Gesundheit

Stumm und ausgeliefert: Das Milliardengeschäft mit Beatmungspatienten

Der Markt für sogenannte Beatmungs-WGs boomt: Geschätzt bis zu 30.000 Patientinnen und Patienten werden von Intensivpflegediensten ambulant versorgt. Genaue Zahlen gibt es nicht, auch keine echte Qualitätskontrolle. Eine Recherche von CORRECTIV und Frontal21 über Menschen, die ohne Aussicht auf Besserung beatmet werden und über eine abgeschlossene Welt, die für Betreiber und Investoren ein Milliardengeschäft ist.

von Gabriela Keller , Tonja Pölitz , Alexander Wenzel

Die Zahl der Patienten in Beatmungs-WGs nimmt immer mehr zu. Sie bleiben dort oft ohne Aussicht auf Besserung © Mohamed Anwar
Die Zahl der Patienten in Beatmungs-WGs nimmt immer mehr zu. Sie bleiben dort oft ohne Aussicht auf Besserung © Anwar

Hubert Kretz, pensionierter Chemiker mit Doktortitel, schwebt in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Er liegt fast reglos da. Ab und an flattert das Lid an seinem rechten Auge. Er atmet ruhig und regelmäßig – ohne Kanüle im Hals. Sein Sohn Daniel, ein schmaler Mann, 33 Jahre, steht neben ihm in der Stille des Zimmers. Was sein Vater noch mitkriegt, weiß niemand. Aber er macht sich nichts vor. „Seine Kopfverletzungen waren so stark, dass er nicht mehr wach werden wird“, sagt er. „Er könnte so sicher noch 20 Jahre leben. Aber ich kenne ja meinen Vater, und ich weiß: In dem Zustand hätte er das nie gewollt.“

Das Loch in Hubert Kretz’ Luftröhre hat sich inzwischen geschlossen. Nur noch eine kleine Mulde in seiner Haut ist zu sehen. Erst vor wenigen Wochen holte ihn sein Sohn aus einer Einrichtung heraus, die mit seinem Vater unter Umständen noch jahrelang hätte Geld verdienen können, ohne dass es eine Aussicht auf eine Besserung seines Zustandes gab.

Als Daniel Kretz von dem Platz in der Beatmungs-WG hörte, war seine Erleichterung zunächst groß. Er hatte nicht gewusst, dass es das überhaupt gibt, Wohngemeinschaften, in denen nur Schwerstpflegefälle leben, rund um die Uhr betreut von einem Intensivpflegedienst.

Er fuhr zu der Adresse am Rand von Köln, von ihm zu Hause ist das nur ein kleines Stück, sah helle Zimmer, saubere Flure, freundliche Pflegerinnen, draußen ein Gärtchen und fand: Das wäre vielleicht das Richtige für meinen Vater. Dort könnte er gut aufgehoben sein.

Jedes Jahr zwei bis vier Milliarden Umsatz 

Der Vater war 70 Jahre alt, als er im Sommer 2019 schwer auf der Autobahn verunglückte. Seither liegt er im Wachkoma. Gleich vor Ort öffneten die Rettungskräfte seine Luftröhre, damit er trotz der Schwellungen genug Luft kriegt. Viel deutet darauf hin, dass er den Schnitt im Hals, Fachbegriff Tracheostoma, aus medizinischer Sicht nach kurzer Zeit nicht mehr braucht; das geht aus Unterlagen und Aussagen hervor, die CORRECTIV und Frontal21 vorliegen. 

Die Öffnung im Hals macht Kretz zum Teil von einem gewaltigen Markt. Mit der ambulanten Versorgung von Beatmungspatienten werden in Deutschland jedes Jahr zwei bis vier Milliarden Euro umgesetzt, und die Zahlen wachsen rasant: Studien zufolge gab es 2005 gerade 1.000 Patientinnen und Patienten. Heute sind es Schätzungen zufolge 19.000 bis  30.000.

Wer dem Fall Hubert Kretz nachgeht, erhält Einblicke in eine Branche, die weitgehend unbemerkt riesige Umsätze mit der Beatmung von Menschen macht. Ohne dass die Einrichtungen wirksam kontrolliert werden.

„Meine Mutter war eine Geldquelle“, sagt ein Mann auf dem Friedhof in Dortmund und streicht etwas Staub von einem Grabstein mit der Aufschrift „Mama“.

„Die Patienten werden möglichst krank gehalten, damit man sie maximal abrechnen kann“, sagt ein Pfleger, der CORRECTIV über Missstände berichtet, die er tagtäglich erlebt.

„Eine regelhafte Überprüfung von Beatmungs-WGs ist noch nicht möglich“, teilt eine Kontrollinstanz der Krankenkassen per E-Mail mit.

Und Investoren werben mit „Top Renditen“ für Investments in Beatmungs-WGs.

Es gibt viele Patienten wie Hubert Kretz, manche hängen an Schläuchen und Geräten, andere haben, wie er, nur die Kanüle im Hals. Überall in Deutschland haben seit einigen Jahren Beatmungs-WGs eröffnet, und es kommen ständig neue dazu. Nun könnte die Corona-Krise das Wachstum der Branche weiter beschleunigen. Die Pflegedienste vermieten bei diesem Geschäftsmodell einzelne Zimmer an ihre Patientinnen.

Die Miete bezahlen diese oder ihren Angehörigen in der Regel privat. Weil die Zimmer vor dem Gesetz als privater Wohnraum gelten, können die Anbieter von der Krankenkasse in einem zweiten Schritt für die Versorgung die lukrativen Sätze für häusliche Pflege einfordern. 

Anders ausgedrückt: Zusätzlich zur privaten Miete von meist einigen hundert Euro, die in aller Regel die Patienten bezahlen, kassieren die Pflegedienste von den Krankenkassen pro Fall nochmal zwischen 10.000 und 25.000 Euro im Monat in manchen Fällen sogar mehr.

Auf dem Beatmungs-Markt mischen internationale Investoren mit

Es ist ein Montag im März 2021, gut 19 Monate nach dem Unfall. Daniel Kretz hat seinen Vater wenige Wochen zuvor aus der Beatmungs-WG in ein normales Altenheim, das AWO-Seniorenzentrum Witten, verlegt. Seine Ernährung ist eingestellt, Kretz wird nur noch palliativ versorgt. Nun tritt der Sohn noch einmal an sein Bett, beugt sich herab zu seinem Vater, er streicht ihm über die Hände, flüstert ihm etwas ins Ohr. Er kann jetzt nicht mehr viel tun. Nur noch auf das Ende warten. 

Die hohen Renditen, die in diesem Bereich möglich sind, ziehen alle möglichen Akteure an, darunter sind seriöse Anbieter, Kriminelle, aber auch Geschäftemacher, kleinere und größere Firmen, und zunehmend mischen auch Konzerne und international agierende Investorengruppen mit: „Allein im Jahr 2018“, schreibt die Marketing-Agentur pm pflegemarkt.com in einer Analyse, „betrug das Transaktionsvolumen im Segment der Intensivpflege durch die Übernahmen großer Unternehmen ca. 800 Millionen Euro.“

Das heißt nicht, dass die Versorgung zwangsläufig mangelhaft oder falsch ist. Es gibt auch seriöse Anbieter, und gerade für Patienten, die noch vergleichsweise selbstständig sind, kann eine solche WG das Richtige sein. Aber die Mehrheit der Bewohnerinnen ist davon weit entfernt.

Manche liegen im Wachkoma, andere leiden an schweren Herz- oder Lungen- oder Nervenerkrankungen, sind nach einer Reanimation nicht mehr zu sich gekommen oder können in Folge von Lähmungen oder Schädel-Hirnverletzungen nicht selbstständig atmen. 

Verbessern lässt sich der Zustand der Todkranken mit Hilfe der Intensivmedizin in aller Regel nicht mehr, wohl aber ihr Siechtum verlängern – und von jedem Monat mehr profitieren die Intensivpflegedienste. 

Die WG, in der Hubert Kretz versorgt wurde, betreibt ein Kölner Intensivpflegedienst. Als CORRECTIV und Frontal21 die Firma um Stellungnahme bitten, schaltet sie eine Anwaltskanzlei ein.

Diese weist alle Vorwürfe zurück und teilt mit, über die Behandlung der Patienten entscheide allein der Arzt, nicht der Pflegedienst. „Damit ist auch die Unterstellung obsolet, eine Behandlung erfolge ,abrechnungsbedingt’.“ 

Auf die Frage, ob der Pflegedienst wusste, dass Kretz das Tracheostoma nicht braucht, gibt die Juristin keine Antwort. Nur so viel: „Die Versicherten (oder für sie Handelnden) reichen die ärztliche Verordnung bei der Krankenkasse ein, die eine Prüfung vornimmt und den Pflegedienst anschließend über Art und Umfang“ der Leistungen informiere. 

Viele Patientinnen und Patienten in den Beatmungs-WGs können sich nicht mehr äußern – oft bleiben sie dort bis zum Tod. ©  Anwar

Köln, ein Viertel an der Peripherie der Stadt. En weißes Gebäude steht an einer ruhigen Seitenstraße zwischen Feldern und Brachflächen. Von außen weist ein Schild auf den Intensivpflegedienst hin. Sonst sieht es nicht viel anders aus als die Wohnhäuser ringsum, zwei Stockwerke, Balkone, Giebeldach.

„Keine ausreichende Qualitätskontrolle“ für Beatmungs-WGs

Es wird nirgends erfasst, wie viele Patientinnen und Patienten genau in Beatmungs-WGs liegen und auch nicht, wie viele WGs es überhaupt gibt. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Die Betreiber laborieren in einer Gesetzeslücke, in der wenige Regelungen greifen. 

Das Problem ist seit Jahren bekannt. Der mdr hat bereits 2011 über die Missstände berichtet, die Welt 2012. Seither hat sich wenig geändert, zumindest bisher. Im Sommer 2020 hat der Bundestag ein neues Intensivpflegegesetz verabschiedet, das in Zukunft für regelmäßige Kontrollen sorgen und verlässliche Standards in den WGs sichern soll.  „Das Problem ist, dass Beatmungs-WGs als ambulante Strukturen gewertet werden“, sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. „Damit unterliegen sie nicht den aufsichtsrechtlichen Normen von stationären Strukturen und keiner ausreichenden Qualitäts- und Finanzkontrolle.” 

Manche WGs sind in normalen Mietwohnungen untergebracht, andere erinnern eher an kleine Pflegeheime.

Da das Gesetz nicht vorschreibt, wer in solchen WGs arbeiten darf, setzen viele Pflegedienste keine Kranken- oder Intensivpfleger ein, sondern Altenpfleger oder Hilfskräfte. Von den hohen Sätzen der Krankenkassen profitieren deshalb vor allem Anbieter, denen es eher um die Rendite geht als um das Patientenwohl.

Der Patient sei „Opfer einer sinnlosen Behandlung“ geworden

Nach allem, was man weiß, gab es schon frühzeitig Anzeichen, dass Hubert Kretz die Kanüle in seiner Luftröhre gar nicht braucht. Doch offenbar machte niemand Anstalten, dies zu prüfen. Inzwischen ist Kretz gestorben. Aber für seinen Sohn ist der Kampf nicht vorbei. Er hat Strafanzeige gegen den Hausarzt erstattet, der seinen Vater während seiner Zeit in der Beatmungs-WG behandelt hat, oder besser gesagt: behandeln sollte. 

In der Begründung der Anzeige, die CORRECTIV und Frontal21 vorliegt, schreibt eine Anwältin aus einer auf Medizinrecht spezialisierten Kanzlei, dass Kretz in der Beatmungs-WG „Opfer einer sinnlosen intensivmedizinischen Behandlung entgegen seinen Behandlungswünschen geworden“ sei. Statt den Sohn als gesetzlichen Vormund zu befragen, habe der Mediziner „den Patienten belastende, niemals gewollte“ Maßnahmen verordnet. Der Arzt weist die Vorwürfe pauschal zurück, ohne auf einzelne Fragen von CORRECTIV und Frontal21 einzugehen. Nachfragen lässt er komplett unbeantwortet.

Durch das Tor eines Friedhofs im Dortmunder Osten steuert ein Mann auf ein Grab zu, auf dem Narzissen zwischen Engelsfiguren blühen. Patrick Slickers, 42 Jahre, kommt oft hierher. Es ist der einzige Ort, sagt er, an dem er sich seiner Mutter noch nahe fühlt.

Agnes Cadman, damals 63, hatte COPD im Endstadium, eine schwere Atemwegserkrankung. Ein Lungeninfekt machte sie Anfang des Jahres 2018 zum Intensivpflegefall. Anders als Hubert Kretz war sie auf das Beatmungsgerät angewiesen und kam nicht mehr davon los. 

Mehrere Monate lang wurde sie stationär behandelt, wechselte zwischen verschiedenen Krankenhäusern, dann kam der Anruf, für den Sohn völlig überraschend: Seine Mutter werde entlassen, und zwar bald, innerhalb einer Woche musste eine Lösung für sie her. 

Slickers fragte überall herum, postete Hilferufe auf Facebook. Dann stieß er auf einen Intensivpflegedienst, der mehrere Beatmungs-WGs betreibt, unter anderem in Wuppertal: „Der erste Besuch war sehr nett“, sagt er, „das war für mich schon ein Glücksgriff in dem Moment.“

Jetzt sagt Slickers, er macht sich noch Vorwürfe, seine Mutter dorthin gebracht zu haben. Ein Sprecher des Pflegedienstes weist Kritik an der Qualität der Pflege zurück. Die Patientin sei zu jeder Zeit „intensiv, fürsorglich und pflegefachlich absolut sachgemäß“ versorgt worden. Slickers sieht das anders. Er sagt, er habe seine Erlebnisse bis jetzt nicht verarbeitet, er mache deshalb eine Psychotherapie. „Mein Eindruck war, dass es nur um den wirtschaftlichen Teil ging“, sagt er. „Meine Mutter war eine Geldquelle.“

Beatmung für Betroffene oft eine Tortur

Für die Betroffenen sei die Beatmung in vielen Fällen eine Tortur, sagt der Intensivfachpfleger und Pflegeberater Andreas Herzig. Die Kanüle steckt wie ein Fremdkörper im Hals; der Körper versucht, ihn abzustoßen und produziert Schleim. Damit der Betroffene daran nicht erstickt, muss die Kanüle alle paar Stunden abgesaugt werden. Und das gehe mit  Atemnot, Erstickungsgefühlen und Todesangst einher – vor allem, wenn die Geräte von fachlich nicht qualifizierten Pflegekräften bedient werden. „Der Mensch befindet sich im Dauerstress, im Abwehrstress“, sagt er. „Das ist keine Hilfe, das ist Folter.“

Herzig weiß, wovon er redet. Er hat 20 Jahre lang auf Intensivstationen gearbeitet und zweieinhalb Jahre in Beatmungs-WGs. Fast durchgehend habe es bei den Pflegediensten an qualifiziertem Personal gefehlt.

In allen WGs, wo er tätig war, sei er der einzige Intensivfachpfleger gewesen. Sonst hätten dort vor allem Altenpflegerinnen und Altenpfleger gearbeitet, die in Fortbildungen der Umgang mit den Geräten erlernt hatten. Die meisten seien heillos überfordert gewesen, sagt er: „Das hat mit Fachkompetenz nichts zu tun. Ein Altenpfleger kann das nicht leisten, was da gefordert wird.”

Herzig macht das wütend. Er arbeitet jetzt beim Palliativnetzwerk Witten und hat auch den Fall Hubert Kretz geprüft. Seit Jahren beobachtet er die Folgen des wirtschaftlichen Drucks im Gesundheitssystem und spricht von einem „Inkassosystem“ auf Kosten von Todkranken. Er selbst habe zwar dafür gesorgt, dass seine Patienten beim Absaugen nicht unnötig leiden müssen. „Aber ich kriegte auch mit, wie im Nebenzimmer der Altenpfleger mit der verstopften Kanüle nicht klarkommt. Damit hatte ich die größten Probleme.“ Viele der Patienten in den Beatmungs-WGs seien nicht mehr in der Lage, für sich zu sprechen und in dem System gefangen. 

Renditedruck aus der Geschäftsführung

Wie Andreas Herzig es sieht, liegt das Problem nicht allein bei den Pflegediensten: Da sind zum einen die Krankenkassen, die die Verordnungen der Ärzte nicht ausreichend prüften. Und da sind die Mediziner, die eine solche intensivpflegerische Versorgung verordnen.

Die erste Fehlentscheidung, sagt Herzig, werde in den Krankenhäusern getroffen: Auch dort werde oft auf Grundlage wirtschaftlicher Kennziffern entschieden. „Wenn der Patient nicht mehr genug abwirft, steigt der Druck, ihn zu entlassen. Vor dem Termin wird noch schnell die Kasse informiert. Und danach guckt niemand mehr, was aus dem Patienten wird.“ 

Ein weiterer Krankenpfleger, mit dem CORRECTIV und Frontal21 sprachen, bestätigt die Praktiken: „Die Patienten werden möglichst krank gehalten, damit man sie maximal abrechnen kann.“ Der Pfleger arbeitet in einer WG, die zu einer großen Pflegefirmengruppe gehört, die Muttergesellschaft der Gruppe sitzt in einem europäischen Nachbarland. Er will anonym bleiben. Mehrere Jahre lang war er in der Bereichsleitung tätig. 

Die Kanülen müssen regelmäßig abgesaugt werden. Das gehe mit „Atemnot, Erstickungsgefühlen und Todesangst“ einher, so beschreibt es ein Pfleger. © Anwar

Der Renditedruck sei von der Geschäftsführung gekommen und intern offen kommuniziert worden. „Es kommt zum Beispiel vor, dass in der Pflege erkannt wird, dass die maschinelle Beatmung nicht in dem Umfang nötig ist wie ärztlich angeordnet, zum Beispiel braucht der Patient keine 24 Stunden Beatmung, sondern nur zwölf“, sagt er. „Der nächste Schritt wäre dann eigentlich, eine neue Verordnung zu besorgen.“

Da eine 24-stündige Versorgung aber mehr Geld einbrächte, würden nach seinem Eindruck die notwendigen Dokumente und Meldungen nicht immer erstellt. Belege dafür gibt es nicht, und es lässt sich nicht prüfen, ob es sich um Einzelfälle handelt oder ob solche Methoden verbreitet sind. Aus den WGs dringe selten etwas nach außen, sagt er: „Die Patienten befinden sich in totaler Abhängigkeit vom Pflegedienst oder der Institution, in der sie sich befinden.“ 

Und nun beflügle die Coronakrise das Geschäft: Studien zufolge überleben gerade ältere und vorerkrankte Patienten schwere Verläufe bei maschineller Beatmung meist nicht. Und die, die nicht sterben, haben wenig Chancen, von den Geräten loszukommen. „Die Coronakrise ermöglicht dem Markt Zugang zu neuen Beatmungspatienten“, sagt der Pfleger. „Und einige landen in WGs wie unserer.“ Eine Corona-Patientin lebe nun in der WG, wo er arbeitet. Die habe sich von der Krankheit nicht erholt und werde weiter beatmet.

„Skalpierungsverletzung frontal beidseits“

August 2019. Hubert Kretz hat mit seinen beiden Enkeln einen Ausflug gemacht. Auf dem Heimweg verliert er auf der A3 nahe Königswinter die Kontrolle über sein Auto und überschlägt sich. Die Kinder tragen nur Schrammen davon, ihn selbst erwischt es schlimm. Das Autodach hat ihm die Kopfhaut abgetrennt, „Skalpierungsverletzung frontal beidseits“, steht im  Bericht der Uniklinik Köln, es gibt eine Liste von Diagnosen, Brüche, schwerste Schäden an Schädel, Hirn, Rückenmark, „posttraumatische Subarachnoidalblutung beiderseits“, „Fraktur des 4. Halswirbels“, „dislozierte Obitabodenfraktur“.

Jetzt sitzt Daniel Kretz mit seiner Frau am Wohnzimmertisch; hinter ihnen breitet sich das riesige Aquarium aus, das seinem Vater gehörte.

Nach dem Unfall bleibt Hubert Kretz zwei Monate im Krankenhaus. Dann ruft eine Mitarbeiterin an: Man könne nichts mehr für seinen Vater tun. Er werde daher entlassen, und zwar möglichst schnell. Daniel Kretz trifft diese Nachricht wie ein Schlag aus dem Nichts. Wohin mit einem Menschen, der im Wachkoma liegt, noch dazu mit Kanüle im Hals? „Wir haben händeringend gesucht“, sagt er.

Das Leben der Familie war ohnehin aus den Fugen: Seine Frau hatte gerade eine Krebserkrankung überstanden. Und die Kinder, zwei und vier, die mit im Auto gesessen hatten, machten eine Psychotherapie. Die Überlastung machte das Paar anfällig für schlechte Ratschläge. Als sie auf das Angebot in der Beatmungs-WG stießen, stellten sie nicht viele Fragen. „Wir waren in der Situation total dankbar“, sagt sie, „dass sich jemand um alles kümmert.“

Daniel Kretz holt einen Ordner, in dem er die Unterlagen abgeheftet hat, Berichte, Gutachten, Verträge. Zunächst musste er einen Mietvertrag mit der der Pflegefirma abschließen. Rund 680 Euro waren demnach für das 34-Quadratmeter-Zimmer an Miete pro Monat fällig. 436,80 Euro setzte die Firma für die intensivpflegerische Versorgung an – hochgerechnet auf 31 Tage macht das im Monat 13.540,80 Euro, so geht es aus einem Kostenvoranschlag an die Krankenkasse hervor. Rund 2000 Euro wurden für Sondenernährung, Lagern, Betten und Grundpflege berechnet. 

Pflegefirma und der Arzt bleiben klare Antworten schuldig

Ende Oktober 2019 zog sein Vater in die Beatmungs-WG in Köln. Wenige Monate später, um den Jahreswechsel herum, sagt der Sohn, habe er von der Logopädin gehört, dass die Trachealkanüle vielleicht entfernt werden könne. So schreibt die Logopädin es später auch in einem Bericht, der CORRECTIV und Frontal21 vorliegt: „Die Notwendigkeit der Versorgung mit einer Kanüle sollte dringlichst im Rahmen einer Schluckuntersuchung (FEES) abgeklärt werden; eventuell ist eine Dekanülierung möglich.“ 

Aber niemand schien ein Interesse daran zu haben, dass sein Vater das Loch im Hals los wird, sagt Daniel Kretz. Als er danach gefragt habe, hätten die Pflegekräfte gesagt: Er wisse aber schon, dass sein Vater die WG dann wieder verlassen müsse. Und so, wie das klang, sagt er, kam es ihm nicht so vor, als gäbe es eine Alternative, jedenfalls keine gute.

Das ist die Version von Daniel Kretz. Bestätigen lässt sie sich nicht. Die Pflegefirma schweigt dazu. Sie teilt lediglich mit, nicht sie, sondern der angeschlossene Arzt habe über die Leistungen entschieden. Zu allem anderen könne man wegen der Schweigepflicht keine Auskunft geben. Kretz hat die Firma gegenüber CORRECTIV und Frontal21 von ihrer Schweigepflicht entbunden. Dies ändere daran nichts, schreiben die Anwälte der Firma. 

Mit der Zeit wuchsen bei Daniel Kretz die Zweifel. Der an die WG angeschlossene Arzt, ein Allgemeinmediziner, sei praktisch nie greifbar gewesen, sagt Kretz.  „Es war komisch, dass in der Zeit, wo mein Vater da war, der angeschlossene Hausarzt sich nie gemeldet hatte, dass man lange Zeit keinen Kontakt hatte.“

Welche Therapieziele verfolgte der Arzt? Und welchen Zweck hatte die Trachealkanüle? Als gesetzlicher Vertreter war er jetzt für seinen Vater verantwortlich. Doch ohne klare Antworten konnte er keine Entscheidungen treffen.

Auch auf die Fragen von CORRECTIV und Frontal21 antwortet der Hausarzt nur äußerst knapp; die Vorwürfe weist er zurück, ohne näher auf die einzelnen Punkte einzugehen. 

Neues Intensivpflegegesetz soll „Fehlanreize“ beseitigen

Kretz beschreibt seinen Vater als aktiven Menschen, einen Naturwissenschaftler, der sich ohne Scheu mit Vorgesetzten anlegte und Ärzte lieber mied. Er habe nicht einmal Medikamente genommen, die er verschrieben bekam. Aber er hatte keine Patientenverfügung – das machte die Sache kompliziert. Sein Wille hätte im Gespräch mit dem Sohn ermittelt werden müssen. Aber wie es aussieht, war das kein Thema.

Eine dauerhafte Versorgung ohne Therapieziel, ohne Aussicht auf Besserung, und ohne auch den Willen des Patienten zu Rate zu ziehen – für den Palliativmediziner Matthias Thöns steht der Fall Hubert Kretz beispielhaft für Fehlentwicklungen eines renditeorientierten Gesundheitssystems. Thöns übernahm den Patienten, als er im Februar in das Altenheim in Witten verlegt wurde.

„Das Gruselige ist, dass sich relativ schnell feststellen ließ, dass er die Trachealkanüle nicht braucht“, sagt er, „er hat die ganzen normalen Reflexe im Hals, die normalen Hustenreflex, die normalen Schluckreflex.“  

Der Palliativmediziner kritisiert die medizinische Überversorgung Sterbenskranker seit vielen Jahren. Es ist nicht so, dass er die Intensivmedizin an sich ablehnt. Aber er sagt, er kennt viele Fälle, bei denen es so ähnlich läuft wie bei dem Rentner Hubert Kretz. „Experten sagen, dass das kein Einzelfall ist, sondern dass 70 Prozent der Menschen, in diesen Beatmungs-WGs langfristig diese Trachealkanüle nicht brauchen“, sagt er. „Das heißt, ich habe hier einen Patienten erwischt, der mit einer Behandlungsmaßnahme, die qualvoll ist, über lange Zeit behandelt wird, ohne dass irgendjemand die Indikation überprüft.“

Auch der Gesetzgeber hat die Missstände inzwischen erkannt: Mit dem neuen Intensivpflegegesetz will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) „Fehlanreize und Missbrauchsmöglichkeiten“ beseitigen. So steht es im Entwurf. Weiter heißt es darin: „Die bestehenden Qualitäts- und Versorgungsmängel in der außerklinischen Intensivpflege gefährden nicht nur die bedarfsgerechte Versorgung der Versicherten, sondern schaden auch der Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten.“

Vorgesehen sind in dem Gesetz verbindliche Qualitätsmaßstäbe und regelmäßige Kontrollen. Zudem soll bei jedem Patienten in Zukunft frühzeitig untersucht werden, ob er von der Beatmung entwöhnt werden kann. Das Gesetz trat Ende Oktober 2020 in Kraft. Trotzdem gelten die Neuregelungen bisher größtenteils nicht: Derzeit liegt das Gesetz beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Der soll Richtlinien für die Umsetzung entwickeln.

Auch den Krankenkassen fehlt Überblick über Beatmungs-WGs

Bislang kümmert sich praktisch niemand darum, was aus den Patienten in den Beatmungs-WGs wird und ob sie dort richtig versorgt sind. Ob die Heimaufsicht zuständig ist, unterscheidet sich je nach Bundesland. Auch die Krankenkassen haben keinen vollständigen Überblick: „Eine regelhafte Überprüfung von Beatmungs-WGs ist noch nicht möglich“, teilt der Medizinische Dienst des Spitzenverbands der Krankenkassen (MDS) CORRECTIV und Frontal21 mit. Kontrolliert werden könne der Pflegedienst selbst, auch Stichproben in den WGs sind möglich. Die WGs an sich aber seien kein Prüfgegenstand.

Zwar, so sagt Jürgen Brüggemann, Leiter des Teams Pflege beim MDS, müssten die Pflegedienste der Krankenkasse melden, wenn sie mindestens zwei Personen in einer WG versorgen. Das Problem sei, dass sich die meisten Anbieter offenbar nicht daran halten: „Diese Anzeigepflicht wird nach meinen Kenntnissen jedoch in aller Regel nicht umgesetzt.“

Es gibt durchaus auch seriöse Anbieter, und für Patienten, die noch geistig wach und selbstständig sind, kann eine Wohngemeinschaft auch das Richtige sein. @ Anwar

Der explosionsartige Anstieg der Zahlen hat viele Gründe: Die alternde Gesellschaft gehört dazu, und die Fortschritte in der Intensivmedizin. All das reicht aber nicht aus, um den Boom der Beatmungs-WGs zu erklären, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach – und fordert eine Überprüfung: „Medizinisch macht es keinen Sinn, dass es so stark zugenommen hat. Es ist auf jeden Fall dringend nötig, dass das untersucht wird.“ 

Die Recherche von CORRECTIV und Frontal21 zeige, so Lauterbach, wie notwendig das neue Intensivpflegegesetz sei. Zugleich bewege sich die Regierung auf einem schmalen Grat: Einerseits müsse sichergestellt sein, dass einwandfreie Beatmungs-WGs weiter existieren können. Noch strengere oder unangemeldete Kontrollen befürwortet er daher nicht.

„Der Bereich ist unterreguliert. Wir haben da jetzt nachgefasst, aber das Problem ist tatsächlich nach wie vor nicht ganz gelöst. Es ist traurigerweise so, dass es nach wie vor Anhaltspunkte gibt zu glauben, dass die Situation nach wie vor ausgenutzt wird.“

Wie sich die Coronakrise auf die Situation auswirken wird, ist nicht klar. Was mit den Menschen passiert, die nach einer Beatmung dann nicht mehr entwöhnt werden können, weiß niemand. Die Bundesregierung hat kein Konzept dafür, wie diese Patienten künftig versorgt werden sollen.

Gut möglich also, dass einige von ihnen in den Beatmungs-WGs landen: „Es gibt natürlich eine Gruppe von Langzeit-Beatmeten, die können natürlich in eine solche Situation abgleiten“, sagt Lauterbach. „Die Zahl der Patienten steigt ja seit Jahren auf der Grundlage unserer besseren intensivmedizinischen Möglichkeiten. Im Prinzip sind diese Fälle ja eine Kehrseite unserer Erfolge in der Intensivmedizin.“

Eine zentrale Rolle bei dem Boom spielen auch die Renditen. Denn wo es Geld und Gewinne gibt, da gibt es auch Angebote. Aber es sind nicht nur Pflegedienste, die daran Schuld sind. Es ist ein ganzes System, das seit den 90er Jahren auf Rendite getrimmt wurde.

Dazu gehören auch die Vergütungspauschalen der Krankenhäuser. Dort beginnt die Verwertungskette. Jens Geiseler, Chefarzt der Pneumologie an der Paracelsus-Klinik Marl und Leiter des angeschlossenen Weaning-Zentrums, zählt zu den führenden Experten für Langzeitbeatmung, er sagt: „Die Krankenhauserlöse sind gekoppelt an die Zahl der Beatmungsstunden. Je länger beatmet wird, desto höher die Erlöse.“ 

Großer Bettendruck, fehlende Kapazitäten für Entwöhnung

In spezialisierten Entwöhnungszentren, genannt Weaningzentren, könnten 60 Prozent aller Beatmungspatienten wieder von den Geräten entwöhnt werden: „Man erspart ihnen so das Schicksal einer Beatmungs-WG.“

Aber dort kommen sie meist nicht an: Aus Umfragen einiger Kassen wisse man, sagt Geiseler, dass rund 85 Prozent der invasiv beatmeten Patienten von den Intensivstationen in Einrichtungen entlassen werden, die nicht auf Entwöhnung spezialisiert sind. „Weil der Bettendruck zu groß ist und die Weaning-Zentren auch nicht jeden Patienten übernehmen können, da fehlen die Kapazitäten.“

Patrick Slickers ist die Bilder aus den letzten Monaten im Leben seiner Mutter nicht mehr losgeworden. Er steht noch an ihrem Grab, geht seine Erinnerungen im Kopf durch. „Das darf keinem alten, kranken Menschen passieren, der wehrlos ist“, sagt er.

Mitte Mai 2018 war sie in die Wuppertaler Beatmungs-WG eingezogen. Danach, sagt er, hatte er den Eindruck, dass sich ihr Zustand drastisch verschlechtert.  „Es war sehr schwierig, mit ihr über die Beatmung zu sprechen“, sagt er. „Sie sagte mir, dass es teilweise weh tut, dadurch, dass der Zugang an ihrem Hals wund war und stark verkrustet zwischendurch. Das Absaugen bereitete ihr Schmerzen. Sie hatte starke Erstickungsängste und Panikattacken.“ 

Der Intensivpflegedienst teilt mit, die Vorwürfe seien „in keiner Weise berechtigt“. Ein Interview will niemand geben, auch in der WG bekommen wir keinen Zugang.

Aber der Sprecher bietet an, die Pflegedokumentation von Agnes Cadman einzusehen. Das Büro liegt im zweiten Stock eines weiß geklinkerten Gewerbegebäudes einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt. Der Sprecher hat in einem Büro die Akte bereitgelegt. Die ganze Zeit über sitzt er schweigend dabei; abfotografiert werden darf nichts. Bei den Unterlagen handelt es sich um tägliche Berichte und Listen, in denen die Tageszeiten der täglichen Pflegeleistungen eingetragen sind, Grundpflege, Absaugen, Medikamentengabe.

„Sie sagte, dass es teilweise weh tut, dadurch, dass der Zugang an ihrem Hals wund war und stark verkrustet. Das Absaugen bereitete ihr Schmerzen.” © Anwar

Patrick Slickers sagt, nach kurzer Zeit habe sich seine Mutter verändert gewirkt: Schon im Krankenhaus hatte sie starke Psychopharmaka erhalten, weil sie es sonst vor Angst nicht aushielt. Seit sie in der WG lebte, sei sie ihm apathisch vorgekommen, sagt Slickers. Einmal habe er sie wie weggetreten und nackt auf ihrem Bett vorgefunden, von Kot beschmiert. Fotos, die CORRECTIV vorliegen, bestätigen Kotflecken an ihren Händen. 

Der Sprecher verweist auf die Staatsanwaltschaft, die keine Nachweise für strafbares Verhalten fand. Patrick Slickers hatte Anzeige gegen den Pflegedienst wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Körperverletzung erstattet. Das führte zu nichts: Wie die Staatsanwaltschaft Wuppertal in einem Bescheid festhält, der CORRECTIV und Frontal21 vorliegt, stellte diese trotz der Fotos keine „hinreichenden Erkenntnisse eines strafbaren Verhaltens im Rahmen der medizinischen und pflegerischen Versorgung“ fest. 

Die Pflegeunterlagen sind weitgehend unauffällig. Allerdings ist festgehalten, dass Agnes Cadman bei ihrem Einzug wach und präsent gewirkt habe. Später notieren die Pflegekräfte oft, dass sie viel schläft. Der Grund ist dem nicht zu entnehmen. Auch soll sie häufig geklingelt haben, sehr häufig, „ohne Grund“ oder weil sie Angst vor dem Ersticken hatte. Das störte offenbar. Man habe ihr mehrfach mitgeteilt, dass die Klingel nur für Notfälle da sei. Der Sprecher teilt mit, die Patientin sei „häufig geistig verwirrt“ gewesen und habe sich „mit Kot beschmiert“. Dies sei „im Pflegealltag nicht ungewöhnlich.“ Sie sei aber regelmäßig gesäubert worden.

Hinter Pflegedienst stecken Holdings im Steuerparadies Luxemburg

Hinter dem Pflegedienst steckt eine komplexe, verschachtelte Gesellschaftsstruktur, eine Beteiligungsfirma in Süddeutschland, mehrere Holdings im Steuerparadies Luxemburg. Rund 20 Intensivpflegedienste gehören zu der Gruppe. Die Muttergesellschaft ist eine amerikanische Private-Equity, die weltweit in unterschiedlichen Geschäftsfeldern investiert.

Gerade in Niedrigzinszeiten gibt es viel Geld, das Anlagemöglichkeiten sucht. Im Internet locken Immobilien- und Finanzberater für Investments in Beatmungs-WGs. Die Immobilienfirma Estador zum Beispiel wirbt mit „Top Renditen“ und einem „zukunftssicheren Geschäftsmodell“ für Investments in Beatmungs-WGs.  „Auf dem sehr dynamischen Pflegemarkt verzeichnet das Teilsegment der außerklinischen Intensivpflege ein überproportionales Wachstum“, heißt es auf der Website der Firma.

Agnes Cadman blieb nur zehn Tage in der WG. Zum letzten Mal besuchte ihr Sohn sie dort am Abend des 24. Mai 2018. Da habe sie gezittert. Die Sauerstoffsättigung sei so stark abgefallen, dass ihre Lippen blau angelaufen gewesen seien. Dies ist schon einmal an diesem Tag passiert, steht in ihrer Akte. Slickers sagt, er habe in der WG darauf drängen müssen, dass ein Notarzt gerufen wird. Auch dies bestätigen die Unterlagen.

Der Sprecher der Firma sagt dazu, das Pflegepersonal habe „die erforderlichen Notfallmaßnahmen eingeleitet.“ Diese hätten zu einer Stabilisierung der Patientin geführt. Als der Notarztwagen eintrifft, ist die Agnes Cadman bewusstlos, das geht aus dem Bericht des Rettungsdienstes hervor. Die Rettungskräfte fahren die Patientin ins Helios-Klinikum Wuppertal.

Danach brachte Slickers seine Mutter nie wieder in die Beatmungs-WG zurück. Der Pflegedienst war aber offenbar nicht bereit, den Verlust der Patientin einfach so hinzunehmen. In Whatsapp-Nachrichten und Voicemails versuchten die Mitarbeiter vehement, ihren Sohn umzustimmen. Slickers fühlte sich drangsaliert. 

„Mit einem wirtschaftlichen Faktor verbunden“

Mehrere der Nachrichten liegen CORRECTIV und Frontal21 vor. Ein Mitarbeiter aus der Pflegedienstleitung argumentiert mit Nachdruck dafür, dass Agnes Cadman in der WG bleiben solle: Er sagt, dass ein anderer Pflegedienst, vielleicht keine gute Versorgung gewährleisten könne; bei dem Gedanken habe er „Magenschmerzen.“

An zwei Stellen führt er ausdrücklich ökonomische Aspekte an: „Wir sind ja eingesprungen, um Ihnen zu helfen, oder vielmehr ihrer Mutter zu helfen, dass sie adäquat versorgt wird“, sagt er. „Natürlich ist diese Hilfe für uns auch mit einem wirtschaftlichen Faktor verbunden.“ Für die Firma sei eine sofortige Entlassung „katastrophal“. Aber Slickers habe das Recht, frei zu entscheiden.

Dazu teilt der Sprecher mit, die Pflegekräfte hätten „in der Tat“ Bedenken gehabt, die Patientin nach so kurzer Zeit zu verlegen, um sie nicht der Belastung eines Umzugs auszusetzen. Die Nachrichten seien „Ausdruck der Sorge und Fürsorge“ gewesen. „Dass andere Motive, etwa wirtschaftliche, eine Rolle spielten, weisen wir zurück.“

Auch bei Daniel Kretz wurde das Misstrauen mit der Zeit stärker. Im Spätsommer 2020, knapp ein Jahr nach dem Einzug seines Vaters in der WG, beschloss er, eine Zweitmeinung einzuholen. So kam er in Kontakt mit dem Palliativmediziner Matthias Thöns. Der benötigte die Behandlungsdokumentation. Kretz sagt, er habe in der Praxis des Hausarztes mehrfach darum gebeten. Immer, wenn er dort anrief, sei er sich abgewimmelt vorgekommen. 

Gesprächsprotokolle und mehrere Mails seiner Anwältin an den Arzt liegen CORRECTIV und Frontal21 vor. Erst, als die Juristin vor Gericht eine einstweilige Verfügung beantragte, um die Herausgabe zu erzwingen, schickte der Arzt die Akte. Viel steht nicht drin. Im Grunde ist es nur eine Liste, die vor allem Verordnungen für Medikamente aufführt. Berichte gibt es nicht. Nichts weist darauf hin, dass der Arzt Hubert Kretz je untersucht hat. Eine einzige Befunddokumentation ist enthalten, fünf Worte, datiert auf den 11. Februar 2021: „Pat. ist unauffällig und stabil.“

Pflegekräfte sollen Druck auf Angehörige ausgeübt haben

Warum legte der Arzt nur diese dünnen Angaben vor? Aus welchem Grund wurden Behandlungen nicht genauer dokumentiert? Auf die Fragen von CORRECTIV und Frontal21 schreibt der Arzt nur: „Die Behandlung von Herrn Kretz wurde dokumentiert.“

Auch in der Beatmungs-WG in Köln schlug der Ton offenbar um, als sich abzeichnete, dass Daniel Kretz seinen Vater verlegen will.

„Es war eine unangenehme Situation, weil man merkte, wie die verärgert über einen waren und einen in aggressivem Ton anfuhren“, sagt er am Tisch in seinem Wohnzimmer. Für ihn hörte es sich so an, als hätten die Mitarbeiter seine Entscheidung in Zweifel gezogen und ihm sogar Vorwürfe gemacht: „Sie sagten, es müsste meinem Vater schon deutlich besser gehen – dass es nicht so sei, sei meine Schuld, weil ich ihn nicht oft genug besucht habe“, sagt er. „Es war nicht schön, was da gesagt wurde.“ Auch hierzu äußert sich der Intensivpflegedienst nicht.

Kretz blättert noch einmal in den Unterlagen, Berichten, Gutachten, Verträgen. Darunter ist ein Formular der Unfallversicherung, das der behandelnde Arzt ausfüllen sollte; die Antworten sind unvollständig und offenbar lustlos notiert. Auf die Frage, wann die Heilbehandlung abgeschlossen sein werde, schreibt der Arzt nur ein Wort: „Nie“. Die Behandlung hätte nie aufgehört, das Geld wäre weiter geflossen. Ohne Ende und ohne Ziel. 

Patientenverfügung
Ein langes Siechtum, angeschlossen an Geräte und Schläuche – wer so ein Szenario für sich ausschließen möchte, sollte seinen Willen in einer Patientenverfügung dokumentieren. Sie wird wirksam, wenn die Patientin oder der Patient nicht mehr in der Lage ist, über sich selbst zu entscheiden. Ärztinnen müssen sich daran halten, wichtig ist aber, dass die Patientenverfügung präzise und eindeutig formuliert ist. Denn das Dokument ist nur dann bindend, wenn der Patient exakt definiert hat, in welchem Zustand er welche Behandlungen nicht wünscht, etwa maschinelle Beatmung, Wiederbelebung oder künstliche Ernährung über Magensonde. Da es sich um ein komplexes Thema handelt, empfiehlt sich eine Beratung, Anlaufstellen sind Verbraucherzentralen, Wohlfahrtsverbände oder der Hausarzt
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