Faktencheck

Der Behauptung, 99 Prozent der Afghanen wollten die Scharia, fehlt Kontext

Die Facebook-Seite „AfD im EU-Parlament“ behauptet, 99 Prozent der Afghanen würden „die Scharia“ zum Gesetz machen wollen. Hier fehlt Kontext: Die Scharia beschreibt das Ideal einer religiösen Rechtsform, das Normen und Regeln für verschiedene Lebensbereiche umfasst und unterschiedlich ausgelegt werden kann.

von Nikolas Kill

Die Scharia umfasst Normen und Regeln, die viele verschiedene Lebensbereiche betreffen – von Heirat und Scheidung über Erbschaft und Verträge bis hin zu strafrechtlichen Sanktionen (Symbolbild aus Aceh in Indonesien: Sangga Rima Roman Selia / Unsplash)
Die Scharia umfasst Normen und Regeln, die viele verschiedene Lebensbereiche betreffen – von Heirat und Scheidung über Erbschaft und Verträge bis hin zu strafrechtlichen Sanktionen (Symbolbild aus Aceh in Indonesien: Sangga Rima Roman Selia / Unsplash)
Behauptung
Eine Studie zeige, dass 99 Prozent der Menschen in Afghanistan „die Scharia“ zum Gesetz machen wollten, und eine andere, dass zwei Drittel der Muslime in Westeuropa religiöse Gesetze für wichtiger halten würde als „die Gesetze des Landes, in dem sie leben.“ Das verdeutliche die Gefahr, die mit der Migration von Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland verbunden sei.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Die zitierten Ergebnisse der Meinungsumfragen beruhen Experten zufolge auf zum Teil unpräzisen Fragestellungen. Die Behauptung, es bestehe Gefahr, wenn Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland kommen, berücksichtigt nicht, dass der Begriff Scharia verschiedene Auslegungen kennt und durchaus mit deutschen Gesetzen vereinbar sein kann.

Knapp zwei Wochen nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan veröffentlichte die Seite „AfD im EU-Parlament“ einen Beitrag auf Facebook. Darin heißt es auf einem Bild: „99 Prozent der Afghanen wollen die Scharia“. Dazu wird behauptet, zwei Drittel der Muslime in Westeuropa würden religiöse Gesetze für wichtiger halten als die Gesetze des Landes, in dem sie lebten. 

Diese Behauptungen beziehen sich auf Ergebnisse zweier Meinungsumfragen. In beiden Fällen wurden Musliminnen und Muslime zur Scharia befragt – unter anderem Afghaninnen und Afghanen. Die Umfragen wurden beide 2013 veröffentlicht, etwa acht Jahre bevor der Nato-Einsatz in Afghanistan beendet wurde. Der Facebook-Beitrag, in dem die Studienergebnisse nun wieder aufgegriffen werden, wurde bisher mehr als 7.400 Mal geteilt – und er wird noch immer verbreitet (Stand: 22. Oktober 2021).

Dieser Facebook-Beitrag greift eine Studie auf, wonach 99 Prozent der Afghanen „die Scharia“ wollten - hier fehlt jedoch Kontext (Quelle: Facebook/ Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Dieser Facebook-Beitrag greift eine Studie auf, wonach 99 Prozent der Afghanen „die Scharia“ wollten – hier fehlt jedoch Kontext (Quelle: Facebook/ Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Wir haben mehrere Experten gefragt, wie sie die Ergebnisse der zitierten Umfragen  einordnen. Bei den „Studien“ handelt es sich einmal um eine Meinungsumfrage des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center und andererseits um eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

Wir haben die Umfragen mehreren Experten vorgelegt und um eine Einordnung gebeten. Sie sehen die Meinungsumfragen kritisch und betonten, dass es „die Scharia“ nicht gebe.

„Die Scharia“ gibt es nicht – der Begriff kennt verschiedene Auslegungen

Was ist „die Scharia“? Diese Frage beantwortete der Islamwissenschaftler Jochen Müller – und Co-Geschäftsführer des Berliner Vereins ufuq.de – am 18. August 2021 im Blog des Vereins: „‘Die Scharia’ gibt es überhaupt nicht […]. Es gibt kein Buch, auf dem ‘Scharia’ steht, das man lesen könnte und in dem einzelne Paragrafen eines ‘islamischen Gesetzes’ aufgelistet wären.“

Auch die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) schreibt, die Scharia sei kein Gesetzeswerk wie beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch. Scharia sei ein Oberbegriff für die Gesamtheit der Handlungsweisen, die dem Menschen im muslimischen Glauben auferlegt seien. Laut BPB kennt das islamische Recht (gemeint ist die Scharia) keine vereinheitlichte Form.

Wir haben außerdem bei Johanna Pink, Professorin für Islamwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, nachgefragt. Sie erklärt, der Begriff Scharia stehe für „das Ideal einer von Gott für den Menschen vorgesehenen Rechtsordnung“, das aus verschiedenen Textquellen abgeleitet werde. 

Laut der Islamforscherin verweist der Begriff Scharia auf Normen und Regeln, die verschiedene Lebensbereiche betreffen: „Für die meisten Muslim*innen umfasst Scharia primär das religiöse Ritualrecht, also etwa Gebet, Fasten im Ramadan, Almosensteuer, Wallfahrt, Speisevorschriften und rituelle Beschneidung, oft auch Kleidervorschriften wie z.B. das Kopftuch. Darüber hinaus stellen sich viele Muslim*innen unter der Geltung der Scharia eher die Einhaltung religiös begründeter ethischer Prinzipien vor – das kann Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, den Schutz von Familie und Ehe und vieles mehr umfassen. Andere verstehen darunter die Anwendung konkreter Regelungen zum Beispiel im Familien- und Erbrecht.“

„Da gläubige Muslim*innen davon ausgehen, dass Gott von den Menschen die Einhaltung bestimmter religiöser Vorgaben erwartet, ist nicht zu erwarten, dass sie das Konzept der Scharia grundsätzlich ablehnen. Ihre Vorstellungen davon, was die Befolgung der Scharia bedeutet, können aber sehr unterschiedlich sein“, schrieb uns Johanna Pink per E-Mail. 

Islamforscher: Meinungsumfragen beruhen auf umstrittenen Grundannahmen

Die Quelle für die Behauptung, dass 99 Prozent der Afghanen „die Scharia“ zum Gesetz machen wolle, ist eine Umfrage aus dem Jahr 2013 des Pew Research Center, ein Meinungsforschungsinstitut mit Sitz in den USA. Die Umfrage beruht auf 38.000 Interviews mit Musliminnen und Muslimen aus 39 Ländern, darunter Afghanistan. Die Teilnehmenden wurden unter anderem gefragt, ob sie befürworten, dass „die Scharia“ zum offiziellen Gesetz ihres Landes gemacht werde. 

Die Meinungsumfrage des Pew Research Center kommt zu dem Schluss, dass 99 Prozent der muslimischen Bevölkerung in Afghanistan das befürworte. In dem Facebook-Beitrag der Seite „AfD im EU-Parlament“ wird suggeriert, dass die Migration von Afghanninen und Afghanen nach Deutschland daher eine „Gefahr“ darstelle.

Dafür muss man wissen: Afghanistan gilt seit 2004 als „Islamische Republik“. Religiöse Werte beeinflussen zwar die Gesetzgebung im Land. Schon der Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung für Afghanistan, Werner M. Prohl, schrieb jedoch 2003 in seinem Kurzbericht zum damaligen Verfassungsentwurf: „Dass Afghanistan eine islamische Republik wird, sollte nicht von vornherein als eine Manifestierung fundamentalistischer islamischer Ideologie gewertet werden.“

Mathias Rohe ist Rechts- und Islamwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander Universität. Er schrieb uns in einer E-Mail, er halte es aufgrund der unterschiedlichen Interpretationen des Scharia-Begriffs wissenschaftlich nur für seriös, „konkrete Fragen nach einzelnen Aspekten der Scharia zu stellen“. In der Umfrage des Pew Research Center wurden die Menschen aber pauschal gefragt, ob sie dafür oder dagegen seien, „die Scharia“ zum offiziellen Gesetz des Landes zu machen. 

Rohe sagt, er halte die Fragestellung in solchen Meinungsumfragen oft für verfehlt: „Sie beruht auf der unzutreffenden Grundannahme, dass ‘die Scharia’ insgesamt und zwingend im Gegensatz zu modernen menschenrechtlichen Konzepten steht.“

Experten stellen Aussagekraft der WZB-Studie infrage

Die zweite Studie, die in dem Facebook-Beitrag zitiert wird, ist eine Befragung, durchgeführt von dem laut Medienberichten umstrittenen Migrationsforscher Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Für die Studie wurden 2008 „Einwanderer und Einheimische“ aus sechs europäischen Ländern zu ihren religiösen Überzeugungen befragt. Die Forschenden kommen unter anderem zu dem Schluss, dass zwei Drittel der Muslime in Westeuropa religiöse Gesetze für wichtiger halten würde als „die Gesetze des Landes, in dem sie leben“. 

Auf unsere Anfrage erklärte Rami Ali, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, einige der Fragestellungen seien für eine solche Umfrage ungeeignet, da sie von den Befragten unterschiedlich interpretiert werden könnten. 

Ein Beispiel: In der Umfrage des WZB wurden Personen muslimischen Glaubens gefragt, ob sie folgender Aussage zustimmen (PDF, Seite 22): „Die Regeln des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze Deutschlands (beziehungsweise des europäischen Lands in dem die Befragten wohnen).“ Rami Ali bemängelt, dass die Einordnung dieser Aussage nichts darüber aussagt, „was genau man unter religiösen Regeln verstehe oder in welche Hinsicht dieses dem säkularen Recht widerspreche“.

In einem Deutschlandfunk-Beitrag von 2015 äußert der 2020 verstorbene Islamwissenschaftler Elkaham Sukhni ähnliche Vorbehalte gegenüber der WZB-Studie: Wenn ein Befragter angibt, dass für ihn die Religion wichtiger als das Gesetz sei, heiße das noch lange nicht, dass er das Grundgesetz ablehnt oder dass er bereit sei, Straftaten zu begehen.

Rami Ali weist darauf hin, dass es durchaus aktuelle Erhebungen gebe, die die Einstellung von Musliminnen und Muslimen gegenüber des demokratischen Rechtsstaats beleuchten. Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom August 2021 kam beispielsweise zu dem Schluss, dass etwa 81 Prozent der muslimischen Bürger in Deutschland die Demokratie für die beste Staatsform halten – im Vergleich zu 70 Prozent der Gesamtbevölkerung. 

Auch Repräsentativität der Umfrage ist umstritten

Laut Angabe der Autoren der WZB-Studie handelt es sich um eine repräsentative Befragung von in Europa lebenden Christen und Muslimen – die Antworten der Befragten ließen also Rückschlüsse auf die erforschte Bevölkerungsgruppe insgesamt zu. Rami Ali schrieb uns jedoch, dies sei mitnichten der Fall. Es seien nur Muslime türkischer und marokkanischer Herkunft befragt worden. Weiter heißt es in Alis Stellungnahme: „Wir haben es in Wirklichkeit also mit einer spezifischen Gruppe von Einwanderern zu tun und keinesfalls einem methodisch sauberem Querschnitt, der Pauschalaussagen erlauben könnte.“ 

Fazit: Im Facebook-Beitrag wird suggeriert, dass Personen muslimischen Glaubens religiöse Gesetze über die Gesetze des Landes stellen würden und konstruiert daraus eine „Gefahr“ – die genannten Umfragen sind dafür aber kein Beleg. Die Scharia ist nämlich kein festgelegtes Gesetzbuch. Und in den Umfragen wurden Musliminnen und Muslime zwar nach der Scharia gefragt, aber nicht danach, was genau sie unter dem Begriff verstehen oder in welchem Verhältnis die Scharia zu staatlichen Gesetzen steht. Insofern fehlt der Behauptung wichtiger Kontext. Die Scharia kann durchaus mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sein.

Redigatur: Sarah Thust, Till Eckert

Update, 4. November 2021: Wir haben einige Textstellen sprachlich angepasst, damit deutlicher wird, dass sich die Kritik an beiden Studien auf bestimmte Fragestellungen bezog. 

Update, 5. November 2021: In einer vorherigen Version des Textes war „Bundesgesetzbuch“ statt „Bürgerliches Gesetzbuch“ zu lesen. Wir haben den Fehler korrigiert.

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