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Ein Supermarkt für alle oder nur für mich und dich?

Einkaufen ist lebensnotwendig. Es alleine tun zu können, auch. Für einen Teil der Bevölkerung ist das jedoch nicht selbstverständlich. Modernisierungsmassnahmen der Supermärkte legen zusätzlich Steine in den Weg.

von Hanna Fröhlich

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Collage: CORRECTIV (Fotos: Hanna Froehlich, unsplash.com)

Es gibt fast keine Hürde, die Laura Kirschner nicht überwindet. Die 25-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt zögert nicht, ihre Meinung zu sagen. Sie weiss, was sie will. Davon lässt sie sich auch durch ihr fehlendes Augenlicht nicht abhalten. Kirschner hat studiert, spricht mehrere Sprachen und lebt alleine. 

Nur selbstständig ihren Lieblingsjoghurt einkaufen, das kann sie nicht. 

Vom Zentrum in Horw bei Luzern führen Kirschner zwar Leitlinien bis zum Gebäude der Migros. Doch vor der Türe des Supermarktes hören sie abrupt auf. Wo sich der Eingang befindet, erkennt Kirschner nur durch genaues Hinhören und den Luftströmen, die sie spürt, wenn die Türe sich öffnet und schliesst. Auch im Laden muss sie sich auf ihre Sinne verlassen. Dort gibt es ebenfalls keine Leitlinien. Sie hört Gemüsesäcke rascheln und andere Leute ihre Wagen schieben, Regale erspürt sie mit dem Stock, eine Drogerie erkennt sie am Geruch.  

Nur bringt sie das nicht wirklich weiter. Wo wird wohl das Regal mit dem Lieblingsjoghurt sein? Oder in welchem Korb liegt ihre liebste Apfelsorte? Um das herauszufinden, ist sie auf die Hilfe Dritter angewiesen. Oft sind das ihre Freundinnen, die Familie. Hat niemand aus ihrem Umfeld Zeit, braucht sie die Unterstützung der Mitarbeiter. Nur scheint es davon immer weniger zu geben. Denn statt auf menschlichen Kontakt setzten die Supermärkte vermehrt auf Marketing und Technologie. Für Laura Kirschner ein Problem. 

Fehlende Hilfe 

Sie könnte die Platzierungen auswendig lernen, so wie die Wege, die sie in ihrem Alltag häufig zurücklegt. Zumindest für die Migros in ihrem Heimatdorf. Allerdings rearrangiert die dortige Filiale, wie auch viele weitere Supermärkte, regelmässig ihre Produkte, um, wie es auf Anfrage heisst: „das Einkaufserlebnis zu verbessern“. Doch dieses Einkaufserlebnis ist offenkundig vor allem für diejenigen bestimmt, die keine Einschränkungen haben. Wer auf Ordnung angewiesen ist, wie Laura Kirschner, passt nicht ins Konzept.

Besagtes Einkaufserlebnis verändern grosse Supermärkte wie Coop und Migros seit einigen Jahren rigoros. An die Self-Checkouts, die das Bezahlen vereinfachen sollen, haben sich die meisten Menschen mittlerweile gewöhnt. Beides sind Massnahmen, die den Modernisierungsstrategien der Supermärkte zugeordnet werden können. Oder aber den Sparmassnahmen. 

Dieser Text ist Teil einer Serie im Rahmen des Projekts „Achtung Barriere! Wo wird dir das Leben erschwert?“ CORRECTIV.Schweiz recherchiert zusammen mit Medienpartnern und der Hochschule Luzern seit November 2024 zum Thema Barrieren in Schweizer Städten. Teil der Recherche ist der Einbezug der Bevölkerung mit Hilfe des CrowdNewsrooms, unseres Recherchetools. Auch diese Geschichte ist durch Hinweise aus der Bevölkerung entstanden. Das Projekt wird unterstützt von der Gebert Rüf Stiftung. 

Auf Nachfrage von CORRECTIV.Schweiz behaupten Coop, Migros, Aldi und Lidl, dass sich am Bestand ihrer Mitarbeitenden in den letzten Jahren nicht gross etwas verändert hat. „Die Einführung neuer Technologien wie Self-Checkout-Systeme und organisatorische Anpassungen können möglicherweise den Eindruck erwecken, dass weniger Personal verfügbar ist“, so die Medienstelle der Migros.

Mitarbeiterinnen sind überlastet

Laut der Gewerkschaft Unia geht es nicht nur um den Anschein, sondern um Tatsachen. Mediensprecherin Elisabeth Fannin schreibt, dass „die Personaldecke in den Supermärkten dünner geworden“ sei. Gleichzeitig habe die Arbeitslast der Mitarbeitenden zugenommen. So hätten sie immer mehr Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen: „Beispielsweise müssen Verkaufende Gestelle auffüllen, während sie die Self-Checkout-Kassen im Auge behalten müssen.“ Das kann sich negativ auf die Betreuung von Kundinnen auswirken, die sich alleine nicht zurechtfinden.

Die Personalplanung in den Filialen orientiert sich gemäss Detailhändler Aldi daran, die anfallenden Aufgaben gewissenhaft und wirtschaftlich erledigen zu können. „Zu diesen Aufgaben gehört selbstverständlich auch die Unterstützung unserer Kundschaft – in der Vergangenheit, wie auch heute.“

Auch die Medienstelle der Migros betont, dass die Kunden im Vordergrund stehen. Bis 2030 sollen 350 Migros-Filialen modernisiert werden, laut Eigenangaben mit dem Ziel, Qualität und Angebot zu optimieren. „Migros ist sich bewusst, dass solche Veränderungen für einige Kundinnen und Kunden, insbesondere für beeinträchtigte Personen, Herausforderungen darstellen können, und ist bestrebt, diese so kundenfreundlich wie möglich zu gestalten.“

Kontrollverlust durch Abhängigkeit

Laura Kirschner hat diesbezüglich andere Erfahrungen gemacht. Vor ein paar Wochen wagte sie sich auf eigene Faust zum Einkaufen, eine dringende Besorgung konnte nicht warten. Die Mitarbeiterin, die ihr dann geholfen hat, sei jedoch sehr ungeduldig gewesen. Vielleicht, weil sie keine geschriebene Einkaufsliste dabei hatte. Die hatte die Mitarbeiterin von ihr verlangt. Sie habe Kirschner zudem an einem Korb durch den Laden geführt. Normalerweise hält sie sich leicht am Arm der führenden Person fest. Ihre ganze Orientierung ist darauf ausgelegt. Die Führung am Korb hat für Verwirrung gesorgt, sie lief Gefahr, sich ständig an einem Regal zu stossen. 

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Dieser Kontrollverlust und der Stress, die Zeit der Mitarbeiterin nicht zu sehr zu beanspruchen, hat Kirschner aufgewühlt. So sehr, dass sie danach den Heimweg nicht mehr gefunden habe. „Eine Stunde lang bin ich durchs Dorf geirrt“, sagt sie. 

Alleine Einkaufen – das hat sich für sie erstmal erledigt. 

Was bleibt, wäre die Option, auf den Onlinehandel auszuweichen. Coop arbeitet unter anderem diesbezüglich mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband zusammen. So können Mitglieder des Verbandes sich ihre Einkäufe zwölf mal im Jahr gebührenfrei nach Hause bestellen. Die Probleme vor Ort bleiben jedoch bestehen. 

Self-Checkouts schrecken Seniorinnen ab

Auch für andere Menschen ist das Einkaufen zum Kampf geworden. Elfie G., 89 Jahre alt, die nur noch wenig sieht und schlecht hört, muss regelmässig lange nach Produkten suchen. „Die Produkte werden immer wieder umgeräumt, es fällt mir mittlerweile sehr schwer zu finden, was ich suche.“ Meistens beschränke sie sich auf ein paar wenige Produkte, die sie kaufen möchte. Eine Gurke, Milch und Brot zum Beispiel. „Die Gurke ist vorne beim Gemüse, die finde ich alleine.” Self-Checkouts würde sie niemals benutzen. „Das hängt sicher auch mit meinem Alter zusammen, aber auch damit, dass ich nicht gut sehe.“ Sie ist auf die bediente Kasse angewiesen. 

Im Gespräch mit CORRECTIV.Schweiz äussern auch andere Seniorinnen und Senioren Probleme. Für sie sei es extrem schwierig, Selbstbedienungskassen zu nutzen. Sie bevorzugen wie Elfie G. bediente Kassen. Der Discounter Aldi sagt: „Wer an einer herkömmlichen Kasse bedient werden möchte, hat bei uns jederzeit die Gelegenheit dazu.“ Viele Ältere empfinden das jedoch anders. 

Nicht nur blinde und alte Menschen treffen in Supermärkten auf Hürden. Auch der Nationalrat Islam Alijaj, der aufgrund seiner Zerebralparese im Rollstuhl sitzt, kennt es, nicht an die Lebensmittel seiner Wahl zu kommen: „Viele Produkte sind in der Höhe gelagert.” Zudem kann er seine Einkäufe nicht selbst transportieren. Rollstuhlgerechte Einkaufswagen gibt es nämlich nicht. 

Musik und Unübersichtlichkeit führt zu Stress

Für die Autistin Petra Groth wird der Gang zum Supermarkt meist zur Tortur. Was sie erlebt, lässt sich als Reizüberflutung beschreiben: Durchsagen nimmt sie überlaut wahr, Informationen prasseln von allen Seiten auf sie ein. Sie wünscht sich Schilder, die klarer darstellen, wo welche Produkte zu finden sind. Der Spar in Zürich hat als Pilotprojekt eine sogenannte stille Stunde eingeführt, während der im Laden Ruhe herrscht. Sie ist extra für Menschen mit Hochsensibilität entwickelt worden. Solche Angebote findet Petra Groth gut. Immerhin ein Stressfaktor weniger. 

Coop und Migros räumen beide ein, dass sich die Gestaltung ihrer Filialen unterscheiden kann. Gemäss Migros gibt es Unterschiede zwischen den Standorten, beispielsweise in Bezug auf die Hintergrundmusik: Einige Filialen verzichten vollständig auf Musik. Um die Geräuschkulisse in stark frequentierten Bereichen wie der Kassenzone zu optimieren, setze man Schallschutzelemente ein. Doch wo welche Zustände herrschen, lässt sich nur beim persönlichen Besuch herausfinden. Auf den Webseiten stehen diese Informationen nicht.

Dass es keine Einheitlichkeit gibt, liegt auch daran, dass sich die Regeln für Supermärkte hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit kantonal unterscheiden. Im Rahmen des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) wären öffentlich zugängliche Bauten zwar an Vorschriften gebunden ­– so auch Supermärkte. 

Doch kann trotz bestehender Gesetze wie dem BehiG das barrierefreie Bauen umgangen werden kann. In der Schweiz lässt sich dies auf die Klausel der Verhältnismässigkeit zurückführen. Sie besagt, dass Benachteiligungen nicht beseitigt werden müssen, wenn der Nutzen unter anderem in einem Missverhältnis zum wirtschaftlichem Aufwand steht.

Das ist Teil des Problems: So wissen Personen wie Laura Kirschner oder Petra Groth nie, was sie beim Einkauf zu befürchten haben. 

Text & Recherche: Hanna Fröhlich
Redaktion: Janina Bauer und Marc Engelhardt
Faktencheck: Sven Niederhäuser
Bilder: Ivo Mayr
Kommunikation: Charlotte Liedtke