Bundesrechnungshof

Bundesrechnungshof rügt Gesundheitsministerium wegen fehlender Nachweise

Unter Ex-Gesundheitsminister Spahn flossen Milliarden in digitale Projekte. Der Bundesrechnungshof erhebt Vorwürfe wegen fehlender Kontrolle und mangelnder Nachweise.

von Shammi Haque

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Collage: CORRECTIV (Foto:Jens Krick/picture alliance / Flashpic)

Als Jens Spahn (CDU/CSU) Gesundheitsminister war, stieg der Bund bei der Gematik GmbH ein – der Firma, die zentrale Digitalprojekte wie das E-Rezept oder die elektronische Patientenakte steuert. Kurz darauf übernahm Spahns Vertrauter Markus Leyck Dieken die Geschäftsführung.

Der Bundesrechnungshof (BRH) prüfte daraufhin die Rolle des Gesundheitsministeriums. Der Bericht, der CORRECTIV exklusiv vorliegt, enthält Vorwürfe – unter anderem, dass milliardenschwere Projekte ohne ausreichende Wirtschaftlichkeitsprüfungen gestartet wurden.

Das Finanzministerium kann nur kontrollieren, wenn das Gesundheitsministerium das vorgeschriebene Prüfverfahren nach Haushaltsrecht korrekt durchführt:

„Sie [Bundesgesundheitsministerium] haben gegen diese Vorgaben verstoßen. Dadurch konnte das BMF [Finanzministerium] die Einhaltung der Voraussetzungen der Beteiligung des Bundes an der Gematik sowie die konkrete Umsetzung durch Schaffung und Gestaltung der privatrechtlichen Grundlagen für die Bundesbeteiligung nicht überprüfen“, heißt es im Bericht.

Was genau kritisiert der Bericht?

Der Bundesrechnungshof wirft dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor, seine Rolle als Mehrheitseigner der Gematik nicht ausreichend wahrgenommen zu haben. Der BRH kritisiert gleich mehrere Ebenen, dass das Ministerium seine Rolle gegenüber den Tätigkeiten der Gematik nur unzureichend erfüllt habe.

  • Keine Wirtschaftlichkeitsprüfungen: Beim Einstieg in die Gematik übersprang das Ministerium ein vorgeschriebenes Verfahren. Dadurch wurde nicht ordentlich geprüft, ob sich der Einsatz wirklich lohnt.
  • Aufsichtsrat versäumt: Das Finanzministerium verlangte schon 2019, dass die Gematik innerhalb von zwei Jahren einen Aufsichtsrat einrichtet – also ein Kontrollgremium, das die Geschäftsführung überwacht. Doch bis 2024 wurde das nicht umgesetzt.

Im Bericht heißt es: „Sie haben die Auflage des BMF, durch die Neufassung des Gesellschaftsvertrags innerhalb von zwei Jahren einen Aufsichtsrat bei der Gematik einzurichten, nicht erfüllt. Es ist nicht nachvollziehbar gewesen, warum die Einrichtung bzw. (…).(geschwärzt). In den Beteiligungsberichten des Bundes mehrfach thematisiert wurde, von Ihnen (…) (geschwärzt) jedoch letztendlich nicht weiterverfolgt wurde.“

  • Schwache Kontrolle: Obwohl der Bund die Mehrheit an der Gematik hält, hatte er im wichtigsten Gremium, dem Verwaltungsausschuss, keinen klaren Einfluss. Dort mussten Beschlüsse einstimmig gefasst werden. „Dies schmälert den Bundeseinfluss (…) und führt zu zeitlichen Verzögerungen“, heißt es im Bericht.
  • Geschäftsführung ohne ausreichende Regeln: Bis 2024 gab es nur einen einzigen Geschäftsführer. Es gab keine Geschäftsordnung und kein sogenanntes Vier-Augen-Prinzip – also die Pflicht, dass wichtige Entscheidungen von mindestens zwei Personen kontrolliert werden. Vorgaben, zwei Geschäftsführer einzusetzen, wurden laut Bericht ignoriert.
  • Unklare Gehälter: Bei den Gehältern der Führung gibt es laut Bericht Widersprüche. Die tatsächlich gezahlten Bonuszahlungen seien nicht vollständig offengelegt worden. „Die Gematik und Sie wiesen den variablen Vergütungsbestandteil in diesen Berichten für die Jahre 2019 bis 2022 nicht in der jeweils tatsächlich gezahlten Höhe aus“, heißt es. „Der tatsächlich gezahlte Betrag und der Ausweis im Corporate Governance Bericht der Gematik und im Beteiligungsbericht wichen teilweise voneinander ab.“
  • Keine klaren Ziele: Das Ministerium hat für die Gematik keine messbaren Ziele festgelegt. Dadurch gab es keine echte Erfolgskontrolle – vieles wurde erst im Nachhinein bewertet.

Finanzen in Zahlen

Der Bericht liegt nur in geschwärzter Form vor, deshalb fehlen einige Details. Was bekannt ist:

  • Seit dem Jahr 2019 hält der Bund 51 Prozent der Anteile.
  • Ende 2023 hatte die Gematik rund 440 Beschäftigte, geplant sind bald über 500. Ab dieser Größe wäre ein Aufsichtsrat Pflicht.
  • Die Gematik schreibt seit Jahren hohe Verluste:
    • 2021: –87,8 Millionen Euro
    • 2022: –87,1 Millionen Euro
    • 2023: –95,5 Millionen Euro
  • Ende 2023 hatten sich die Gesamtverluste auf 874 Millionen Euro summiert.

Was ist der Bundesrechnungshof?

Der Bundesrechnungshof (BRH) ist die oberste unabhängige Kontrollbehörde für die Finanzen des Bundes. Er prüft, wie Ministerien, Behörden und staatliche Unternehmen mit Steuergeldern umgehen. Seine Aufgabe: sicherstellen, dass das Geld sparsam, wirksam und nach Recht und Gesetz eingesetzt wird. Wenn der BRH Missstände findet, veröffentlicht er Berichte und macht Vorschläge zur Verbesserung. Aber der BRH kann selbst keine Maßnahmen durchsetzen, sondern nur Empfehlungen geben.

Diese Prüfung umfasst den Zeitraum 2019 bis 2022, teilweise auch 2023 – also Jahre, in denen zuerst Jens Spahn und später Karl Lauterbach (SPD) Gesundheitsminister waren.

Besonders im Fokus: der Einstieg des Bundes mit einer Mehrheit von 51 Prozent bei der Gematik im Jahr 2019. Das bedeutet: Seitdem gehört dem Staat mehr als die Hälfte der Anteile – und das Gesundheitsministerium trägt die Hauptverantwortung für die Arbeit.

Hier können Sie den geschwärzten Bericht des Bundesrechnungshofs lesen:

Keine Auskunft von Spahn

Ein Großteil der Kritik des Bundesrechnungshofs betrifft die Jahre 2019 bis 2021 – also genau die Zeit, in der Jens Spahn (CDU) Gesundheitsminister war und der Bund die Mehrheit an der Gematik übernahm.

Auf Anfrage von CORRECTIV teilt ein Sprecher des Ministeriums jedoch mit, dass Spahn den Bericht nicht kenne und er deshalb keinen Kommentar abgeben könne.

Wörtlich heißt es: „Die Übernahme der Mehrheitsanteile an der Gematik wurde seinerzeit gesetzlich geregelt und somit von einer von Union und SPD getragenen Mehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen. (…) Die von Ihnen erwähnte Prüfmitteilung liegt Herrn Spahn nicht vor, daher kann er zu Inhalten dieser Mitteilung nicht Stellung nehmen.“

In seiner Stellungnahme hebt das BMG im Bericht die Bedeutung der Erfolgskontrolle als wesentliche Aufgabe hervor. Es habe zugesichert, künftig verstärkt auf eine den Richtlinien entsprechende Erfolgskontrolle hinzuwirken und in seinen Berichten vertieft darauf einzugehen. Außerdem stellt das Ministerium eine stärkere Ausrichtung an den gesetzlichen Fristen in Aussicht.

Das Ministerium war demnach in den Prüfprozess des Rechnungshofes einbezogen – auch während der Amtszeit von Jens Spahn.

Alle verweisen auf das Gesundheitsministerium

Auch andere Stellen reagieren ausweichend – oder verweisen auf das Gesundheitsministerium. Das Finanzministerium betont auf CORRECTIV-Anfrage das „Ressortprinzip“, das besagt: Jedes Bundesministerium leitet seinen Geschäftsbereich eigenverantwortlich.

In der Antwort heißt es: „Die abschließende Mitteilung des Bundesrechnungshofes über die Prüfung (…) richtet sich an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Wie im Bericht ausgeführt, nimmt das Bundesministerium für Gesundheit als Beteiligungsführer für den Bund die Eigentümerfunktion der gematik GmbH wahr.“

Auch die Gematik selbst lehnt eine Stellungnahme ab. Auf CORRECTIV-Anfrage erklärte eine Sprecherin: „Die Gematik ist nicht Adressat der Rechnungshofmitteilung und auch nicht auf offiziellem Wege darüber in Kenntnis gesetzt worden. Daher werden wir sie auch nicht kommentieren.“

In einer weiteren Antwort betonte die Gematik: „Die von Ihnen zitierte Mitteilung des Bundesrechnungshofes bezieht sich auf die Betätigung des Bundes an einer in privater Rechtsform organisierten Gesellschaft.

Gegenstand der Prüfung ist dementsprechend die Beteiligungsführung des Bundes als Gesellschafter der Gematik GmbH. Die Beteiligungsführung obliegt dem verantwortlichen Bundesressort, dem Bundesgesundheitsministerium, und nicht der gematik GmbH selbst.“

In jeder Abschlussmitteilung des Bundesrechnungshofs gibt es auch die Stellungnahme des geprüften Ressorts – so auch hier vom Bundesgesundheitsministerium (BMG). Auf Anfragen von CORRECTIV verwies das Ministerium zunächst darauf, man wolle „möglichst zeitnah“ antworten, versprechen könne man allerdings nichts. Inzwischen liegt ein kurzes Statement vor.

Wie reagiert das Gesundheitsministerium?

Eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums teilte auf Anfrage von CORRECTIV mit: „Wir teilen die Aussage nicht, dass das Bundesministerium für Gesundheit seine Rolle als Mehrheitsgesellschafter nicht ausreichend wahrgenommen hat. Seit dem Einstieg des Bundes als Mehrheitsgesellschafter sind verschiedene maßgebliche digitale Gesundheitsanwendungen in der Versorgung angekommen, z. B. das E-Rezept und die elektronische Patientenakte.“

Außerdem verweist das Ministerium darauf, dass die Geschäftsführung inzwischen aus drei Personen besteht und Entscheidungsstrukturen überarbeitet worden seien. Unklarheiten bei der variablen Vergütung seien bereits berichtigt worden.

Auch Karl Lauterbach (SPD) hat auf die CORRECTIV-Anfrage bislang nicht reagiert. Lauterbach hatte das Amt im Dezember 2021 von Jens Spahn übernommen, seine Amtszeit liegt ebenfalls im Prüfzeitraum des BRH. Damit nimmt auch er zu den Vorwürfen keine Stellung.

Der Bundesrechnungshof bezieht ausdrücklich auch die Jahre 2022 und vereinzelt 2023 in seine Prüfung ein – also eine Zeit, in der Lauterbach verantwortlich war. Seine Sichtweise dazu wäre daher für die Bewertung der Kritik von besonderer Bedeutung.

Linke fordert Aufklärung und Konsequenzen

Ateş Gürpınar kritisiert den Umgang des Bundesgesundheitsministeriums scharf. Gürpınar ist Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestags und Sprecher für Gesundheitsökonomie der Fraktion Die Linke im Bundestag.

„Bei einem ist sich das BMG treu“, schreibt er auf Anfrage von CORRECTIV – „natürlich fällt auch hier wieder der Name Jens Spahn: Intransparenter Umgang mit Versicherungsbeiträgen und Steuergeldern.“ Es reiche nicht, dass die Gematik dem Gesundheitssystem eine „vollkommen unbrauchbare Infrastruktur bietet, die Beschäftigte, Patientinnen und Datenschützerinnen regelmäßig verzweifeln lässt“. Nun offenbare sich auch noch, dass „intern bei der Kontrolle geschlampt wurde. Das Erschreckende daran: Das überrascht nicht mehr.“

Gürpınar stellt die Frage, warum Jens Spahn die Bundesmehrheit an der Gematik überhaupt so vehement durchgesetzt habe, „wenn er daraus nicht die Konsequenz ableitet, den Betrieb, der so einen großen Einfluss auf die Gesundheitsinfrastruktur hat, auch bestmöglich nutzen zu wollen und dies durch den Bund kontrollieren zu lassen“.

Er fordert, dass die Kontrollgremien wie ein Aufsichtsrat endlich eingerichtet werden, um mehr Transparenz und Verantwortung zu sichern. „Warum stellt sich das Gesundheitsministerium hier gegen Forderungen aus dem Finanzministerium?“, fragt er. „Ich wünsche mir einen offenen Umgang mit den Geldern der Versicherten, der weit über das hinausgeht, was bisher passiert ist. Umso schlimmer, dass nicht mal das absolute Minimum eingehalten wurde.“

„Bericht gehört ungeschwärzt auf den Tisch“

Auch von den Grünen wird der Umgang des Ministeriums scharf beanstandet. Paula Piechotta, Ärztin und Bundestagsabgeordnete, sagt: Der Bericht des Bundesrechnungshofes zeige, dass das Ministerium beim Einsatz von Milliarden Steuergeldern gegen den Willen des Finanzministeriums „die Zügel der Kontrolle bewusst schlaff geführt“ habe. Aufsicht und Erfolgskontrolle seien – wie schon unter Jens Spahn – nicht konsequent umgesetzt worden.

Besonders kritisiert Piechotta, dass der Bericht bislang nicht vollständig veröffentlicht wurde: „Er gehört ungeschwärzt auf den Tisch des Bundestages. Der Fall gematik ist ein weiteres Beispiel für fehlende Transparenz und Kontrolle im BMG. Ein BMG, dass das Parlament nicht vollständig informiert und damit seine Kontrollrechte untergräbt, das ist ein Problem für die Demokratie.“.

Die Gematik finanziert sich fast ausschließlich aus den Beiträgen der gesetzlich Versicherten. Nur in Ausnahmefällen, wie beim Corona-Meldesystem DEMIS, flossen direkte Steuermittel.

Doch die Gesellschaft schreibt seit Jahren rote Zahlen: Insgesamt türmten sich die Verluste bis Ende 2023 auf rund 874 Millionen Euro.

Der Bundesrechnungshof warnt deshalb eindringlich: „Unsere Prüfungsfeststellungen zeigen, dass Sie Ihrer Verantwortung im Rahmen Ihrer Beteiligungsführung mehrfach nur unzureichend nachgekommen sind. Sie haben in Ihrer Stellungnahme zugesagt, unsere Empfehlungen weitgehend umzusetzen.“

Offen bleibt, ob die Bundesregierung die Empfehlungen – etwa die Einrichtung eines Aufsichtsrats oder eine verbindliche Erfolgskontrolle – nun endlich umsetzt.

Redaktion: Justus von Daniels
Redigat und Faktencheck: Samira Joy Frauwallner