Nein, diese Fotos belegen keinen Zusammenhang zwischen Angela Merkel, dem NSU oder einer Nazi-Firma
Eine Bildcollage zeigt Angela Merkel mit glatzköpfigen Jugendlichen in Bomberjacken. Immer wieder werden die Fotos verwendet, um Merkel mit Neonazis in Verbindung zu bringen. Derzeit suggeriert ein Facebook-Post, sie sei dort mit dem NSU zu sehen. Eine CORRECTIV-Recherche zeigt, was hinter den Fotos steckt.
Ein Facebook-Post vom 9. April zeigt eine Bildcollage mit Fotos, auf denen Angela Merkel neben offensichtlichen Rechtsradikalen zu sehen ist, überschrieben mit der Frage: „Merkel und NSU?” Die Collage wurde bisher 257 Mal auf Facebook geteilt.
Warum ist Merkel auf den Bildern mit offensichtlichen Rechtsradikalen zu sehen? Etliche Blogs oder Webseiten wollen die Antwort wissen. CORRECTIV zählte mittels Bilder-Rückwärtssuchen über Yandex und Tineye mindestens 102 Webseiten oder Social-Media-Accounts, auf denen die Collage zu sehen war oder immer noch zu sehen ist.
Die Collage wird oft verwendet, um Merkel eine Verbindung oder Nähe zu Rechtsextremen oder Neonazis zu unterstellen. Die Theorien dafür sind facettenreich: Mal wird behauptet, Merkel habe„eine Firma mit Neonazis“ gegründet (2015, 599 Mal auf Facebook geteilt), mal sie sei der „Nazi-Chef unter den Nazis“ (2015). Hier ist ein extremes Beispiel aus 2017 zu sehen, wonach die Fotos mit ein Beweis seien, dass „Merkel die Tochter von Hitler“ sei.
Am häufigsten findet die Collage sich auf russischsprachigen Blogs oder Webseiten, auch griechischsprachige Blogs oder Webseiten verbreiten sie auffällig oft. Erstmals tauchte die Collage auf dem deutschen Facebook-Account „Anonymous“ auf, der in dieser Form aber mittlerweile offline zu sein scheint. Dort wurde die Collage offenbar einmal am 5. Februar 2015 gepostet, einmal am 16. März 2016 zusammen mit einem Artikel der Plattform VK.com, Überschrift: „Exklusive Fotos: ‘Skinheadgirl Angi’ – die früheren Wegbegleiter von Bundeskanzlerin Merkel“. Das zeigen zumindest Screenshots der Posts auf der Webseite Griechenland-Blog.de und des gemeinnützigen Faktencheck-Vereins Mimikama.
CORRECTIV konnte den Kontext, in dem die Bilder entstanden sind, rekonstruieren.
So entstanden die Fotos von Merkel in rechten Jugendclubs
Das Foto unten rechts in der Collage, Merkel trägt hierauf eine dunkle Jacke, entstand am 31. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Der Fotograf ist Bernd Wüstneck, die Rechte am Bild liegen bei der Deutschen Presse Agentur, wie eine Suche in deren Bilddatenbank Picture Alliance zeigt. Als Bildinformationen gibt die Deutsche Presse Agentur folgendes an: „Bundesjugendministerin Angela Merkel (CDU-r) traf sich am 31. August 1992 zu einem Gespräch mit rechtsorientierten Jugendlichen im Jugendclub „Groß-Klein“, der sich in unmittelbarer Nähe des Asylbewerberheimes Rostock-Lichtenhagen befindet, wo es seit dem 22. August 1992 fünf Nächte lang zu schweren ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen war.“
Merkel wurde 1991 zur Bundesjugendministerin. In dieser Funktion startete sie 1992 das sogenannte „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG)“, das bis 1996 dauerte, wie aus einem Hintergrundpapier einer durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Präventionsstelle gegen Rechtsextremismus hervorgeht (PDF). Sonstige offizielle Dokumente zum Aktionsprogramm sind kaum mehr zu finden, auch nicht im Archiv des Ministeriums, wie eine CORRECTIV-Anfrage dort ergab. Damals befand sich das Ministerium noch in Bonn. Auch eine Suche im Bundesarchiv ergab keine Treffer.
Vor dem Hintergrund des Aktionsprogramms besuchte Merkel von 1992 bis 1996 offenbar mehrere rechte, aber auch linke Jugendclubs (hier zu sehen). Darunter auch den in Rostock-Lichtenhagen. In einer Archiv-Tonspur des SWR spricht Merkel 1991 über rechte Gewalt, laut des Senders steht das in Zusammenhang mit ihrer Ankündigung, „20 Millionen D-Mark für Jugendarbeit in Ostdeutschland zur Verfügung zu stellen“. In einem Text der Süddeutschen Zeitung vom August 2017 ist nachzulesen, dass Merkel dafür kritisiert worden sei. Ein von report München auf Facebook geposteter kurzer Videoausschnitt zeigt sie im Gespräch mit einem offensichtlich rechtsradikalen Jugendlichen. Sie trägt darin dieselbe Kleidung wie auf dem Foto unten rechts – es handelt sich offenbar um den Besuch in Rostock-Lichtenhagen 1992.
Die anderen Fotos stammen von Merkel-Besuch in Magdeburg
Die Suche nach den anderen vier Fotos der Collage, Merkel trägt darauf eine helle Jacke, führt auf den Ost-Blog, der aus dem Berliner Magazin telegraph hervorging. In einem Artikel vom 21. November 2011 sind die Fotos zu sehen, dort steht als Quellenangabe: “Archiv telegraph”. Zu den Bildern ist folgender Text zu lesen: „Wenige Monate nachdem der 23-jährige Thorsten Lamprecht 1992 bei einem Überfall von etwa 60 Skinheads auf eine Punk-Fete in dem Magdeburger Lokal ‘Elbterrassen’ mit einem Baseballschläger ermordet wurde, besuchten Anfang 1993 die Ministerinnen Angela Merkel und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen Magdeburger Jugendclub.“
In einem Telefongespräch bestätigte ein Redakteur des telegraph gegenüber CORRECTIV, dass die Fotos 1993 in Magdeburg entstanden seien. Er kenne sie noch als Originale, die Rechte daran lägen beim telegraph.
Das deckt sich mit der Antwort eines Regierungssprechers auf eine CORRECTIV-Anfrage zum Hintergrund der Fotos. Aus archivierten Agenturmeldungen lässt sich entnehmen, dass Merkel und Leutheusser-Schnarrenberger sich am 6. April 1993 im Magdeburger Jugendclub „Brunnen“ mit etwa 50 „Rechten, Skinheads und Hooligans“ im Alter von 15 bis 25 trafen.
Der „Brunnen“ sei laut den Agenturmeldungen „eines der vier Projekte des ‘Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt’, die bis 1994 vom Bundesjugendministerium mit insgesamt 700.000 Mark jährlich finanziert werden“. Auch einige Gespräche zwischen Merkel und den Rechtsradikalen sind darin dokumentiert.
Die auf Facebook verbreitete Collage vermischt aus dem Kontext gerissene Fotos. Zu sehen sind zwei Besuche Angela Merkels 1992 und 1993 im Rahmen eines Aktionsprogramms gegen Rechtsextremismus in verschiedenen rechten Jugendclubs in Rostock-Lichtenhagen und Magdeburg, um mit dortigen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.