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Barrierefrei heisst oft nur rollstuhlgeeignet

Daten einer Schweizer NGO und eine CORRECTIV-Umfrage in Luzerner Gemeinden zeigen, dass die reiche Schweiz in puncto Barrierefreiheit noch viel aufzuholen hat. Das trifft bei weitem nicht nur Personen im Rollstuhl.

von Hanna Fröhlich

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Foto: Marianne Bos / unsplash.com

In der Schweiz stehen Menschen mit Beeinträchtigungen täglich vor erheblichen Barrieren. Das gilt selbst bei so grundlegenden Dienstleistungen wie dem Besuch von Ämtern. Das zeigt ein umfassender Datensatz, den die Fachorganisation Proinfirmis mit CORRECTIV in der Schweiz geteilt hat. Darin dokumentieren Betroffene alarmierende Defizite in der Zugänglichkeit öffentlicher Einrichtungen.

Von insgesamt 11’620 erfassten Orten, darunter Verwaltungsgebäude und öffentliche und private Einrichtungen, sind beispielsweise nur 2’808 gemäss den Hauptanforderungen der Norm SIA-500 rollstuhlgängig. Dies wirft ein kritisches Licht auf die Barrierefreiheit in einem Land, das sich damit rühmt, hohe Lebensstandards für alle zu bieten.

Gemäss den nicht-repräsentativen Daten, die seit 2016 im Rahmen lokaler Projekte gesammelt werden, sind nur 20 von 75 im Datensatz erfassten Postgebäuden zumindest teilweise barrierefrei. Andere sind nur eingeschränkt rollstuhlgängig. „Eingeschränkt rollstuhlgängig kann zum Beispiel bedeuten, dass zum Beispiel eine Rampe für einen normalen Hand-Rollstuhl zu steil ist, aber von einer Person im Elektro-Rollstuhl genutzt werden kann“, erläutert Marc Butticaz von Proinfirmis.

Von 75 Poststellen ein Angebot für Sehbeeinträchtigung

Was beim Betrachten der Daten auffällt: Barrierefrei, das bedeutet oft nur rollstuhlgeeignet. Andere Beeinträchtigungen werden kaum oder gar nicht berücksichtigt. So gibt es zwar in der Schweiz deutlich mehr Menschen mit Sehbehinderung als Menschen im Rollstuhl, nämlich 500’000 im Vergleich zu um die 45’000 Rollstuhlfahrenden – hochgerechnet von Experten der Stelle Hindernisfrei Bauen Luzern.

In den 75 erfassten Poststellen ist aber nur eine Induktionsschleife vorhanden. Bei der Induktionsschleife handelt es sich um eine technische Einrichtung, mit der Audiosignale, vornehmlich Redebeiträge und gelegentlich auch Musik in Veranstaltungsräumen für Personen mit Hörbeeinträchtigung zugänglich gemacht werden können.

Bei einer der 75 Poststellen wird angegeben, dass es ein Angebot für Menschen mit Sehbeeinträchtigung gibt. Das heisst: Glaswände und -türen sind kontrastreich markiert, es gibt keine Hindernisse mit einer Höhe von 2,10 m oder mehr, die in den Bewegungsraum ragen, die Beschilderung ist klar.

Von den 11’620 von Proinfirmis erfassten Orten verfügen genau 376 über Anlagen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Bei 125 der Orte gibt es ein Angebot in Gebärdensprache. 209 Orte verfügen über eine Induktionsschleife für Menschen mit Hörbeeinträchtigung. Andere Einschränkungen etwa für neurodivergente Menschen werden nicht erfasst.

Die vorliegenden Daten zeigen, wie stark die Bedürfnisse von hunderttausenden Menschen mit Beeinträchtigung in der Schweiz in der Planung und Gestaltung öffentlicher Räume bisher vernachlässigt wurden. „Wir sind weit entfernt von einer vollständigen Zugänglichkeit“, weiss auch Marc Butticaz.

Wem gehört die Stadt und für wen ist sie gebaut?
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Wo gibt es Barrieren? Daten darüber gibt es zu wenige. CORRECTIV Schweiz startet deshalb gemeinsam mit der Hochschule Luzern das Projekt „Achtung Barriere!”. Von der Bevölkerung wollen wir wissen: Wo wird euch das Leben erschwert? Unser Ziel: Barrieren erfassen und sichtbar machen, Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigen und damit die Politik zum Handeln bewegen.

Dafür machen wir eine Umfrage mit unserem Recherchetool, dem CrowdNewsroom. Denn mit den Infos von euren Erfahrungen finden wir mehr heraus als alleine. Macht mit und teilt mit uns, wo in der Schweiz ihr Barrieren vorfindet! 

„Die UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) sichert Menschen mit Behinderung den gleichberechtigten Zugang zur gebauten Umwelt, wie auch eine umfassende Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben zu”, moniert Beat Husmann von der Fachstelle Hindernisfrei Bauen Luzern. Die Verantwortung aus der UNO-BRK sei ernst zu nehmen. Er habe wenig Verständnis für die schleppende Umsetzung.

Die bestehenden Barrieren schränken zudem nicht nur die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen ein. Sie können jeden betreffen, etwa auch ältere Menschen, Eltern mit Kinderwagen oder Jugendliche auf Rollern.

Alte Behörden mit Barrieren in Luzern

Der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen ist ein Bürgerrecht. Es sollte nicht eingeschränkt sein. Von 80 Gemeinden im Kanton Luzern wollten wir deshalb wissen, wie barrierefrei ihre Behörden sind. 51 von ihnen reagierten auf die Anfrage. 21 von ihnen beziehen sich explizit auf die Zugänglichkeit mit dem Rollstuhl: 15 erwähnen einen Lift, fünf eine barrierefreie Toilette, mit der sie die Zugänglichkeit der Behörde begründen, beim Rest heisst es einfach „rollstuhlgängig”.

Nur eine Gemeinde nannte als Verbesserungspotenzial die „Einführung taktiler Führungen”, also ein Angebot für Menschen mit Sehbehinderung. Sieben der Gemeinden verfügen bis anhin über keinerlei barrierefreies Angebot. Die Antworten zeigen, wie eingeschränkt das Verständnis von Barrieren ist. Die enge Sichtweise lässt diverse andere Barrieren unberücksichtigt, denen viele Menschen im Alltag begegnen. 

Massgeblich für die befragten Gemeinden ist das Planungs- und Baugesetz des Kanton Luzern. Der Verein Hindernisfrei Bauen Luzern hat täglich mit Bauprojekten zu tun. Er prüft diese und berät alle am Bau Beteiligten bei zukünftigen Projekten. In Luzern habe sich in letzter Zeit mit dem hindernisfreien Bauen viel getan, sagt die Geschäftsführerin Barbara Heis. Trotzdem gebe es immer noch viel Luft nach oben. Aufgrund der Gesetzeslage entsteht die Verpflichtung zum hindernisfreien Bauen erst im Rahmen eines bewilligungspflichtigen Bauprojektes”.

Das sei der Grund dafür, dass viele Behörden noch nicht umgebaut wurden. Wir setzen uns mit allen Möglichkeiten für eine umfassende hindernisfrei gebaute Umwelt ein. Klar sei aber, da ist Heis sich sicher, ihre Fachstelle werde es noch lange brauchen.

 

Text & Recherche: Hanna Fröhlich
Redaktion: Marc Engelhardt
Faktencheck: Sven Niederhäuser und Sofie Czilwik
Bildredaktion: Ivo Mayr
Kommunikation: Valentin Zick