Unnötig abgerissen, Klimaziele verfehlt?
„Bauen, bauen, bauen“ lautet das Credo der Bundesregierung, um mehr Wohnraum zu schaffen. Doch wo neue Häuser entstehen, wird zuvor oft bestehender Wohnraum abgerissen. Beides heizt die Klimakrise an. In Freiburg fordern Mieterinnen und Mieter eine Alternative.

Die Sonne heizt den Freiburger Ortsteil Waldsee auf. Doch in der Wohnung von Maria Vollmer und Urs Egger bleibt es angenehm kühl. Die beiden haben die roten Fensterläden geschlossen, die Wohnung ist luftig und geräumig, das Esszimmer ziert Fischgrätparkett. Aus dem Garten mit seinen alten, schattenspendenden Bäumen blicken sie auf die Ausläufer des Schwarzwaldes.
„Wir fühlen uns hier sehr wohl“, sagt Maria Vollmer. Seit 27 Jahren wohnt sie hier mit ihrem Mann. Ihre drei Kinder sind in dieser Wohnung aufgewachsen, heute sind die Enkel häufig zu Besuch. Das Paar hatte geplant, auch den Ruhestand in dieser Wohnung zu verbringen. Umso unverständlicher ist für sie, dass ihr Haus bald abgerissen werden soll, ebenso die beiden baugleichen Nachbarhäuser. Nach dem Abriss sollen genau an dieser Stelle drei neue Häuser gebaut werden.

Im Jahr 1953 wurden die drei Gebäude in der August-Ganther-Straße 5, 7 und 9 gebaut. Ursprünglich dienten sie als Unterkünfte für Offiziere der französischen Armee. Nach dem Abzug der Franzosen übernahm die Bundesrepublik Deutschland die Häuser.
Verwaltet werden sie heute von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA). Deutschlandweit hat die Behörde nach eigenen Angaben über 38.000 Wohnungen in ihrem Portfolio. Die BImA untersteht dem Bundesfinanzministerium und soll bezahlbaren Wohnraum vor allem für Staatsbedienstete schaffen.
Betroffene des Abrisses: Sorge um den Klimaschutz
So kam Maria Vollmer als inzwischen pensionierte Lehrerin einst an eine der Wohnungen. Nun wehrt sie sich gemeinsam mit ihrem Mann sowie weiteren betroffenen Mieterinnen und Mietern gegen den geplanten Abriss. Sie sagt: „Uns geht es ums Prinzip.“
Ihr Hauptanliegen dabei: Klimaschutz. In den Vorgärten haben sie Protestschilder aufgestellt. Auf einem Banner über ihrer Haustür steht: Klimaneutralität sei „nicht durch Abriss und Neubau“, sondern „nur durch Sanierung und Ausbau“ erreichbar.

Der geplante Abriss in Freiburg steht stellvertretend für eine Frage, die sich an vielen Orten immer drängender stellt: Wie lassen sich bezahlbares Wohnen und Klimaschutz vereinbaren?
Das Credo „Bauen, bauen, bauen“ als Lösung?
Bundesweit fehlen rund 550.000 Wohnungen, so das Ergebnis einer Studie im Auftrag des Bündnisses Soziales Wohnen. Besonders in Ballungszentren ist bezahlbarer Wohnraum knapp.
Bundeskanzler Friedrich Merz rief in seiner ersten Regierungserklärung eine vermeintlich einfache Lösung aus: „Bauen, bauen, bauen“.
Die Baubranche trägt dieses Credo bereits seit Langem mantraartig vor – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Im vergangenen Jahr wurden weniger neue Wohnungen gebaut als im Vorjahr.
Und wo neuer Wohnraum entsteht, ist dieser für viele Menschen oft unbezahlbar. Das gilt in vielen Fällen auch für sogenannte Ersatzneubauten, wenn also Häuser abgerissen und an selber Stelle neue gebaut werden.
Die Vorgabe „Bauen, bauen, bauen“ sei „erwiesenermaßen keine Lösung für die Wohnungskrise“, kritisiert Leon Beck, Vorstandsvorsitzender der Architects For Future. Statt Neubauten müssten „Bestandssanierung und Umbau von Gebäuden“ priorisiert „und Gebäudeabrisse zur Ausnahme werden“.
Demolition Atlas Europe: Unsere Recherchen zum Thema Abriss
In einem offenen Brief an die damalige Bundesbauministerin Klara Geywitz forderte der Verein Architects For Future (A4F) gemeinsam mit weiteren Organisationen schon 2022 ein „Abriss-Moratorium“ – also einen Stopp oder Aufschub für Abrisse.
Begründung: „Die beiden zentralen baupolitischen Zielsetzungen widersprechen sich diametral, solange die aktuelle Praxis von Abriss und Neubau beibehalten wird.“ Es sei unmöglich, pro Jahr 400.000 neuen Wohnungen zu bauen und gleichzeitig bis 2045 CO2-neutral zu werden.
Deutschlandweit jährlich 3,3 Millionen Tonnen CO2-Emissionen durch Abriss und Neubau
Denn die Baubranche setzt riesige Mengen Treibhausgase frei, insbesondere die energieintensive Produktion von Stahl, Beton und anderen Baumaterialien. Das heizt die Klimakrise weiter an.
Die Deutsche Umwelthilfe schätzt, dass durch Abriss und Neubau in Deutschland jährlich 3,3 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen werden. Durch Sanierungen ließe sich ein Drittel dieser klimaschädlichen Emissionen einsparen.

Aus Sicht des Klimaschutzes gilt also: Angemessene Sanierung schlägt Neubau. Zu diesem Ergebnis kam auch eine Studie des Wuppertal Instituts.
Demnach verursacht ein energetisch saniertes Einfamilienhaus je nach Sanierungsstand über seine gesamte Lebensdauer betrachtet nur halb so viel klimaschädliche Emissionen wie ein Neubau. „Energetisch saniert“ bedeutet: Das Haus wurde so modernisiert, dass es weniger Energie verbraucht – zum Beispiel durch bessere Dämmung, neue Fenster, effizientere Heizungsanlagen und dergleichen.
„Es wäre eine Schande, diese Häuser abzureißen.“
Willi Sutter, „Altbauretter“ und Projektentwickler
Auf Sanierung statt Neubau setzen auch Maria Vollmer und die anderen Mieterinnen und Mieter, die in Freiburg für den Erhalt ihrer Häuser protestieren. Dafür haben sie den Projektentwickler Willi Sutter hinzugezogen.
Seit vierzig Jahren hat Sutter sich auf die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude und historischer Bauwerke spezialisiert – was ihm den Spitznamen „Altbauretter“ eingebracht hat.

Gegenüber CORRECTIV sagt Sutter über die drei Häuser in der August-Ganther-Straße: „Es wäre eine Schande, diese Häuser abzureißen.“ Sutter ist überzeugt, dass sich alle drei Gebäude im Bestand sanieren ließen.
Das sieht die BImA, die die Häuser verwaltet, anders: Zwar seien in den vergangenen Jahren einzelne Wohnungen und Bäder saniert worden und auf den Dächern erzeugen PV-Module Strom. Dennoch entsprächen die drei Gebäude insgesamt „bei weitem nicht den heutigen Standards“, so die BImA auf Anfrage von CORRECTIV.
„Unsere Wirtschaftlichkeitsuntersuchung zeigt auf, dass die Variante ,Sanierung im Bestand‘ sich als deutlich unwirtschaftlicher darstellt als die Variante ,Rückbau und Neubau‘.“
Durch die drei geplanten Neubauten entstünden im Vergleich zu den bestehenden Häusern „circa 20 zusätzliche Wohnungen beziehungsweise 1.000 Quadratmeter Wohnfläche“.
„Altbauretter“ vs. Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
Architekt Willi Sutter hat einen Entwurf für eine Umbauvariante vorgelegt, mit der sich die Häuser nicht nur retten ließen – sondern, wie nach den Plänen der BImA, sogar zusätzlicher Wohnraum entstünde: Die Dachgeschosse könnten ausgebaut und die bisherigen Garagen aufgestockt und ebenfalls zu Wohnzwecken umgenutzt werden – und das zu einem Preis, der günstiger sei als Abriss und Neubau.
Die BImA behauptet, eine Aufstockung und Umnutzung der Garagen sei „aus baurechtlichen Gründen nicht umsetzbar“. Das Vorhaben der BImA hingegen sei „grundsätzlich genehmigungsfähig“, bestätigt die Stadt Freiburg auf Anfrage von CORRECTIV.
Was bringt der „Bau-Turbo“?
Die Bundesregierung will den sogenannten „Bau-Turbo“ verabschieden. Diese vorübergehende Änderung des Baugesetzbuches soll unter anderem Genehmigungsverfahren vereinfachen, um so den Wohnungsbau anzukurbeln.
Kommunen könnten etwa von den Vorschriften des Planungsrechts abweichen, um Bebauungspläne zu ändern. „Beispielsweise können ein Haus oder ein ganzer Straßenzug nun über die vom Bebauungsplan vorgegebenen Maße hinaus aufgestockt werden, ohne dass der Plan zuvor geändert werden müsste“, heißt es auf der Webseite des Bundesbauministeriums.
Während die Baubranche die geplanten Maßnahmen der Regierung begrüßt, kommt von anderer Seite Kritik. So sagt Leon Beck von Architects for Future: „Wir brauchen schnelleren Wohnungsbau – aber nicht um jeden Preis.“
In einer Stellungnahme zum Bau-Turbo schreibt er, dass die geplante Gesetzesänderung die deutschen Klimaschutzziele gefährde: „Die vorgesehenen Regelungen fördern Abriss und Neubau, obwohl der Erhalt und die Transformation des Bestands klimapolitisch dringend notwendig wären.“ Architects For Future und die Deutsche Umwelthilfe fordern deshalb statt eines „Bau-Turbos“ vielmehr einen „Umbau-Turbo“.
Für Maria Vollmer und ihre Mitstreiter steht im Vordergrund: Ist der geplante Abriss und Neubau aus Sicht des Klimaschutzes vertretbar?
Um dieser Frage Nachdruck zu verleihen, haben sie Wilhelm Stahl engagiert, einen Experten für Gebäudeenergieeffizienz. Stahl kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Laut seiner Berechnung würden durch den geplanten Abriss und Neubau der drei Wohnhäuser rund 700 Tonnen mehr CO2 freigesetzt als im Falle einer Sanierung und Aufstockung. „Damit könnte man die Gebäude 50 bis 80 Jahre lang heizen“, veranschaulicht Stahl.
Wie klimatauglich sind Abriss und Neubau?
Die BImA selbst hatte in den vergangenen Monaten beteuert, die Behörde habe bei der Abwägung zwischen Neubau oder Sanierung auch die Klimabilanz ihres Vorhabens berücksichtigt. Doch auf Anfrage von CORRECTIV teilt die Behörde nun mit: „Eine CO2-Bilanzierung liegt nicht vor.“
Wilhelm Stahl kritisiert das deutlich. In einem Brief, der CORRECTIV vorliegt, wendet er sich an den Vorstand der BImA. Darin schreibt er: „Es ist unverantwortlich, wie Sie gegenüber der Öffentlichkeit und den gesetzlichen Vorgaben Ihrer Vorgesetzten zur Klimaneutralität mit unwahren Behauptungen weiterhin den Abriss + Neubau der Häuser in der August-Ganther-Straße 5-9 planen.“

Berechnung zeigt: 55.000 Tonnen CO2 in Freiburg durch Abriss und Neubau freigesetzt
Wilhelm Stahl hat seine Berechnungen auf die gesamte Stadt ausgeweitet. Demnach sollen in Freiburg in den vergangenen Jahren durch den Abriss und Neubau von 36 Gebäuden insgesamt 55.000 Tonnen CO2 freigesetzt worden sein.
Dem gegenüber stehen laut Stahl etwa 19.000 Tonnen CO2, die durch Sanierungsmaßnahmen in Freiburger Haushalten eingespart wurden – da etwa dank verbesserter Isolierung entsprechend weniger geheizt wurde.
Auch bei diesem Vergleich sei das Ergebnis eindeutig, so Stahl: „Die Emissionen durch Abriss und Neubau sind deutlich höher.“
Dazu trägt auch die Stadt Freiburg selbst bei: Im Ortsteil Metzgergrün etwa reißt eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft ein altes Arbeiterviertel mit sehr günstigen Mieten ab, um es durch Neubauten zu ersetzen.
Ähnliches passiert auch an vielen anderen Orten in Deutschland, wie eine Recherche von CORRECTIV zeigt.
Das Neubauprojekt im Quartier Metzgergrün wurde 2023 von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen mit einem „Nachhaltigkeitszertifikat in Platin“ ausgezeichnet. Das Freiburger Netzwerk „Recht auf Stadt“ hingegen bezeichnete die Auszeichnung als „eine einzige Täuschung, in ökologischer, insbesondere aber auch sozialer Hinsicht“.

Der klimaschädliche Abriss passt nicht zum Image der Stadt. Denn Freiburg hat sich besonders ehrgeizige Klimaziele gesetzt: Als eine der ersten Kommunen in Deutschland will Freiburg bereits 2035 CO2-neutral sein.
Ehrgeizige Klimaziele in Freiburg – verfehlt?
In einem Brief unter dem Titel „Graue Energie vermeiden – Pilotprojekt für nachhaltige Stadtentwicklung in der August-Ganther-Straße anstoßen“ haben sich Stadtratsabgeordnete mehrerer Parteien an die Stadt gewandt. Darunter der Grünen-Sprecher Timothy Simms. Im Schreiben heißt es:
„Viel zu schnell wird auf Abriss und Neubau gesetzt,
statt ernsthaft Alternativen zu prüfen.“
Timothy Simms, Sprecher für Bauen und Wohnen, Grüne Freiburg
Weiter schreiben die Abgeordneten: „Für die August-Ganther-Straße wurde gezeigt, dass Bestandserweiterungen und Sanierung sich ökologisch und ökonomisch rechnet – die BIMA vergibt hier eine Chance.“
Auch bei Gebäuden kommt es auf die inneren Werte an
Die Stadt Freiburg antwortet auf Anfrage von CORRECTIV, sie könne das Vorhaben der BImA „in seinen Grundzügen nachvollziehen“.
Der Bürgermeister wandte sich zwar in einem Brief an die BImA und bat um eine Überprüfung des geplanten Abrisses, „die letzte Verantwortung“ trage jedoch die BImA „als Eigentümer und Projektverantwortlicher“.
Auch die Stadt verweist auf einen Spagat zwischen Klimaschutz und Wohnpolitik: Durch das Vorhaben der BImA, so eine Pressesprecherin, solle „bezahlbarer, zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden. Dem gegenüber steht das Argument der grauen Energie. Daher bedarf es einer Abwägung der Themen“.
Der Begriff „graue Energie“ bezeichnet den gesamten Energieaufwand, der bei der Herstellung, dem Transport und der Lagerung von Baustoffen wie Stahl und Zement sowie beim Bau eines Gebäudes anfällt. All diese bereits aufgewendete Energie geht gewissermaßen verloren, wenn ein Gebäude abgerissen wird – beim Neubau entstehen dann nochmals zusätzliche Emissionen.
„Wir brauchen eine neue Umbau-Kultur“
Bisher werde die graue Energie bei vielen Wohngebäuden vernachlässigt, so das Ergebnis einer Untersuchung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung.

Das erkennen auch immer mehr Kommunen. Das Amt für Bau und Immobilien der Stadt Frankfurt etwa schreibt: Allein im Skelett eines Gebäudes, also im Rohbau aus Wänden und Decken, stecke „rund 80 Prozent der CO2-Emissionen des Bauens“, weshalb „eine Komplettentkernung und -sanierung nur ein Fünftel der CO2-Emissionen eines Neubaus verursacht“.
Bauingenieurin Lamia Messari-Becker spricht deshalb lieber von „goldener“ statt grauer Energie, die es zu erhalten gelte. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin an der Universität Siegen saß sie bis zum Jahr 2020 im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, anschließend arbeitete sie als Staatssekretärin im hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr, Wohnen und ländlichen Raum. Heute lehrt sie als Professorin für Energieeffiziente Gebäudetechnik am Karlsruher Institut für Technologie. Außerdem ist sie Mitglied im Club of Rome.
„Im Bestand liegt immer auch eine Chance.“
Lamia Messari-Becker, Professorin für Energieeffiziente Gebäudetechnik
Und auch sie kritisiert im Interview mit CORRECTIV, dass deutschlandweit zu viele Gebäude ohne ernsthafte Abwägung abgerissen und durch Neubauten ersetzt würden. Sie ist überzeugt: „Im Bestand liegt immer auch eine Chance“. Die Schwäche der Energie- und Klimapolitik sei, dass sie „Bestand und Neubau nicht zusammendenkt.“ Deshalb fordert Messari-Becker: „Wir brauchen eine neue Umbaukultur.“
Die drei Häuser in der August-Ganther-Straße sollen indes im kommenden Jahr abgerissen werden. Die BImA hat die Mietverträge bereits aufgekündigt. Die protestierenden Mieterinnen und Mieter um Maria Vollmer und Urs Egger prüfen, ob sie gegen die Kündigung vor Gericht vorgehen werden.
Text & Recherche: Marius Münstermann
Redaktion: Samira Joy Frauwallner
Faktencheck: Samira Joy Frauwallner
Fotos: Marius MünstermannDiese Recherche wurde unterstützt durch Journalismfund Europe