Barrierefreiheit

„Sie werden wegen ihrer Behinderung als nicht glaubwürdig eingestuft“

Kaum Urteile, selten eine Anklage: Menschen mit kognitiver Behinderung sind nicht nur häufiger von sexueller Gewalt betroffen – ihre Chancen auf ein gerechtes Strafverfahren sind auch geringer.

von Leonie Georg

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Foto: Wesley Tingey / unsplash

Sonja M. errang einen seltenen Erfolg beim Verfassungsgericht. Sie klagte, weil ihr die Aussagefähigkeit abgesprochen wurde. M. hatte 2020 ihren Gruppenleiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen angezeigt. Sie sagte aus, er habe sie sexuell belästigt. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Beschuldigten ein, bevor es überhaupt zu einer Anklage kam. Eine Gutachterin hatte behauptet, M. sei wegen ihrer kognitiven Behinderung angeblich nicht fähig, eine Aussage zu machen. Sonja M. klagte – der Berliner Verfassungsgerichtshof gab ihr im vergangenen Jahr recht.

Der Fall wurde von mehreren Medien aufgegriffen. Eine Ausnahme. Die wenigsten dieser Verfahren schaffen es in die Öffentlichkeit. Dabei handeln die Staatsanwaltschaften in solchen Fällen häufig nach einem ähnlichen Muster. CORRECTIV ist der Frage nachgegangen, welche Hürden Menschen mit kognitiver Behinderung überwinden müssen, wenn sie ein Sexualdelikt anzeigen wollen. Unsere Recherche zeigt: Eine Behinderung erhöht nicht nur das Risiko, Opfer einer Sexualstraftat zu werden. Es mindert auch die Chance auf ein faires Verfahren. Trotzdem plant das Bundesjustizministerium keine Gesetze, um den Betroffenen besser zu helfen.

Sexuelle Gewalt vor Gericht zu bringen, ist ohnehin immer mit großen Hürden verbunden – die Beweise sind oft dürftig, meist steht es Aussage gegen Aussage. CORRECTIV hat mit Anwält*innen aus verschiedenen Städten gesprochen, die Geschädigte mit Behinderung häufig in Sexualstrafverfahren vertreten. Ihre Schilderungen zeigen: Bei Betroffenen mit kognitiver Behinderung enden viele Verfahren, bevor es überhaupt zu einer Anklage kommt.

Frauen mit Behinderung doppelt so häufig von sexuellem Missbrauch betroffen

Mädchen und Frauen mit Behinderungen sind mindestens zwei- bis dreimal so häufig von sexueller Gewalt betroffen wie Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Das ergab eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2011. Dabei kommen die Täter meistens aus dem nahen Umfeld. Es ist der Fahrer, der Vorgesetzte in der Werkstatt, der Pfleger. Experten schätzen, dass die Dunkelziffer von sexuellem Missbrauch bei Menschen mit Behinderung extrem hoch ist. Die meisten Übergriffe bleiben mit hoher Wahrscheinlichkeit im Verborgenen. Aber was passiert, wenn ein solcher Fall doch vor Gericht landet?

Datenlage ist trotz erhöhten Risikos lückenhaft

Im vergangenen Jahr wurden 61 Prozent aller Sexualdeliktsverfahren eingestellt. Die meisten wegen fehlender Beweise. Wie viele davon Menschen mit Behinderung betreffen, lässt sich aus den Statistiken des Statistischen Bundesamts nicht erkennen. Die Datenlage ist trotz des erhöhten Risikos schwach. Auf Anfrage von CORRECTIV teilen die Staatsanwaltschaften mit, solche personenbezogenen Daten nicht zu erfassen.

Kommunikationsbarrieren erschweren Zugang zum Justizsystem

Die hohe Einstellungsquote bei Sexualdelikten beruht in den meisten Fällen auf einem generellen Problem: Es fehlen Beweise und Zeugen. Eine mögliche Verurteilung kann sich in diesem Fall ausschließlich auf die belastende Aussage stützen – und diese muss glaubhaft sein. Dafür prüft ein Sachverständiger oftmals die Aussage in einem aussagepsychologischen Gutachten darauf, ob sie auf tatsächlichen Erlebnissen beruht. Das geschieht anhand von Kriterien wie: inhaltlicher Widerspruchsfreiheit, Detailreichtum und zeitlicher Konsistenz. Also ob die Aussagen stimmig und nachvollziehbar bleiben.

An dieser Stelle entsteht oft eine Barriere, für bestimmte Personengruppen, schildert Anwältin Natalia Chakroun aus Köln: „Kinder unter vier Jahren, schwer traumatisierte Personen und Menschen mit kognitiver Behinderung haben häufig Probleme, chronologisch zu erzählen.“

Glaubwürdigkeit wegen Behinderung abgesprochen

Wenn sich Geschädigte in der Vernehmung knapp, unchronologisch und detailarm zum Tatverlauf oder den Umständen äußern, lassen sich aus diesem Grund noch keine Rückschlüsse auf eine fehlende Glaubhaftigkeit der Aussage ziehen. Chakroun erlebt jedoch immer wieder, wie unqualifizierte Beamte das Aussageverhalten von Personen mit einer kognitiven Behinderung falsch deuten. Chakrouns Schwerpunkt liegt im Opferschutzrecht. Ihrer Erfahrung nach scheitern fast alle Verfahren bei Aussage gegen Aussage bereits vor einer Anklage, weil den Geschädigten die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. „Sie werden wegen ihrer Behinderung als nicht glaubwürdig eingestuft. Das macht sie praktisch vogelfrei.“

Je mehr sich diese Haltung verfestigt, desto geringer scheint die Chance, dass es ein gerechtes Verfahren für die Betroffenen wird. „Ich erlebe das häufig, dass Vernehmungsbeamte auf eine selbsterfüllende Prophezeiung warten“, sagt die Anwältin Silke Jaspert aus Lüneburg. Sie vertritt regelmäßig Menschen mit kognitiver Behinderung bei Sexualdelikten. Jaspert beobachtet, dass die Bemühungen um eine qualifizierte Anhörung nachlassen, wenn die betroffene Person eine Behinderung hat: „Man sagt im Vorhinein schon, da wird eh nichts draus.“

Behörden und Beamte sind überfordert

Menschen mit kognitiver Behinderung brauchen oft besondere Unterstützung bei der Vernehmung. Fragen müssen einfach formuliert sein, Antworten können sich verzögern. Zudem benötigen sie gegebenenfalls Leichte Sprache – gekennzeichnet durch einfache Vokabeln, kurze Sätze und die Vermeidung von Fremdwörtern.

„Behinderungen gelten im Prozess meiner Erfahrung nach als Komplikation“, sagt Anwält*in Ronska Grimm aus Berlin. Grimm hat den Fall Sonja M. betreut und gemeinsam mit ihr die Verfassungsbeschwerde eingereicht. Der Fall mache deutlich, dass es an Standards und Richtlinien bei Strafverfahren mit Menschen mit Behinderung fehle. „Es ist aus meiner Sicht Zufall, ob die Vernehmungsbeamt*innen schon mal den Begriff ‘Leichte Sprache’ gehört haben“, sagt Grimm. Menschen mit kognitiver Behinderung sind somit oft der Willkür von ungeschulten Gutachtern und Beamtinnen ausgeliefert.

Seit Jahren vertritt Grimm Menschen mit Behinderung. Eine Anklage bei einem solchen Fall, in dem sich Aussage gegen Aussage gegenübersteht, hat Grimm noch nie erlebt. Die Staatsanwaltschaften seien überlastet. Wenn es keine weiteren Beweise gibt, würden die Verfahren daher häufig sofort eingestellt.

Gebäude des Berliner Verfassungsgericht von vorne.
Verfassungsgerichtshof in Schöneberg, Berlin, Deutschland, 06.09.2025 Higher Regional Court in Schöneberg, Berlin, Germany, September 6, 2025 (Foto: picture alliance / PIC ONE | Peter Engelke)

Diskriminierung durch Staatsanwaltschaften

Doch selbst bei klaren Beweisen kämpfen Menschen mit kognitiver Behinderung oftmals mit Diskriminierungen. Svenja Harrfeldt arbeitet als Anwältin in Bochum mit dem Schwerpunkt Strafrecht. Sie hat einen Fall vertreten, der im vergangenen Jahr in den Medien kursierte. Der Spiegel berichtete. Zwillinge seien von ihrem Schulbusfahrer mutmaßlich sexuell missbraucht worden. Das Ganze flog auf, weil er die Tat per Fotos und Chatnachrichten dokumentiert und an die Kinder geschickt hatte. Die Beweislage war also stark. Doch die Staatsanwaltschaft Köln forderte zusätzlich noch eine Aussage der Mädchen ein, obwohl diese in Stresssituationen kaum bis gar nicht sprechen können.

„Die Staatsanwaltschaft wollte sich damit nicht befassen. Sie hat gesagt, wenn die beiden nicht sprechen, dann sei das ihr Problem“, sagt Harrfeldt. Es sei schwierig, den Beamten begreiflich zu machen, dass dort eine geschädigte Person mit einer Behinderung sitzt. Harrfeldt erreichte schließlich nach monatelangen Diskussionen mit der Staatsanwaltschaft, dass die Zwillinge wegen ihrer Behinderung nicht wie gewohnt vernommen werden müssten.

Täter nutzen Hürden aus

Hürden wie diese wirken auf viele Betroffene abschreckend. Täter wiederum wissen das auszunutzen, sagt Ronska Grimm: „Sie sagen mir dann, der hat gesagt, du brauchst es gar nicht erst anzuzeigen, dir glaubt sowieso niemand. Leider behalten sie oft recht damit.“

Gemäß Artikel 13 der UN-Behindertenrechtskonvention müssen Verfahren barrierefrei gestaltet sein. Wenn Vorkehrungen benötigt werden, um den Geschädigten und anderen Prozessbeteiligten ein faires Verfahren zu ermöglichen, müssen diese getroffen werden.

BMJV und Staatsanwaltschaften erkennen Barrieren an

Das Bundesjustizministerium teilt auf Anfrage mit, dass die Problematik bekannt sei. Auf die Frage nach bundesweit einheitlichen Standards reagiert das BMJV ausweichend: Das Ministerium verweist auf die ohnehin geltenden Richtlinien für Straf- und Bußgeldverfahren. Spezielle Vorgaben oder neue Standards seien nicht geplant. Für die Strafverfahren, so das BMJV, seien die Länder zuständig. Eine bundesweite Erfassung, wie viele dieser Verfahren eingestellt werden, ist laut Ministerium nicht vorgesehen.

Auch die Staatsanwaltschaften in Berlin, Köln und Schleswig-Holstein erkennen die Problematik an – wenn auch unterschiedlich deutlich. Die Staatsanwaltschaft Köln teilt auf Anfrage von CORRECTIV mit, Menschen mit kognitiver Behinderung bräuchten „besondere Aufmerksamkeit“. In einzelnen Fällen, würde die Staatsanwaltschaft deshalb Aussagepsychologen hinzuziehen. Diese seien laut der Staatsanwaltschaft allesamt ausreichend geschult. Es seien keine speziellen Schulungen für Staatsanwälte geplant. Die Staatsanwaltschaft in Schleswig-Holstein verweist wiederum auf regelmäßige Fortbildungen für Staatsanwältinnen, um sie für den Umgang mit Zeugen mit kognitiver Behinderung zu sensibilisieren.

Während in Köln und Schleswig-Holstein vor allem von einer besonderen Problematik die Rede ist, räumt die Staatsanwaltschaft Berlin explizit „strukturelle Barrieren“ im Umgang mit Menschen mit kognitiver Behinderung ein – welche die Berliner Staatsanwaltschaft als „misslich“ bewertet.

Vorkehrungen für mehr Gerechtigkeit im Strafverfahren

Laut den Jurist*innen Grimm, Jaspert und Chakroun gibt es konkrete Vorkehrungen, die Menschen mit kognitiver Behinderung mehr Chancen in Strafverfahren einräumen könnten. Konkret fordern sie zwei Standards:

  • eine frühe Vernehmung per Video, damit die geschädigte Person nicht ein zweites Mal vor Gericht aussagen muss.
  • spezielle Schulungen und Fortbildungen für Polizeibeamte, Gutachter, Juristen und auch Richter, um der besonderen Vernehmungssituation gerecht zu werden.

Jaspert hat erlebt, welchen Unterschied eine frühe Dokumentierung der Aussage per Video und geschulte Beamte mit behinderungsspezifischem Wissen machen können. In einem Fall hat sie einen Jungen mit kognitiver Behinderung vertreten, der angab, sexuell missbraucht worden zu sein. Es stand Aussage gegen Aussage. Recht früh im Prozess war bereits eine Begutachtung möglich durch eine aussagepsychologische Sachverständige, die besondere Erfahrungen hatte mit Aussagen von Menschen mit Behinderungen. Die Vernehmung wurde per Video aufgezeichnet, sodass der Junge vor Gericht seine Aussage nicht wiederholen musste. Es kam zur Anklage, der Täter wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig, der Mann ging in Revision.

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Redaktion: Annika Joeres, Anette Dowideit
Faktencheck: Annika Joeres

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