Faktencheck

„Versteckte Impfpflicht“ für Reisende? Drittes Bevölkerungsschutzgesetz wird irreführend interpretiert

Wer künftig ins Ausland reisen wolle, müsse sich spätestens vor der Rückreise nach Deutschland impfen lassen, behauptet ein Beitrag auf Telegram. Als Grundlage dient ein Abschnitt im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz, der jedoch irreführend interpretiert wird.

von Steffen Kutzner

Ryan McGuire Pixabay
Von einer Impfpflicht für Auslandsreisende steht im Infektionsschutzgesetz nichts. Einzelne Abschnitte sind jedoch nicht unumstritten.(Symbolbild: Ryan McGuire / Pixabay)
Behauptung
Das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz sehe vor, dass jemand, der aus einem Risikogebiet zurück nach Deutschland reise, zwingend eine Impfung gegen SARS-CoV-2 benötige.
Bewertung
Unbelegt. Der Abschnitt im Infektionsschutzgesetz wird irreführend interpretiert. Sprecher von Union und SPD bestreiten, dass eine solche Regelung geplant ist.

Menschen, die aus einem Risikogebiet zurück nach Deutschland einreisen, sollen künftig verpflichtet werden können, eine Impfung gegen SARS-CoV-2 vorzuweisen, heißt es in einem Beitrag auf Telegram, der mehr als 140.000 Mal gesehen wurde. Auch auf Facebook wurde die Behauptung verbreitet. Sie ist jedoch falsch. Der Entwurf des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes sieht nicht vor, Menschen ohne Impfung von der Einreise abzuhalten.

Konkret heißt es in dem verbreiteten Beitrag: „Menschen, die nach Deutschland einreisen und eventuell ‚einem erhöhten Infektionsrisiko‘ für Covid-19 ausgesetzt waren, sollen in Zukunft verpflichtet werden können, eine Impfdokumentation bezüglich SARS-CoV-2 vorzulegen.“ Außerdem müsse eine Impfung vorweisen, wer mit Bus, Bahn, Schiff oder Flugzeug aus einem Risikogebiet zurück nach Deutschland reise. 

Und weiter: „Man soll keine Auslandsreise mit diesen Verkehrsmitteln mehr antreten können, ohne sich vorher impfen zu lassen denn das Zielgebiet kann von einem Tag auf den anderen zum Risikogebiet erklärt werden. Damit wird die Rückreise unmöglich, es sei denn, man lässt sich noch vor Rückreise im Ausland impfen!“ Als Quelle für die Behauptungen wird auf den Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes verwiesen.

Behauptung basiert auf einer Interpretation des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes

Die Behauptung basiert wohl auf einer irreführenden Interpretation einiger Absätze in dem inzwischen verabschiedeten Gesetzesentwurf des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes von CDU/CSU und SPD. Dieser ist seit dem 18. November Teil des Infektionsschutzgesetzes und trat am 19. November in Kraft. In § 36 ist unter anderem geregelt, welche Verordnungen gelten, wenn Personen aus Gebieten mit erhöhtem Infektionsrisiko für eine „bestimmte bedrohliche übertragbare Krankheit“, wie beispielsweise Covid-19, nach Deutschland einreisen wollen oder eingereist sind (ab Absatz 7). 

Auszug aus § 36 des Infektionsschutzgesetzes. (Quelle: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz / Screenshot vom 30. November und Markierung: CORRECTIV)

Es ist richtig, dass im Infektionsschutzgesetz unter § 36, Absatz 10, Satz 1. b) auch von einer „Impfdokumentation“ die Rede ist. Weiter steht dort unter Absatz 10, Punkt 2, dass Reiseunternehmen „im Rahmen ihrer betrieblichen und technischen Möglichkeiten […] verpflichtet sind, [] Beförderungen aus einem Risikogebiet in die Bundesrepublik Deutschland nur dann durchzuführen, wenn die zu befördernden Personen den nach Nummer 1 auferlegten Verpflichtungen vor der Beförderung nachgekommen sind.“

Als Möglichkeiten eines Nachweises, dass man nicht mit Covid-19 infiziert ist, werden aber nicht nur eine „Impfdokumentation“, sondern auch auch ein ärztliches Zeugnis oder ein Testergebnis genannt. 

Wie uns ein Pressesprecher der SPD-Fraktion im Bundestag telefonisch erklärt, sind die vier aufgelisteten Optionen Ergänzungen zueinander. Solange es keinen Impfstoff gebe, gebe es natürlich auch keine Impfdokumentation. Dann müsste beispielsweise das letzte Testergebnis vorgelegt werden. Wer nachweisen könne, dass eine Impfung vorliegt, müsse sich also nicht zusätzlich testen lassen.

Auch eine Pressesprecherin des Bundesgesundheitsministeriums erklärt via E-Mail: „Es handelt sich beim § 36 IfSG um Ermächtigungen, die nicht alle kumulativ angewendet werden sollen.“

Im Gesetz ist von der Vorlage einer „Impfdokumentation“ die Rede – nicht von einer Impfpflicht

Es geht in diesem Teil des Infektionsschutzgesetzes also lediglich darum, dass die deutschen Gesundheitsämter verbindliche Informationen erhalten, inwieweit bei Einreisenden bereits Tests gemacht worden sind oder ob ein Impfschutz vorhanden ist. 

Sollte in Zukunft eine Rechtsverordnung erlassen werden, die das Vorlegen einer Impfdokumentation verpflichtend macht, wäre auch das nicht mit einer Impfpflicht gleichzusetzen, so Julia Camerer weiter. Es bedeute nicht, dass in dieser Impfdokumentation auch eine tatsächliche Impfung gegen SARS-CoV-2 eingetragen sein müsse. 

CDU/CSU-Sprecherin: Es wird keinem Bürger versagt, in die Bundesrepublik einzureisen

Der Absatz im Infektionsschutzgesetz zu Reiseunternehmen bedeutet nicht, dass jemand, der aus einem Risikogebiet zurück nach Deutschland reisen möchte, zur Impfung gezwungen wird. Er bedeutet auch nicht, dass man ungeimpft keine Auslandsreise mehr antreten dürfe. 

Der Vorschlag zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz stammt von CDU/CSU und der SPD. Wir haben beide Fraktionen angefragt, wie die Passage zu verstehen ist.

Karin Maag, die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärte per E-Mail, „dass es keiner Bürgerin und keinem Bürger versagt werden wird, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen“. Wer aus einem Risikogebiet einreise, habe jedoch bestimmte Verpflichtungen, „beispielsweise sich zu melden, sich testen zu lassen nach Aufforderung durch das Gesundheitsamt oder sich in Quarantäne zu begeben“, je nach Quarantäne-Verordnung des jeweiligen Bundeslandes, in das man zurückkehren wolle.

Auszug aus der E-Mail von Karin Maag vom 23. November 2020. (Screenshot: CORRECTIV)

CDU/CSU und SPD bestätigen: Ungeimpfte Deutsche können weiterhin einreisen – auch aus Risikogebieten

Julia Camerer von der Pressestelle der SPD-Fraktion im Bundestag schrieb auf unsere Anfrage, dass die Impfdokumentation, die laut Gesetz vor einer Rückreise nach Deutschland vorgelegt werden muss, momentan nicht vorgeschrieben sei: Das Gesetz erlaube der Regierung bisher lediglich, die Vorlage einer Impfdokumentation verpflichtend zu machen. Die Regierung habe von dieser Erlaubnis bisher jedoch keinen Gebrauch gemacht: „Im Gesetz ist also die Möglichkeit vorgesehen; eine entsprechende Rechtsverordnung der Bundesregierung gibt es aber bislang nicht“, erklärte Camerer. 

Auch ein versteckter Zwang zur Impfung sei aus dem Gesetz nicht abzuleiten. Julia Camerer schrieb uns, was es mit der Formulierung im Gesetz auf sich hat: Es gehe darum, dass das zuständige Gesundheitsamt notwendige Informationen erhalte, „um Schutzmaßnahmen veranlassen zu können. Bei Einreisenden sind das vor allem Quarantäne und Testpflicht. Menschen, die zukünftig über eine Schutzimpfung verfügen, müssen beispielsweise dann selbstverständlich nicht in Quarantäne.“ 

Was bedeutet „Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit“?

Auch die explizite Einschränkung eines Grundrechts hat auf Telegram zu Spekulationen geführt: „Es wird explizit erwähnt, dass das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 GG) durch diese und weitere Regelungen eingeschränkt wird“, heißt es in dem Beitrag. Dies wird offenbar als weiterer Beleg dafür angesehen, dass Menschen gegen ihren Willen geimpft werden können.

Konkret heißt es in Paragraf 36, Absatz 13 des Infektionsschutzgesetzes: „Durch die Absätze 4 bis 7 und 10 werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) und der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) eingeschränkt.“

SPD: Gemeint sind ärztliche Untersuchungen

Die Einschränkung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit beziehe sich auf ärztliche Untersuchungen, die Einreisende ohne ärztliches Attest oder negativen Testbefund dulden müssten – vor allem Fiebermessen, schrieb uns Julia Camerer.

Auszug aus der E-Mail von SPD-Pressesprecherin Julia Camerer vom 24. November 2020. (Screenshot und Markierung: CORRECTIV)

Michael Winkelmüller, Anwalt für Verwaltungsrecht in Bonn erklärt uns via E-Mail dazu: „Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit wird bei allen ärztlichen Untersuchungen berührt. Dazu zählen auch Fiebermessungen im Ohr oder sogar an der Stirn. Das heißt übrigens nicht, dass Fiebermessungen im Ohr gegen das Grundrecht verstoßen. Für das Zitiergebot reicht es aus, dass die Grundrechte berührt sind.“

Das Zitiergebot besagt: Werden durch ein spezifisches Gesetz Grundrechte eingeschränkt,  muss im Gesetz explizit erwähnt werden, welche Rechte dies betrifft. 

Juristen bewerten Infektionsschutzgesetz unterschiedlich

Der Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes zur vermeintlichen Impfpflicht wird von Juristen unterschiedlich interpretiert. So antwortete uns Christian Pestalozza, emeritierter Jura-Professor an der Freien Universität Berlin: „Die Pflicht, eine Impfdokument vorzulegen, läuft natürlich und gar nicht ‚versteckt‘ auf eine Impfpflicht hinaus.“ 

Michael Winkelmüller erklärt uns dagegen via E-Mail: „§ 36 Abs. 10 Infektionsschutzgesetz (IfSG) enthält keine ‚versteckte Impfpflicht‘. Erst recht lässt sich daraus keine ‚allgemeine Impfpflicht‘ ableiten oder ein Verbot, nach Deutschland einreisen zu dürfen, wenn man nicht vor der Beförderung eine Impfung hat durchführen lassen.“

Nach Ansicht von Winkelmüller steht die Passage, die als Impfpflicht interpretiert werden könnte, an einer anderen Stelle des Gesetzes, „nämlich in § 20 IfSG. Nach Absatz 6 wird das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben […].“

Solche Ermächtigungsgrundlagen gebe es schon „mindestens seit 1961“, erklärt Winkelmüller. Dennoch werde die Frage, ob Teile des Infektionsschutzgesetzes als Impfpflicht interpretiert werden könnten „von den Verfassungsrechtlern derzeit intensiv diskutiert. Das Problem ist aber eher theoretisch, weil sowohl das Robert-Koch-Institut als auch der Bundesgesundheitsminister eine Impfpflicht für Covid-19 politisch ausgeschlossen haben“, so Winkelmüller.

Spahn: „Es wird keine Impfpflicht geben“ 

Wir fragten auch beim Gesundheitsministerium bezüglich der Passage zur Impfdokumentation bei Auslandsreisen nach. Dieses verwies auf die Bundestagsdiskussion zum Dritten Bevölkerungsschutzgesetz vom 18. November 2020, in der Jens Spahn noch einmal betonte, dass eine Impfpflicht nicht zur Debatte stehe: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben“ (bei Minute 1:09:35). 

Ähnlich klare Worte findet auch Julia Camerer, Pressesprecherin der SPD-Fraktion, die uns per E-Mail erklärte: „Eine Impfpflicht ist [Anm. der Red.: im Infektionsschutzgesetz] nicht geregelt und auch nicht versteckt. Sie stand und steht nicht zur Debatte. Niemand will sie. Bund und Länder haben sie schon mehrfach abgelehnt.“

Fazit

Es gibt keine Belege, dass das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz eine „versteckte Impfpflicht“ für Reisende, die aus einem Risikogebiet zurück nach Deutschland wollen, enthält. Vertreter von Union und SPD dementieren, dass das Gesetz solche Pläne beinhaltet. Es wurde von Politikern wiederholt darauf hingewiesen, dass es keine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 geben werde. Das Gesetz schafft zwar die Möglichkeit, dass die Vorlage einer Impfdokumentation verlangt werden kann – Alternativen werden aber auch genannt, zum Beispiel ein Testergebnis oder eine ärztliche Bescheinigung.

Redigaturen: Kathrin Wesolowski, Uschi Jonas, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: 

  • Paragraf 36 des Infektionsschutzgesetzes (Link)
  • Paragraf 20 des Infektionsschutzgesetzes (Link)
  • Bundestagsdebatte über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes am 18. November 2020, Mediathek des Bundestags (Link)