Politik

Bürgergeld wird Grundsicherung – und Politiker teilen alte Mär von „Arbeit muss sich lohnen“

Nachdem die Koalition Details dazu ankündigte, wie sie das Bürgergeld zur Grundsicherung umbauen will, jubelten manche online: Arbeit und Leistung lohne sich endlich wieder. Doch das war auch schon vor der Reform so.

von Gabriele Scherndl

koalitionsaussschuss-Stefan Boness : Ipon : Picture Alliance
CSU-Chef Markus Söder, Bundeskanzler Friedrich Merz, Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (v.l.n.r.) nach dem Koalitionsausschuss am 9. Oktober 2025 (Quelle: Stefan Boness / Ipon / Picture Alliance)

Ein menschenwürdiges Existenzminimum ist in Deutschland ein Grundrecht. Es muss jenen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen decken können, ein Mindestmaß an politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen. Das gerät immer wieder aus dem Blick, wenn Politikerinnen und Politiker Bürgergeldbeziehende als faul oder verantwortungslos dargestellen.

Am 9. Oktober einigte sich der Koalitionsausschuss aus CDU, CSU und SPD auf Details zur sogenannten Neuen Grundsicherung, sie soll das Bürgergeld ablösen. Prompt behaupteten zahlreiche Politikerinnen und Politikern, jetzt lohne sich Arbeiten wieder. „Endlich gilt wieder: Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet“, sagte etwa CSU-Chef Markus Söder nach der Einigung. „In Zukunft gilt wieder in Deutschland: Leistung lohnt sich“, schrieb Christoph Ploß, Bundestagsabgeordneter der CDU.

Auch wenn derartige Aussagen einen anderen Eindruck erwecken: An der Höhe der Unterstützungsleistungen für Arbeitslose ändert sich durch die angekündigte Reform nichts – der Regelsatz bleibt bei maximal 563 Euro. Was sich ändern soll, sind die Sanktionen. Sie werden schärfer, etwa wenn Menschen Termine nicht wahrnehmen oder nicht genug daran mitwirken, eine Arbeit zu finden, wie die Koalitionsparteien mitteilten.

Arbeiten lohnt sich immer – daran rüttelt kein Rechenbeispiel

Lohnt sich Arbeit dann künftig wieder mehr? Vor der Reform gilt genauso wie danach: Wer arbeitet, hat immer mehr als diejenigen, die auf das Bürgergeld beziehungsweise die Grundsicherung angewiesen sind. Das zeigen etwa eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus Februar 2025, eine Arbeit des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (Ifo) aus Januar 2024 und eine Analyse des WDR-Monitors aus September 2023.

Gegeneinander ausgespielt werden in dieser Debatte Menschen, die Bürgergeld erhalten, und Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten, sogenannte Geringverdiener. Ganz allgemein: Der Mindestlohn ist in den letzten Jahren stärker angestiegen als der Regelsatz vom Bürgergeld. Auch 2026 soll der Mindestlohn im Gegensatz zum Regelbedarf ansteigen.

Im Unterschied zum Bürgergeld gehen zwar von einem Einkommen nach Mindestlohn noch Steuern und Sozial- und Krankenversicherung ab. Doch das Bürgergeld mit einem solchen Netto-Einkommen zu vergleichen, ist irreführend. Was nämlich häufig übersehen wird: Auch Geringverdiener haben Anspruch auf Sozialleistungen, wie Wohngeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussleistungen oder Kinderzuschläge, unter Umständen sogar auf aufstockendes Bürgergeld.

Das WSI errechnete Anfang des Jahres für verschiedene Haushalt-Konstellationen, wie viel Einkommen ein Haushalt zur Verfügung hat. In keiner der betrachteten Konstellationen hatten Bürgergeld-Beziehende mehr Einkommen als Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten.

Mehr Geld für „Aufstocker“ durch Freibeträge

Wer trotz Arbeit und Sozialleistungen nicht genug verfügbares Einkommen hat, hat Anspruch auf Bürgergeld. Umgangssprachlich werden solche Menschen „Aufstocker“ genannt. Nicht alle nehmen diesen Anspruch jedoch wahr. Eine Studie über Deutschland aus 2019 schätzte, dass mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Menschen ihren eigentlichen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld) nicht geltend machen. 

Dass erwerbstätige Bürgergeldempfänger – die sogenannten Aufstocker – mehr Geld zur Verfügung haben als nicht-erwerbstätige, ist durch Freibeträge gesichert. Denn erst ab bestimmten Beträgen wird das Einkommen auf die Sozialleistungen angerechnet. Wer arbeitet, hat also immer mehr als der, der nicht arbeitet, daran wird kein Rechenbeispiel rütteln. 

Nicht immer lohnt es sich jedoch, mehr zu arbeiten, also Stunden aufzustocken, wie eine Ifo-Studie aus 2023 gezeigt hat. Das liegt aber nicht am Bürgergeld, sondern an den hohen Abzügen der Transferleistungen, wie dem Kinderzuschlag oder Wohngeld. So kann es passieren, dass in bestimmten Familiensituationen und an Orten mit hohen Mieten ein höherer Verdienst durch den Verlust staatlicher Unterstützung aufgehoben wird. 

Mehr darüber – und welche weiteren Narrative und Falschbehauptungen über das Bürgergeld im Umlauf sind – steht in unserer Hintergrundrecherche.

Redigatur: Paulina Thom, Matthias Bau

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Die Bundesregierung: Ergebnisse der Beratungen im Koalitionsausschuss, 9. Oktober 2025: Link (archiviert)
  • „Die Bürgergeld-Reform von 2023 – Quelle allen Übels?“, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Februar 2025: Link (archiviert)
  • „’Lohnt’ sich Arbeit noch? Lohnabstand und Arbeitsanreize im Jahr 2024“, Institut für Wirtschaftsforschung, Januar 2024: Link (archiviert)
  • „Ungelöste Probleme der Grundsicherung“, Institut für Wirtschaftsforschung, März 2023: Link (archiviert)
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2026, 27. Juni 2025: Link (archiviert)
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