen gemeinsam mit weiteren Medien aus dem Netzwerk CORRECTIV.Lokal zu Gewalt und Übergriffen im Jugendfußball recherchiert. 11FREUNDE berichtet über die Ergebnisse online und veröffentlicht zudem eine Titelgeschichte im aktuellen Magazin.
Im März berichtete CORRECTIV über den Spielerberater N., der in über hundert Fällen minderjährige Fußballer im Intimbereich berührt haben soll. Auch hier wurde der beschuldigte Berater zunächst in Schutz genommen. Erst nach der Berichterstattung trennte sich die Fußballagentur von ihm und die Staatsanwaltschaft begann, nach Zeugen zu suchen.
Die DFB-Vizepräsidentin reagiert auf die Recherchen
Als es Ende 2024 um die Einführung eines verbindlichen Safe Sport Codes ging, war der DFB der einzige olympische Sportverband, der bremste. Der Code soll sexualisierte Gewalt unterhalb der Strafrechtsschwelle sanktionieren – etwa durch befristete Sperren, Platzverweise oder Lizenzentzug. Der DFB argumentierte, vor einer Abstimmung müsse erst eine finale Fassung vorliegen. Kritiker werfen ihm vor, damit auf Zeit zu spielen.
Inzwischen arbeitet der Verband an einer überarbeiteten Version mit – doch bis der Code flächendeckend im Sport gilt, dürften Jahre vergehen. Einige Vereine wie der 1. FC Nürnberg planen, den Kodex unabhängig vom DFB bereits in ihre Satzungen aufzunehmen.
Auf Anfrage von CORRECTIV und 11FREUNDE lud der DFB im September zu einem Hintergrundgespräch mit Funktionärinnen, die sich hauptamtlich mit Kinderschutz und interpersoneller Gewalt befassen. Die Antworten von DFB-Vizepräsidentin Silke Sinning auf Fragen beider Redaktionen zeigen: Der Verband will Verbesserungen – tut sich aber schwer mit tiefgreifenden Konsequenzen.
„Wir nehmen Ihre Recherche ernst“, sagt Sinning. Sie verweist auf Kampagnen, Fortbildungen, ein Hinweisgebersystem, Aufklärungsmaterialien und das sogenannte DFB-Punktespiel, das Vereine für Kinderschutzmaßnahmen belohnt. Seit 2023 können auch Verstöße gegen sexuelle Selbstbestimmung satzungsrechtlich geahndet werden.
Vereine verlangen kein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis
Doch es gibt strukturelle Probleme im Amateurfußball, die Tätern nützen. Eines betrifft Führungszeugnisse: Wer eine Trainerlizenz erwerben will, muss ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Doch das gilt nur für lizenzierte Trainer – und auch nur dann, wenn der Verein das aktiv einfordert. Viele Ehrenamtliche arbeiten ohne solche Nachweise.
Hinzu kommt: Innerhalb des Fußballsystems ist ein Informationsaustausch über Verdachtsfälle kaum möglich. „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen machen es derzeit nahezu unmöglich, Warnhinweise weiterzugeben“, sagt DFB-Vizepräsidentin Sinning. Das ist ein Grund, warum manche Täter über Jahre hinweg für unterschiedliche Vereine tätig sein konnten – und an mehreren Stationen übergriffig wurden.
Der DFB erfährt Namen über Vereine oder Landesverbände in der Regel nur, wenn ein „berechtigtes Interesse“ besteht – etwa bei der Entziehung einer Trainerlizenz. Doch selbst in solchen Fällen darf der Verband keine anderen Vereine warnen. Sinning sagt deshalb: „Der Datenschutz wird de facto zum Täterschutz und erschwert den Opferschutz gravierend.“
Den Vorwurf, der Fußball hinke beim Thema sexualisierte Gewalt hinterher, weist Sinning zurück: „Der Fußball ist keine Parallelgesellschaft, sondern ein Spiegel der Gesellschaft.“
Aufarbeitungskommission fordert Aufarbeitung der Missbrauchsfälle
Doch genau das bezweifelt die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. In einer Fallstudie hatte sie bereits auf den hohen Anteil von Betroffenen im Fußball hingewiesen – gleich nach dem Turnen. Auch der DFB beteiligte sich damals mit einem Aufruf an Betroffene, doch dabei blieb es. Sinning sieht für eine gezielte Aufarbeitung keinen Anlass: „Missbrauchsbekämpfung wird nicht dringlich, wenn wir wissen, wie hoch die Dunkelziffer ist. Sie ist es schon jetzt.“
Die Kommission widerspricht. „Wir gehen davon aus, dass Ihre Recherchen nur die Spitze des Eisbergs zeigen“, sagt Julia Gebrande, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission zu CORRECTIV und 11FREUNDE. „Daher halten wir weitere Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – auch im Tatkontext Fußball – für sinnvoll und notwendig.“
Zudem brauche es verbindliche Eingriffsmöglichkeiten für unabhängige Stellen. Bislang können diese nur um Untersuchungen und Sanktionen bitten, sie aber nicht anordnen. Immer wieder würden Aufarbeitungsprozesse im Sport „verhindert, verschleppt oder bagatellisiert“, sagt Gebrande.
Nach öffentlich bekannt gewordenen Fällen im Schwimmen, Tennis, Handball oder Turnen wurden Aufarbeitungskommissionen eingesetzt. Doch eine gezielte Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der liebsten Sportart der Deutschen fehlt bis heute.
Sie haben Hinweise?
Hier wird erklärt, wie Sie CORRECTIV vertraulich und sicher Informationen zukommen lassen können. Sie entscheiden, welchen Kontaktweg Sie nutzen. Ein Weg für besonders sensible Hinweise ist der anonyme Briefkasten. Zudem können Sie Autor Finn Schöneck direkt kontaktieren im Signal-Messenger oder per E-Mail an finn.schoeneck@correctiv.org.
Das Team hinter der Recherche
Recherche: Robin Albers, Miriam Lenz, Jonathan Sachse, Finn Schöneck
Redigat: Frida Thurm
Faktencheck: Pia Siber
Illustration: Mohamed Anwar
Kommunikation: Esther Ecke
Social: Ismahan Azzaitouni, Katharina Roche
11FREUNDE: Mia Guethe, Charlotte Hermel, Tim Pommerenke