Migration

Nein, Angela Merkel warnte nicht „vor einem Angriff der Migranten auf Europa“

In einem Artikel der Webseite Berlin Journal wird behauptet, Angela Merkel habe bei einer Rede 2016 vor einem „Angriff der Migranten auf Europa“ und vor einer „verstärkten Masseneinwanderung aus Afrika“ gewarnt. Das stimmt nicht, wie ein Mitschnitt zeigt.

von Till Eckert

BELGIUM-EU-SUMMIT
Angela Merkel bei einer Rede im EU-Parlament in Brüssel am 17. Oktober 2019. (Symbolfoto: Aris Oikonomou / AFP)
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Teilweise falsch
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Teilweise falsch. Angela Merkels Aussagen werden verzerrt dargestellt. Sie sprach allerdings im Kontext von Migration von einem „Angriff auf die Außengrenzen“ der EU.

„Merkel warnt vor ‘Angriff’ der Migranten auf Europa“, heißt es im Titel eines Artikels der Webseite Berlin Journal vom Juni 2016, der aktuell wieder vermehrt auf Facebook geteilt wird. Er wurde kürzlich in Facebook-Gruppen veröffentlicht, zum Beispiel hier und hier. Insgesamt wurde der Beitrag mehr als 11.000 Mal geteilt.  Im Text geht es um eine Rede, die Angela Merkel 2016 vor dem CDU-Wirtschaftsrat hielt. Als Quelle wird ein Artikel des Focus vom 23. Juni 2016 angegeben.

Der Artikel des Berlin Journal von Juni 2016 mit der Behauptung in der Überschrift. (Screenshot: CORRECTIV)

Durch die Zwischenüberschriften des Textes von Berlin Journal wird zudem suggeriert, Merkel habe jeweils ganz klare Personengruppen angesprochen. In einer heißt es „Schwarze sind laut Merkel das größte Problem“, in der nächsten „Araber sind das geringere Problem“. Hat Merkel sich wirklich so geäußert?

Im Focus-Artikel, der angegeben Quelle, steht das so nicht

Im Focus-Artikel, auf den Berlin Journal verweist, geht es tatsächlich hauptsächlich um Merkels Rhetorik bei der Rede vor dem CDU-Wirtschaftsrat. Vor allem um den Begriff „Angriff“, den Merkel verwendet habe, dreht sich der Artikel. So habe sie von zwei Angriffen gesprochen, „auf diese Europäische Union, auf diesen europäischen Binnenmarkt“. Der erste Angriff sei die Eurokrise, der zweite sei ein „Angriff auf etwas Konstitutives in unserer Europäischen Union, (…) auf unsere Außengrenzen“. 

Merkel forderte in diesem Kontext laut Focus einen „besseren Schutz der Schengen-Außengrenzen“. Die Aufgabe sei, diese „nicht Schleppern und Schmugglern zu überlassen, nicht Menschenleben aufs Spiel zu setzen“. Als größtes Problem habe Merkel „die Migration aus dem afrikanischen Kontinent“ genannt. Mit Ländern wie Niger, wo sich die Bevölkerung alle 20 Jahre verdopple, müsste eine wirkliche Partnerschaft entstehen. Weniger problematisch bewerte Merkel dagegen Flüchtlingsbewegungen aus Syrien oder Irak, weil sie durch Bürgerkriege entstünden. 

Von einem „Angriff der Migranten“ jedoch, oder von problematischen „Schwarzen“ oder weniger problematischen „Arabern“ hat Merkel laut Focus nicht gesprochen. Merkel benannte laut Focus stattdessen die Staaten Niger, Syrien und Irak. 

Auch im Mitschnitt der Rede von Merkel finden sich diese Formulierungen nicht

Die Pressestelle des CDU-Wirtschaftsrat schickte CORRECTIV auf Nachfrage einen Audiomitschnitt der Veranstaltung am 21. Juni 2016 in Berlin zu. Merkels Rede dauert ungefähr 45 Minuten, es geht darin um Herausforderungen der Globalisierung. Sie spricht unter anderem über Digitalisierung, über Klimawandel und Elektromobilität. Die betroffene Passage findet sich am Ende von Merkels Rede und dauert etwa fünf Minuten. Hier zum Anhören:

Merkel sagt in ihrer Rede wörtlich

„Wenn ich gesagt habe, was essentiell ist für die Bewältigung der Globalisierung und sage Europa, die Europäische Union, der europäische Binnenmarkt ist nach meiner Meinung essentiell dann haben wir zwei Angriffe auf diese Europäische Union und auf diesen Binnenmarkt, oder, etwas kleiner gefasst, auf die Eurozone erlebt. Der eine war auf die Eurozone nach der internationalen Finanzmarktkrise, der hatte im Grunde die Frage, wie agieren Volkswirtschaften unter völlig unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit und wie machen wir uns diese Unterschiede, wie stehen wir füreinander ein? (…) 

Nun haben letztes Jahr einen zweiten Angriff auf etwas Konstitutives unserer Europäischen Union erfahren, nämlich einen Angriff auf unsere Außengrenzen. Wir sahen einen Raum der Freizügigkeit, dieser Raum der Freizügigkeit ist natürlich durch die Mitgliedschaft im Schengensystem begrenzt, aber wenn ich Ihnen jetzt allen ein Stück Papier geben sollte, und Sie sollten mal aufzeichen, wie dieses Gebilde aussieht, wie diese Außengrenzen des Schengenraums aussehen, dann weiß ich nicht, ob das jeder so zielsicher zeichnen könnte. (…) Um diesen Außengrenzen-Schutz sicherzustellen, nicht Schleppern und Schmugglern zu überlassen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, das ist jetzt unsere Aufgabe – und die ist einfach dort, wo Sie Landgrenzen haben, und die ist schwierig dort, wo Sie Wassergrenzen haben. Und das bedeutet für uns nichts anderes, als dass wir uns in ganz anderer Weise werden mit unserer Nachbarschaft beschäftigen müssen und das ist im zentralen Bereich Afrika. Wir haben jetzt sehr viel über Syrien und Irak gesprochen, ich glaube, dass wir in absehbarer Zeit dort Lösungen haben werden, dass die großen Flüchtlingsströme von dort, die auch wirklich Bürgerkriegsflüchtlingsströme waren, nicht das zentrale Problem sind, sondern das zentrale Problem ist die Migration aus dem afrikanischen Kontinent, der da heute 1,2 Milliarden Einwohner hat, der 2050 2,3 Milliarden Einwohner haben wird, und ein Land, das hinter Libyen liegt – Libyen ist ja erkennbar politisch sehr instabil, das wird auch noch lange dauern – aber wo 90 Prozent der afrikanischen Migranten durchziehen, das ist Niger. Niger hat ein Bevölkerungswachstum von 2,9 Prozent, das heißt alle 20 Jahre verdoppelt sich die Einwohnerzahl von Niger. Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt, Niger hat uns nochmal gesagt, ‘Wir haben jahrelang bei Entwicklungspolitik gehört, ihr dürft alles, nur keine Waffen euch beschaffen, eure Sicherheitssysteme nicht verstärken, heute stehen wir Boko Haram am Tschadsee gegenüber und wissen nicht, was wir tun sollen’. Das sind die großen Herausforderungen, mit denen wir uns werden befassen müssen. (…) Wir müssen es hinbekommen, hier eine wirkliche Partnerschaft, sicherlich auch eine Partnerschaft wo über good governance gesprochen wird, hinzubekommen, ansonsten werden wir die Legalität und die Bekämpfung der Fluchtursachen nicht hinbekommen, das halte ich für die zentrale große Aufgabe, wenn wir unsere Außengrenzen schützen wollen.“ 

Merkels Rede wirkt im Gesamtkontext nicht so drastisch, wie von Berlin Journal dargestellt. Es geht darum, wie eine Partnerschaft mit afrikanischen Ländern geschaffen und Fluchtursachen bekämpft werden können. Merkel spricht zwar von  einem Angriff auf die Außengrenzen des Schengenraums – aber auf eine Weise, dass klar wird, dass sie keinen kriegerischen Angriff meint. Sie spricht auch davon, einen „Außengrenzen-Schutz sicherzustellen, nicht Schleppern und Schmugglern zu überlassen, Menschenleben aufs Spiel zu setzen – das ist jetzt unsere Aufgabe“. 

Merkel spricht zudem auch nicht von einer „verstärkten Massenmigration aus Afrika“, wie Berlin Journal behauptet. Sie erwähnte Migration aus dem afrikanischen Kontinent als zentrales Problem und direkt danach das Bevölkerungswachstum von Ländern wie Niger.