Was dürfen Polizei und Regierung? „Gelbe Westen Berlin“ verbreiten Behauptungen, die Gesetzesänderungen 2017 dramatisieren
„Zensurgesetz“, „Unendlichkeitshaft“ – auf Facebook werden gerade Behauptungen über angebliche „Gesetzesverschärfungen der letzten Zeit“ geteilt. Ihnen fehlen jeweils Kontext oder wichtige Relativierungen.
„Angela Merkel errichtet gerade eine Diktatur“, steht in einem Facebook-Beitrag der Seite „Gelbe Westen Berlin“ vom 4. Juli. Darunter werden ohne die Angabe von Quellen sechs angebliche „Gesetzesverschärfungen der letzten Zeit“ aufgezählt, die diese Aussage stützen sollen. Auch ein angebliches Zitat von Merkel findet sich im Beitrag: „Meine Bürger wissen manchmal nicht, was gut für sie ist.“
Der Beitrag wurde bisher mehr als 1.900 Mal geteilt. CORRECTIV hat die Behauptungen und das Zitat überprüft.
1. Gibt es in Deutschland ein „Zensurgesetz“ – und kann die Regierung selbst „Kritik löschen“?
Ein entsprechendes Gesetz gibt es nicht. Möglich ist aber, dass damit das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gemeint ist, das 2017 verabschiedet wurde und sich hauptsächlich an Betreiber von Internetplattformen richtet. Es geht um strafbare Inhalte im Netz: „Offensichtlich rechtswidrige Inhalte müssen in der Regel innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde entfernt werden. Für Inhalte, deren Rechtswidrigkeit nicht offensichtlich ist, gilt im Grundsatz eine Sieben-Tages-Frist“, schreibt der Bundestag dazu.
Dafür, dass die deutsche Regierung selbst „Kritik löschen“ kann, gibt es keine Belege oder beispielhafte Fälle. Im Grundgesetz steht zum Thema Zensur unter Artikel 5 Absatz 1 als letzter Satz:
Eine Zensur findet nicht statt.
Eine Einschränkung gibt es dennoch, wie in Absatz 2 des Artikels steht:
Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
Inhalte können in Deutschland per Grundgesetz also nur „zensiert“ werden, wenn sie verboten sind oder gegen geltende Gesetze verstoßen. Ein Urteil darüber fällt aber nicht die Regierung, sondern letzten Endes ein Gericht. Laut Medienberichten waren vom NetzDG bereits Inhalte der AfD-Politikerinnen Alice Weidel und Beatrix von Storch betroffen.
2. Kann man „für mindestens drei Monate ins Gefängnis“ kommen, wenn man „einen Polizisten nur ganz leicht berührt“?
Hintergrund für diese Behauptung ist offenbar das sogenannte „Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften“ (PDF), das im April 2017 verabschiedet wurde. Genau genommen handelt es sich dabei um verschiedene Gesetzesänderungen, die von der Regierung mit einer „wachsenden Zahl von Angriffen auf Einsatz- und Rettungskräfte“ begründet wurde.
Konkret wurden drei Paragrafen des Strafgesetzbuchs verschärft, 113, 114 und 115. Wer Widerstand gegen einen Vollstreckungsbeamten leistet oder ihn tätlich angreift, soll mit mindestens drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden können. Bisher hatte es Geldstrafen oder Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren dafür gegeben. Als schwerer Fall wird gewertet, wenn Täter zum Zeitpunkt des tätlichen Angriffs ein Werkzeug oder eine Waffe bei sich trugen. Zudem muss sich ein Vollstreckungsbeamter nicht mehr in einer Vollstreckungshandlung wie etwa einer Festnahme befinden, damit das Gesetz greift, sondern lediglich in „Diensthandlung“.
Eine Einschränkung gibt es bei dem Gesetz: Die Vollstreckungsbeamten müssen zu dem Zeitpunkt, an dem ihnen gegenüber Widerstand geleistet oder sie tätlich angegriffen werden, „rechtmäßig gehandelt werden.
Der Gesetzentwurf führte dennoch zu der Kritik, Polizeibeamte würden gegenüber Bürgern privilegiert. Einige Medien wie Taz, Vice oder Ze.tt griffen das auf und berichteten darüber, dass bloßes „Schubsen“ von Polizeibeamten „Knast“ bedeuten könne. Auch Tobias Singelnstein, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, kommt zu dieser Einschätzung, wie er CORRECTIV per Mail schreibt: „Es besteht durchaus die Gefahr, dass man schon wegen eines Schubsens nach dieser Vorschrift verurteilt wird.“
Der Verein Neue Richtervereinigung, der laut eigenen Angaben vom Bundesjustizministerium zu einer Stellungnahme zu der Gesetzesänderung aufgefordert wurde, nannte diese „ungeeignet und nicht erforderlich“.
Der Deutsche Anwaltsverein schreibt in einer Stellungnahme, der Polizei komme in solchen Fällen eine „absolute Definitionsmacht“ zu. Zudem stünde mangels Beweisen oft Aussage gegen Aussage – wobei meist den Angaben der Polizeibeamten geglaubt würde.
Der Deutsche Richterbund schreibt in einer Stellungnahme, es ließen sich durch die Gesetzesänderung „nahezu alle erfassten Fallgestaltungen“ schon „zumindest als versuchte einfache Körperverletzung einordnen“.
Die Behauptung der „Gelben Westen Berlin“ stimmt demnach größtenteils: Bereits für leichte Berührungen wie Anrempeln oder Schubsen könnte man theoretisch zu mindestens drei Monaten Haft verurteilt werden – ein Gericht muss jedoch prüfen, ob Polizeibeamte auch „rechtmäßig“ handelten.
3. Gibt es eine „Unendlichkeitshaft“ in Deutschland, auch wenn „keine Straftat vorliegt“?
Möglich ist, dass damit eine Änderung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes gemeint ist, die im Juli 2017 für den Freistaat in Kraft trat. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte die Polizei einen Menschen, der im Verdacht steht, eine Straftat zu begehen – zum Beispiel sogenannte „Gefährder“ –, bis zu 14 Tage festhalten (Artikel 20, Absatz 3, archivierte Version von Mai 2017). Jetzt ist unter diesem Artikel eine andere Formulierung zu finden:
In der richterlichen Entscheidung ist die Dauer der Freiheitsentziehung zu bestimmen. Sie darf nicht mehr als drei Monate betragen und kann jeweils um längstens drei Monate verlängert werden.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb aufgrund dieser Formulierung 2017 erstmals von einer „Unendlichkeitshaft“: Betroffene könnten laut eines weiteren Artikels „theoretisch jahrelang im Gefängnis sitzen, ohne Urteil“.
Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, schreibt CORRECTIV auf die Frage, ob durch die Änderung wirklich jemand bis zur Unendlichkeit festgehalten werden könnte: „Theoretisch ja, auch wenn das irgendwann gegen das (zeitliche) Übermaßgebot verstoßen würde.“ Auch andere Polizeigesetze würden mittlerweile eine sehr lange Dauer des Polizeigewahrsams mit Richtervorbgehalt vorsehen, diese langen Zeiträume würden aber meist dahingehend relativiert, dass sie nur einmal verlängert werden könnten. „Das ist in Bayern in der Tat anders. Das Gesetz sieht keine Obergrenze vor, diese besteht allein im rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgebot und namentlich im zeitlichen Übermaßgebot“, schreibt Arzt.
Das sogenannte Verhältnismäßigkeitsprinzip und das dazugehörige Übermaßverbot besagt laut Bundeszentrale für politische Bildung: „[…] Staatliche Eingriffe müssen geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen oder zu fördern; der Eingriff ist nur erforderlich, wenn kein milderes, den Betroffenen oder Dritte weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht […].“
Auf die Frage, an den Rechtsexperten Arzt, für wie realistisch er das Szenario einschätze und ob Betroffene die Möglichkeit hätten, sich zu wehren, schreibt er: „In Bayern wurden offenbar schon solche Gewahrsamnahmen für mehrere Wochen erlaubt. Ob die Gerichte hier bei der Anordnung eine wirksame Kontrollinstanz darstellen, mag man bezweifeln, weil auf polizeiliches Vorbringen gegen einen (islamistischen) Gefährder Richter*innen vermutlich nicht sehr kritisch kontrollieren werden.“
Gegen amtsgerichtliche Entscheidungen ist laut Arzt vermutlich eine Beschwerde zulässig, doch entsprechende Beschwerde-Entscheidungen seien ihm bisher nicht bekannt. „Sicherlich liegt auch die Zahl der Gewahrsame über (herkömmlich) 2 bis 14 Tage hinaus, noch in einem niedrigen Bereich. Bayern ist hier sicherlich Vorreiter im Abbau der Freiheitsrechte und erlaubt solche Gewahrsamnahmen auch im Umfeld von Demonstrationen“, schreibt Arzt.
Das entsprechende Gesetz, mit dem Menschen auch dann theoretisch ewig festgesetzt werden könnten, auch wenn „keine Straftat vorliegt“, gibt es bislang ausschließlich in Bayern – nicht deutschlandweit, wie im Facebook-Beitrag der „Gelben Westen Berlin“ behauptet wird.
4. Hat die Regierung das Recht, Handys „zu hacken, um heimlich Whatsapp und Co. mitzulesen“?
Nein, die Regierung darf und kann Smartphones nicht „hacken“, um heimlich Chatverläufe etwa auf Whatsapp mitzulesen. Möglich ist, dass hiermit die sogenannte Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Paragraf 100a, Strafprozessordnung) und Online-Durchsuchung (Paragraf 100b, Strafprozessordnung) gemeint ist. Diese Paragrafen waren Teil einer Reform der Strafprozessordnung, die im August 2017 in Kraft trat.
Sie erlaubt Ermittlern laut BKA, bei Verdacht auf schwere Straftaten, organisierter Kriminalität oder Terrorismus neben der regulären Telefonleitung auch verschlüsselte Internet-Telefonie oder Kommunikation über Messengerdienste zu überwachen. Vorausgesetzt ist in solchen Fällen jeweils eine richterliche Anordnung.
Quellen-Telekommunikationsüberwachung und Online-Durchsuchungen sind laut BKA aber komplex und erforderten hohen Personalaufwand, weshalb sie „nur in Einzelfällen einsetzbar“ seien und „keine Alternative zur klassischen Telekommunikationsüberwachung“ darstellten.
Ermittlungsbehörden könnten also Whatsapp „mitlesen“ – aber nur wenn der Verdacht auf schwere Straftaten besteht und nur auf richterliche Anordnung. Die Regierung selbst hat dazu keine Rechte.
5. Wurde das Aussageverweigerungsrecht „quasi abgeschafft“ und kann die Polizei „Bürger zur Aussage zwingen“?
Was hiermit gemeint sein könnte ist das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“, das 2017 in Kraft trat. Paragraf 163, Absatz 3 der Strafprozessordnung wurde um folgenden Satz erweitert:
Zeugen sind verpflichtet, auf Ladung vor Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und zur Sache auszusagen, wenn der Ladung ein Auftrag der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt.
„Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft“ können unter anderem auch Polizisten sein. Die Kriminalpolitische Zeitschrift der Deutschen Hochschule der Polizei schreibt dazu in einem Beitrag: „Bislang waren Zeugen nur verpflichtet, auf Ladung zu richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen zu erscheinen. Nach § 163 Abs. 3 S. 1 StPO sind Zeugen nunmehr verpflichtet, auf Ladung bei der Polizei zu erscheinen und auszusagen, wenn ein entsprechender Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegt. Insoweit besagt die Vorschrift nur, dass die Erscheinens- und Aussagepflicht von Zeugen vor der Polizei von einer vorherigen Entscheidung der Staatsanwaltschaft abhängig ist. Wie diese Entscheidung aussieht, wird allerdings offen gelassen.“
Als Grund für diese Aussage wird die Formulierung des Satzes in Paragraf 163 angeführt. Sie mache etwa eine „generelle Ermächtigung“ der Polizei möglich, Ladungen auszusprechen, zum Beispiel wenn die Staatsanwaltschaft für einen Fall pauschal Ladungsberechtigungen für alle Zeugen erteile. Etwas, das bislang nicht möglich gewesen sei.
Ähnlich schreibt das auch Strafverteidiger Udo Vetter in einem Beitrag auf seinem Blog. Es gäbe durch die Formulierung zudem keine Pflicht zu einer schriftlichen Ladung oder einer Ladungspflicht.
Vetter sieht bei der „vagen Formulierung“ zudem eine Gefahr, wenn unklar bleibt, ob die vernommene Person Zeuge, Beschuldigter oder beides ist. Damit täten sich neue Möglichkeiten für Ermittler auf – denn das Aussageverweigerungsrecht gilt nur für Beschuldigte einer Straftat (Paragraf 136, Strafprozessordnung), ein Zeugnisverweigerungsrecht für Zeugen nur, wenn sie mit Beschuldigten verwandt sind (Paragraf 52, Strafprozessordung). Jede Person könnte demnach zuerst als vermeintlicher „Zeuge“ der Polizei geladen werden, ohne das Recht auf Verweigerung der Aussage.
Der Fall könnte laut Kriminalpolitische Zeitung und eines Rechtsexperten also eintreffen, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind – nämlich wenn die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft Polizeibeamte sind. Die Behauptung der „Gelben Westen Berlin“ stimmt größtenteils.
Hat Merkel gesagt „Meine Bürger wissen manchmal nicht, was gut für sie ist“?
Es gibt keine Belege dafür, dass Merkel das jemals öffentlich gesagt hat. Eine Google-News-Archiv-Suche, eine im Google-Cache und eine beim Archiv der Bundesregierung führt ins Leere.